02. Januar 1960Die „Hakenkreuz-Schmierwelle“ in Berlin – Ereignis, Presse und Protest

Die Ausstellung „Immer Wieder?“ thematisiert die Ereignisse Ende 1959/ Anfang 1960. | Foto: Kilian Behrens/ apabiz

Zwei Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und dem Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden erschütterte 1947 eine antisemitische Welle die vier Besatzungszonen in Deutschland. Damals waren es fast ausschließlich die wenigen Überlebenden der Verfolgung und ihre Organisationen, denen der Kampf gegen dieses Phänomen überlassen blieb. Erst Jahrzehnte später sollten Widerstand, Aufklärung und Engagement gegen Antisemitismus und Neonazismus breitere Ausprägung erfahren. Ein wichtiges Ereignis auf dem Weg dahin waren die Proteste in West-Berlin und anderen Städten, die sich im Januar 1960 gegen die „Hakenkreuz-Schmierwelle“ richteten. 

Viele Jugendliche und Studierende befassten sich danach intensiver mit der NS-Vergangenheit und ihren Folgeerscheinungen. Festgehalten werden muss aber auch, dass seinerzeit eine junge Generation von Neonazis in Erscheinung trat, deren Angehörige in den folgenden Jahrzehnten wichtige Positionen im extrem rechten Lager einnahmen. Doch wie verlief die Schmierwelle in der Viersektorenstadt Berlin? Wer protestierte dagegen? Wie reagierten die Angegriffenen? Was machte die Politik? Der folgende Beitrag soll diese Fragen – unter besonderer Berücksichtigung der (West-)Berliner Presse vom Januar 1960 – beantworteten.

Als Zeichen des neuen jüdischen Lebens in Deutschland wurde im September 1959 in Köln, im Beisein von Bundeskanzler Konrad Adenauer, die wiedererrichtete Synagoge eingeweiht. Drei Monate später, am Weihnachtsabend, beschmierten Rechtsextremisten das Gotteshaus mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen. Es war der Auftakt zu einer Welle hunderter antisemitischer Schmierereien in der ganzen Bundesrepublik und weltweiter Folgetaten. Die Hoffnung, dass Berlin von der Welle verschont bliebe, zerschlug sich bald: In der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 1960 versahen Unbekannte in Berlin-Schmargendorf eine Litfaßsäule mit NS-Symbolen und der Parole „Juden raus“. Eine Nacht später fanden sich dieselbe Forderung und ein Hakenkreuz an einer Wohnungstür in der Kantstraße 149 in Charlottenburg. Im selben Bezirk pinselte ein 23-jähriger in der Dahlmannstraße an mehrere Häuser die Losung „Juden raus“ sowie Davidsterne und Hakenkreuze. Der Mann wurde von der Polizei gefasst, doch die Welle hielt an. Wie die Tageszeitungen berichteten, wurden in fast allen Bezirken West-Berlins in den folgenden Tagen Mauern und Werbetafeln, Gebäude und Wohnungstüren beschmiert. Am Kolberger Platz fand sich in einem Postkasten eine Hakenkreuzbinde. In der Berchtesgadener Straße wurde eine Fahrstuhlkabine mit SS-Runen versehen. Auf einem Spielplatz an der Hasenheide entdeckten Kinder eine Hakenkreuzfahne. S-Bahn-Züge wurden mit Hakenkreuzen und NS-Losungen verunstaltet, diverse antisemitische Flugblätter tauchten auf. An einer Schöneberger Litfaßsäule war zu lesen: „Deutsche wehrt euch, schmeißt Adenauer und sein Judenpack raus“. Den Höhepunkt erreichte die Welle am 7. Januar. Danach gingen die Vorfälle zurück – und auch das Interesse der Medien. Als am 10./11. Januar in der Charlottenburger Kantstraße 140 ein Hausflur mit Parolen beschmiert wurde, fand sich dies nur noch in wenigen Zeitungen. Nach einer Zählung der Bundesregierung kam es in West-Berlin bis zum 28. Januar 1960 zu 123 antisemitischen Vorfällen; nach Nordrhein-Westfalen (167) war es der zweithöchste Wert in der Bundesrepublik.[1]

Tafel der Ausstellung „Immer Wieder?“ zu frühen Neonazi-Organisationen und der Hakenkreuz-Schmierwelle 1959/60. | Foto: Maja Wypychowska

Angesichts der hohen Zahl von antisemitischen und neonazistischen Vorfällen scheint erstaunlich, wie wenige Fotos von den Taten überliefert sind und in der Presse veröffentlicht wurden. Es waren lediglich Fotos von der gezeichneten Schmargendorfer Litfaßsäule und von der Schändung eines Kriegerdenkmals im Lietzenseepark.[2] Zwar wurden Schmierereien oft sehr schnell entfernt, als Erklärung für das geringe Interesse reicht diese Deutung aber nicht aus. Vielmehr dominierten bald andere Bilder die Berichterstattung, nachdem die Polizei am 2. Januar 1960 im Volkspark Glienicke eine verbotene Sonnwend-Feier junger Neonazis aufgelöst und mehrere ihrer Teilnehmer festgenommen hatte. Die jungen Männer gehörten den Organisationen „Nationaljugend Deutschlands“ (NJD) und dem „Bund Nationaler Studenten“ (BNS) an. Bei ihrem Treffen hatten sie unter anderem eine schwarz-weiß-rote Reichsfahne mit aufgeklebtem Hakenkreuz gehisst. In den Tagen danach überschlugen sich die Meldungen über die „Braunen von Glienicke“. Die Sonnwend-Feier wurde in Zusammenhang mit den Schmierereien gebracht, da sich auf der Litfaßsäule in Schmargendorf auch eine Odalsrune, das Erkennungszeichen der NJD, befunden hatte. Einige Zeitungen gingen sogar so weit, die Namen und Adressen von Teilnehmern des Neonazi-Treffens zu veröffentlichen. Auch stellte sich heraus, dass zwei von ihnen bereits im Vorjahr antisemitisch aufgefallen waren, als sie in der Kongresshalle eine Theaterveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer des Warschauer Ghettos gestört hatten.

Nach einer Zählung der Bundesregierung kam es in West-Berlin bis zum 28. Januar 1960 zu 123 antisemitischen Vorfällen.

Auf einer Pressekonferenz am 5. Januar 1960 präsentierte die Polizei Beweismaterial, das bei Haussuchungen der Neonazis gefunden worden war. Innensenator Joachim Lipschitz kündigte das Verbot von BNS und NJD an. Zudem widersprach er der verschiedentlich geäußerten – und bis heute nicht belegten – These, die „Hakenkreuz-Schmierwelle“ sei eine von Kommunisten initiierte und gelenkte Aktion, um dem Ruf der Bundesrepublik zu schaden. Für Lipschitz stand fest: die „Primärzündung liegt bei den rechtsradikalen Gruppen“. Allerdings hielt er es für möglich, dass „Kommunisten die jetzt entstandene Situation ausnützen.“[3] Tatsächlich nutzte die DDR die jüngsten Vorfälle für ihre Kampagnen gegen die Bundesrepublik. Für die SED in Ost-Berlin stand fest: „Die Schuldigen sitzen in Bonn“.[4] Auch der Senat im Westteil der Stadt wurde attackiert und die SS-Vergangenheit West-Berliner Polizisten angeprangert. Dass es in der DDR ebenso neonazistische und antisemitische Erscheinungen gab, stritt die Staatsführung ab. Später erklärte die SED, westliche „Agenten- und Spionageorganisationen“ hätten versucht, „faschistisch-antisemitische Aktionen“ in der DDR durchzuführen.[5] Wie Aufzeichnungen der Volkspolizei belegen, kam es jedoch Anfang 1960 in Ost-Berlin ebenfalls zu einer hohen Zahl von Hakenkreuz-Schmierereien.[6]

Heinz Galinski, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, konstatierte seinerzeit in einem Gespräch mit der Zeitung Telegraf, es wäre „eine sehr billige Ausrede, diese unerfreulichen Dinge der jüngsten Vergangenheit den Kommunisten in die Schuhe zu schieben.“[7] Einige Tage später erklärte er, die Ursache der jüngsten Vorfälle sei zudem darin zu suchen, dass die breite Öffentlichkeit „indifferent und demokratieverdrossen sei“. Galinski warnte: „Die Sicherung der deutschen Demokratie ist nicht möglich, solange aktive frühere Nazis in der Bundesrepublik mitbestimmend sind.“[8] Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden war Anfang 1960 ein gefragter Interviewpartner. Er berichtete, der größte Teil der Angehörigen der Berliner Jüdischen Gemeinde bestehe aus älteren Menschen, die als Holocaust-Überlebende „Furchtbares“ erlitten hätten. Für sie waren die antisemitischen Schmierereien und Bedrohungen ein besonders schwerer Schock.[9]

In West-Berlin standen seit dem 4. Januar 1960 jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz. Nach einer Bombendrohung gegen das im September 1959 eröffnete Gemeindehaus in der Fasanenstraße fanden Bilder von Polizisten vor Synagogen sogar Eingang in einige Zeitungen.[10] Über die persönlichen Schicksale der Angegriffenen berichteten die Medien bis dahin nicht. Den Auftakt machte am 5. Januar die Ost-Berliner Boulevard-Zeitung BZ am Abend. Ihre Reporter suchten die Dahlmannstraße in Charlottenburg auf, um Anwohner zu den Ereignissen zu befragen. In dem Bericht kam ein Angestellter einer jüdischen Fleischerei zu Wort, der einst vor den Nazis nach Südamerika geflohen war. Er ließ die Zeitung wissen: „Manchmal bedauere ich, daß ich nach Deutschland zurückkam.“[11] Zwei Tage später zog die West-Berliner Bild-Zeitung auf ihrer Titelseite nach. Sie berichtete über einen jüdischen KZ-Überlebenden, der in die Bild-Redaktion gekommen sei und erzählte, er sei wegen seiner Abstammung angepöbelt worden. Sein Bericht schloss mit den Worten: „Ich habe wieder Angst.“ Die Zeitung forderte eine harte Bestrafung für das antisemitische „Gesindel“ und: „Wir Deutsche müssen die neu aufgeflammte Seuche – gleichgültig, welchen Hintergrund sie haben mag – als erste ausbrennen. Schnell und radikal. […] Es darf nicht sein, daß einer von uns kommt und sagt: ‚Ich habe Angst!‘ Das darf in Deutschland einfach nicht sein! Es darf nicht sein!“[12]

In seinem Interview mit dem Telegraf hatte Heinz Galinski eine Reaktion aus der Bevölkerung und gar einen „Aufstand der Anständigen“ gegen die neonazistischen Umtriebe gefordert. Tatsächlich gab es in diesen Tagen nicht wenige Menschen, die der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität versicherten oder öffentlich ihre Stimme erhoben. Die ersten Protestler, die im Wedding, Neukölln und Charlottenburg auf Transparenten „Schluß mit Antisemitismus und Völkerhetze“ forderten, wurden allerdings von der Polizei behindert, da sie nach ihrer Ansicht „von der SED organisiert“ seien. Ähnlich erging es Angehörigen der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, als sie in Spandau demonstrierten.[13] Zu Festnahmen von tatsächlichen oder vermeintlichen Kommunisten, die in West-Berlin nicht selten waren, kam es (noch) nicht. Möglicherweise wollte die Politik keine negativen Bilder provozieren, denn sie war sich der kritischen Blicke des Auslands sehr bewusst. Dies verdeutlichte auch eine Ansprache Willy Brandts im Abgeordnetenhaus, in welcher der Regierende Bürgermeister betonte, dass „uns die Reaktionen einiger ausländischer Zeitungen schmerzlich berührt haben“. Entschlossen betonte er, man sei dazu bereit, den Beweis anzutreten, dass „Berlin eine saubere Stadt“ sei.[14]

Vor diesem Hintergrund kam dem Senat das Engagement von anderen Organisationen sehr entgegen. So startete die Deutsch-Israelische Studiengruppe (DIS) am 7. Januar 1960 an der Freien Universität eine Unterschriftenkampagne für eine Erklärung, in der die antisemitischen Ausschreitungen scharf verurteilt wurden. Der Aufruf lautete: „Denkt an Auschwitz! Kampf dem Antisemitismus! Freundschaft mit Juden und Israel! Unterzeichnet die Solidaritätserklärung!“[15] Innerhalb von zwei Tagen erfolgten über 1.000 Unterschriften. Auch die „Falken“ setzten ein Zeichen: Seit dem 4. Januar hielten sie Wache am Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Steinplatz in Charlottenburg, um es vor möglichen Schändungen zu schützen. Überdies rief die Jugendorganisation der SPD die Jugendlichen Berlins zu einem Protestmarsch gegen Antisemitismus auf, der am Abend des 8. Januar 1960 stattfinden sollte. Alle anderen Verbände des Landesjugendringes Berlin schlossen sich dem Appell an. Der Senat unterstütze das Vorhaben. Die Verwaltung für Jugend und Sport teilte mit, dass sämtliche Häuser der Jugend- und Freizeitheime am Demonstrationstag ab 18 Uhr geschlossen seien, und die Polizei warnte vorab in den Zeitungen vor Verkehrsbehinderungen. Der Protestzug sollte am Freitagabend um 19.30 Uhr am Wittenbergplatz beginnen und über die Tauentzien- und Hardenbergstraße zum Steinplatz führen. Dort wollte Joachim Lipschitz sprechen. Das Anliegen der Jugendorganisation war von der Politik angenommen beziehungsweise quasi übernommen worden.

Die Route des Protestzuges von Schöneberg nach Charlottenburg. | Grafik: Maja Wypychowska

Der Protestzug am 8. Januar 1960 war die bis dahin größte Demonstration gegen Neonazismus und Antisemitismus in West-Berlin. 40.000 Berlinerinnen und Berliner, vor allem Jugendliche, zogen im Fackelschein unter dumpfem Trommelwirbel durch die City-West zum Steinplatz. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie „Gegen Rassenhass“, „Fort mit den Schmierfinken“, „Gegen Antisemitismus und Völkerhetze!“ oder einfach nur „Nazis raus!“. Mit dem Transparent „Keine Nazis in den Hörsälen“ gab es konkreten Bezug zu den extrem rechten Studenten vom BNS. Die Spitze des kilometerlangen Zuges erreichte nach gut 30 Minuten ihr Ziel. Das Mahnmal am Steinplatz – 1953 aus Steinen der zerstörten Synagoge in der Fasanenstraße errichtet – war von vier schwarz verkleideten Pylonen umrahmt, deren flackerndes Feuer den Platz erhellte. Auf einer Tribüne sprach Innensenator Lipschitz. Er machte deutlich, Hakenkreuze an den Synagogen und die Aufschrift „Juden raus“ seien „wie die gelben Sterne in der Nazizeit nicht ein Schandmal für den jüdischen Bevölkerungsteil, sondern ein Schandmal für das Volk, das dies duldet“. Ebenso teilte er verbale Stockschläge aus. Er forderte die Neonazis auf, „aus ihren Löchern zu kommen und ihr Heldentum zu beweisen, damit die Jugend sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Fäusten […] mit ihnen auseinandersetzen kann“. Die SED warnte Lipschitz, die Berliner hätten nicht vergessen, dass „die Weimarer Demokratie von zwei Seiten zusammengeschlagen worden“ sei. In Richtung der „sicherlich anwesenden Freunde aus Ost-Berlin“ rief er: „Wir sind nach dem Zusammenbruch mit den Kommunisten auch ohne die Hilfe der Nazis fertig geworden, und wir werden mit den Nazis fertig, ohne die Hilfe der Kommunisten zu benötigen.“

Lipschitz, als sogenannter „Halbjude“ selbst Verfolgter des NS-Regimes, war für seine unversöhnliche Haltung gegenüber der SED bekannt. Dass er eine Rede mit antikommunistischen Spitzen versah, war nicht überraschend. Was jedoch nach der Kundgebung geschah, war möglicherweise nicht geplant: Etliche der Teilnehmer zogen vom Steinplatz zum Jüdischen Gemeindehaus in der nahe gelegenen Fasanenstraße. Dort hielten sie eine Solidaritätskundgebung ab. Erneut ergriff Lipschitz das Wort und bat die Jüdische Gemeinde, Berlin nicht den Rücken zu kehren. Der herbeigerufene Heinz Galinski dankte den Jugendlichen. Die Gemeindemitglieder hätten „erneut Vertrauen zu Berlin gefunden“ und wollten gemeinsam mit allen die anstehenden Aufgaben lösen.[16] Es spricht einiges dafür, dass dieser Teil des Abends nicht inszeniert war. So existieren kaum Fotos von der Kundgebung vor dem Gemeindehaus. Auch die Presse wartete in den nächsten Tagen nicht mit Bildern auf – manche Zeitungen erwähnten die Aktion nicht einmal. Stattdessen waren sie voller Berichte und Fotos vom Protestmarsch zum Steinplatz. Das Lob an die Jugend Berlins war deutlich. In der Zeitung Der Abend lautete es sogar: „Dies war eine der diszipliniertesten, der ruhigsten, der ordentlichsten Kundgebungen, derer man sich erinnern kann. Kein Gejohle, keine Lärm, kein Krawall. Man kann sich freuen. Berlin kann sich freuen. Das ist eine Jugend, die bereit ist dazu beizutragen, wenn es um wichtige, um lebenswichtige Dinge geht.“[17]

Bei den großen West-Berliner Parteien herrschte in den Tagen nach der Demonstration Zufriedenheit. Willy Brandt sprach Worte der Anerkennung für die Jugendverbände und den eindrucksvollen Verlauf der Proteste. Sein Stellvertreter Franz Amrehn (CDU) befand auf einer überfüllten Veranstaltung der Jungen Union im Kino Zoopolast, auf der für Jugendliche der Film „Nacht und Nebel“ gezeigt wurde: „Es gibt kein schöneres Zeichen für die Haltung der Berliner, insbesondere der Jugend, als diesen großen Widerhall, den unsere Vorstellung gefunden hat.“ Gleichzeitig übte er sich in Distanzierung: Die antisemitischen Erscheinungen der letzten Zeit seien eine Tat von „Wahnwitzigen und Verblendeten“. Mit der Gesinnung des deutschen Volkes hätten sie „nichts mehr gemein“.[18] Diese Beschränkung der Schmierwelle auf eine kleine Minderheit von Tätern, ohne nach den größeren Zusammenhängen zu fragen, blieb nicht ohne Kritik. Der Publizist Gerhard Schoenberner hielt diesbezüglich einige Monate später fest: „Uns scheint diese Demonstration, so eindrucksvoll sie war, nicht zuletzt eine Demonstration propagandistischer Geschicklichkeit und guten Reaktionsvermögens, wenn auch das Ausland sich sehr viel weniger beeindruckt zeigte als die Deutschen selbst. Doch wie die meisten Kunststücke hält dieses einer näheren Untersuchung nicht stand und erweist sich bei ruhiger Überlegung als Bluff: Eine Diskussion, die mit ständigem Blick auf ihre Wirkung im Ausland geführt wird, die das Phänomen des Antisemitismus auf die Schmierereien eingrenzt und diese Schmierereien isoliert von der allgemeinen politischen Entwicklung betrachtet, in denen nicht zuletzt sie ihre Ursachen haben, ist alles andere als ein Gradmesser politischer Reife.“[19]

Schoenberner formulierte Kritik am vorherrschenden Antikommunismus und an der Durchsetzung der Bundesrepublik mit ehemaligen Funktionären des NS-Regimes. Wenige Tage nach der Großdemonstration zeigte sich schließlich erneut die angespannte Lage in West-Berlin. Am Vormittag des 18. Januar fanden sich 3.000 Studenten zu einer Protestkundgebung gegen Antisemitismus und Neonazismus auf dem Steinplatz ein. Wiederum sprach Joachim Lipschitz, der auf den großen Schaden verwies, der Deutschland durch die antisemitischen Ausschreitungen im Ausland zugefügt worden sei. Der Innensenator hatte gerade begonnen zu sprechen, da hielten einige Studenten Schilder mit den Namen Globke, Oberländer, Reinefarth und Schröder hoch, um gegen ehemalige Nazis in Regierungsfunktionen zu protestieren. Umgehend wurden sie von Lipschitz, der sie als Ost-Berliner Akteure vermutete, verbal scharf angegriffen. Danach gingen Polizisten gegen die vermeintlichen kommunistischen Provokateure vor und verhafteten zehn der Demonstranten. Unter ihnen befanden sich auch zwei Mitglieder der DIS. Sie hatten nicht zu den Schilderträgern gehört, sondern lediglich von Beamten deren Polizeiausweis und Auskunft über das Schicksal der Festgenommenen verlangt.[20] Nachdem Lipschitz darüber aufgeklärt worden war, dass es sich bei allen Studentinnen und Studenten um FU-Angehörige handelte, widerrief er noch am selben Tag seine Anschuldigungen und erklärte, was diese hätten ausdrücken wollen, habe seine „volle Sympathie“.[21]

In den folgenden Tagen überboten sich die Zeitungen mit Meldungen über die „roten Tumulte“ auf dem Steinplatz. Dabei ging vielfach unter, dass die Studenten ein wichtiges Zeichen gesetzt hatten: Im Anschluss an die Kundgebung war eine Abordnung in die Fasanenstraße gezogen und hatte im Hof des Jüdischen Gemeindehauses einen Kranz an der Gedenkwand mit den Namen der Konzentrations- und Vernichtungslager niedergelegt. Heinz Galinski dankte der Delegation und brachte zum Ausdruck, dass „solche Regungen der Jugend und der jungen Akademiker das Vertrauen fördern, das so schwer erschüttert wurde“.[22] Tatsächlich weckten die Proteste und Solidaritätsbekundungen der jungen Generation bei manchen Jüdinnen und Juden Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung in Deutschland. Die Schmierwelle blieb jedoch eine Zäsur, und ihre Folgen sind bis heute gegenwärtig. Ende Januar 1960 wurde das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Steinplatz ebenfalls Ziel eines Angriffes, als Unbekannte hier Flugblätter mit der Forderung „Die Juden raus“ verstreuten. Der „Bund der Verfolgten des Naziregimes“ appellierte an die Bundesregierung, zu handeln. „Ist es nicht eine Schande für die deutsche Bevölkerung in der Bundesrepublik und in Westberlin, daß jüdische Gotteshäuser und Mahnmale für die NS-Opfer polizeilich bewacht werden müssen“, fragte der Verband.[23] An diesen Zustand hatte man sich jedoch fortan zu gewöhnen.

Die „Hakenkreuz-Schmierwelle“ gilt gemeinhin als ein wichtiger Auslöser eines Wandels hin zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Neonazismus. In West-Berlin schien sich dies schon wenige Monate nach dem Ereignis zu bestätigen, als im April 1960 die Ausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ eröffnete. In dieser dokumentierten die Initiatoren um Gerhard Schoenberner umfassend den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Die Ausstellung wurde ein großer Erfolg: In zwei Monaten sahen sie rund 70.000 Besucher, darunter über 500 Schulkassen. Zudem gab es ein Begleitprogramm mit dem Titel „Naziopfer diskutieren mit der Jugend“, das großen Anklang fand.[24] Die wachsende Bereitschaft, sich mit den NS-Verbrechen zu konfrontieren, bedeutete allerdings nicht, dass Proteste gegen Antisemitismus und Neonazismus zum Selbstläufer wurden. Als einige Jahre später Neonazis die Gedenkstätte in Plötzensee mit Hakenkreuzen, NS-Parolen und der antisemitischen Forderung „Galinski raus!“ beschmierten, blieb ein Protest der Jugend aus. Auch die 68er-Studenten gingen nicht auf die Straße. Das Beispiel zeigt: Widerstand gegen Antisemitismus und Neonazismus müssen nicht nur aufrecht erhalten, sondern der Protest gegen die extreme Rechte immer wieder aufs Neue gebildet werden.

 


Dieser Artikel erschien mit weiteren Fotos zuerst im Rundbrief des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. Nr. 80 / 2019. Wir danken für die Genehmigung, den Artikel zu übernehmen.

Der Beitrag beleuchtet einen Teilaspekt der Ausstellung „Immer wieder? Extreme Rechte und Gegenwehr in Berlin seit 1945“, die das antifaschistische pressearchiv und bildungszentrum berlin (apabiz e.V.) zusammen mit dem Aktiven Museum konzipierte. Der Autor dankt allen Mitgliedern des Ausstellungsteams für ihre Unterstützung, insbesondere Gideon Botsch, der ihn auf die Idee zu dieser Untersuchung brachte.

  1.  Siehe: Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle. Weißbuch und Erklärung der Bundesregierung, Bonn 1960, S. 36.
  2.  Hakenkreuze und Juden raus! – Polizei nahm 9 Nazis fest, BZ, 4. Januar 1960; Vier Festnahmen in Berlin, Telegraf, 7. Januar 1960.
  3.  Senats-Beschlüsse gegen Neonazis, Der Kurier. Die Berliner Spätausgabe, 5./6. Januar 1960.
  4.  Die Schuldigen sitzen in Bonn, Neues Deutschland, 7. Januar 1960.
  5.  Otto Grotewohl, In Westberlin hat Bonn nichts zu suchen, Neues Deutschland, 9. Januar 1960.
  6.  Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Siegfried Heimann.
  7.  „Das ist die Rechnung!“, Telegraf, 6. Januar 1960.
  8.  Rolf Loewenberg, Gesteuerte Aktionen, Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 22. Januar 1960.
  9.  Senat zu wirksamer Abschreckung entschlossen, Spandauer Volksblatt, 6. Januar 1960.
  10.  Polizeischutz für Berlins Synagogen, Bild-Zeitung, 5. Januar 1960; Nächtliche Polizei-Aktion gegen Rechtsradikale, Der Kurier. Die Berliner Spätausgabe, 5./6. Januar 1960.
  11.  Die Farbe war noch feucht, BZ am Abend, 5. Januar 1960.
  12.  Einer hat wieder Angst, Bild-Zeitung, 7. Januar 1960.
  13.  Stummpolizei bedrohte Antifaschisten, Berliner Zeitung, 7. Januar 1960.
  14.  Willy Brandt, Rede vor dem Abgeordnetenhaus am 7. Januar 1960, in: Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin, III. Wahlperiode/Bd. II., Berlin (West) 1969, S. 15.
  15.  W. H., Gleichung mit Millionen Unbekannten, Colloquium – Eine deutsche Studentenzeitung, Jg. 1960, Nr. 2.
  16.  Protestmarsch der Berliner Jugend gegen Antisemitismus, Der Tagesspiegel, 9. Januar 1960.
  17.  Sie kamen alle, Der Abend, 9. Januar 1960.
  18.  Demonstration gegen Neonazismus, Spandauer Volksblatt, 12. Januar 1960.
  19.  Gerhard Schoenberner, Das Menetekel von Köln – Die unbewältigte Gegenwart, Das Argument. Berliner Hefte für Politik und Kultur, Nr. 16 (Mai/Juni 1960), S. 40.
  20.  Protestkundgebung der Studenten, Berliner Morgenpost, 19. Januar 1960.
  21.  Tilman Fichter, SDS und SPD – Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988, S. 314.
  22.  Anteilnahme und Ergriffenheit, Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 29. Januar 1960.
  23.  Schluß mit der Bagatellisierung, Die Mahnung, 15. Januar 1960.
  24.  Ich danke der Internationalen Liga für Menschenrechte in Berlin sehr herzlich für diese Hinweise.
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