Neonazis setzen sich ungestört in Szene
Das etwas andere Vierergespann am Brandenburger Tor: Der ehemalige NPD-Landesvorsitzende Sebastian Schmidtke (rechts), der Organisator der "Dienstagsgespräche" Hans-Ulrich- Pieper (am Hund), der ehemalige NPD-Bundesvorsitzende und ehemalige EU-Abgeordnete Udo Voigt (an der Fahne) und der derzeitige Berliner NPD-Chef Andreas Käfer. (c) Frank Metzger/apabiz
Neonazis setzen sich ungestört in Szene
Der langjährige Neonazi-Funktionär Jens Pühse, heutiger Generalsekretär und Schatzmeister bei ETN (Mitte), neben dem derzeitgen stellvertretenden Berliner NPD-Landesvorsitzenden und ehemaligen Vizevorsitzenden von ETN, Oliver Niedrich. (rechts) (c) Frank Metzger/apabiz
Unter dem Motto „Our Europe – Stop Migration Pact!“ inszenierten sich am Mittwoch, den 3. März, bekannte Neonazis bei einem Fotoshooting am Brandenburger Tor. Die angemeldete Versammlung war der Auftakt einer europaweiten Kampagne des internationalen Netzwerks „Europa Terra Nostra“ (ETN) gegen den Migrationspakt der Europäischen Union. Maßgeblich beteiligt waren bekannte NPD-Funktionäre, viele von ihnen aus dem Berliner Landesverband. Es gab keinerlei Gegenprotest. Auch die Polizei glänzte durch Abwesenheit.
Eine Doppelanmeldung für je eine halbstündige Kundgebung unter dem rassistischen Kampagnen-Motto war bereits im Vorfeld bekannt geworden. Auch wenn zunächst unklar blieb, wer konkret dafür verantwortlich war, musste aufgrund des Titels zweifelsohne mit einer extrem rechten Veranstaltung gerechnet werden. Die Pressefotograf*innen vor Ort wurden dennoch unangenehm überrascht: Zunächst ohne jegliche Polizeipräsenz und vollkommen ungestört konnten die fünfzehn größtenteils bekannten Neonazis einen Banner mit dem Aufdruck „Our Europe – Stop Migration Pact!“ sowie einem Verweis auf die Website von ETN entrollen und für ihren Fotografen posieren – erst auf dem Platz des 18. März und anschließend auf dem Pariser Platz. Ziel der Aktion war zweifelsohne die Produktion propagandistisch verwendbaren Bildmaterials vor historischer Kulisse und weniger die direkte Außenwirkung. So hatten die Neonazis die Versammlung im Vorfeld nicht beworben. Vor Ort wurden weder Redebeiträge gehalten, noch Flyer an die vereinzelten und meist irritiert wirkenden Passant*innen verteilt. Erst zwei Tage später beschrieb ETN diese Aktion in einem Facebook-Eintrag als Auftakt einer europaweiten Kampagne, die unter anderem eine Online-Petition gegen den EU-Migrationspakt umfassen soll.
Europäische Vernetzung von Neonazis
Gegründet wurde „Europa Terra Nostra“ (italienisch für „Europa unser Land“) bereits 2015 in Berlin und ins dortige Vereinsregister eingetragen. Die Organisation verstand sich ursprünglich als „Stiftung der pan-europäischen Fraktion der APF – Alliance for Peace and Freedom“, die das Ziel verfolgte, „die europaweiten Aktivitäten der neonazistisch orientierten Parteien, die sich in der Fraktion APF […] zusammen geschlossen haben“ zu vernetzen. Eine entscheidende Rolle spielte in der Anfangsphase die NPD, als diese mit Udo Voigt temporär im EU-Parlament vertreten war. Beispielsweise fanden in der Parteizentrale in Köpenick zu jener Zeit etliche ETN-Veranstaltungen statt. Nicht zuletzt die zunehmende Schwäche sowohl der NPD als auch der APF dürfte der Grund sein, warum das Selbstverständnis modifiziert wurde. Heute bezeichnet sich ETN als parteipolitisch-unabhängiges „organisational network for all identitarian nationalists of European descent wherever they live“ („organisatorisches Netzwerk für alle identitären Nationalist*innen europäischer Abstammung, wo auch immer sie leben“).[1] Zwar ist ETN bis heute im Berliner Vereinsregister eingetragen mit einer Adresse in Schöneberg, nach eigenen Angaben sei es jedoch mittlerweile „a not-for-profit association constituted under and governed by Swedish law“ („ein gemeinnütziger Verein, konstituiert und reguliert nach schwedischem Recht“). Dazu passt, dass ETN seine wahrnehmbaren Aktivitäten größtenteils ins schwedische Älgarås verlagert hat, mit engen Anbindungen an die neonazistische Organisation „Det fria Sverige“ („Das Freie Schweden“). Deren Vorsitzender, Dan Eriksson, ist seit der Gründung ebenfalls Vorsitzender von ETN. Als sein Stellvertreter wird Ivan Bilokapic aus Kroatien genannt. Schatzmeister und Generalsekretär ist derzeit der ehemalige Vizevorsitzende Jens Pühse, ein langjähriger NPD-Funktionär und neonazistischer Netzwerker. Schon in den 1990er und 2000er Jahren hatte Pühse eine zentrale Rolle im Vertrieb neonazistischer Musik und Propaganda gespielt – zunächst mit eigenen Versandkatalogen und schließlich als Geschäftsführer des „Deutsche Stimme Verlags“.
Im Ernstfall kein Schutz für potentielle Opfer
Bei der Inszenierung am vergangenen Mittwoch, eine der allenfalls noch sporadischen Aktivitäten von ETN in Berlin, hielt Pühse den Kontakt zum einzigen Polizisten vor Ort und fungierte offensichtlich als Versammlungsleiter. Angesichts des kurzfristigen Bekanntwerdens und der fehlenden Eigenwerbung verwunderte es nicht, dass Gegenprotest ausblieb. Warum die Berliner Polizei trotz des rassistischen Mottos zunächst gar nicht und im weiteren Verlauf mit nur einem Streifenpolizisten vor Ort war, ist jedoch unerklärlich und kann als fahrlässig bezeichnet werden. Schließlich waren die Teilnehmenden keine Unbekannten: Gekommen waren der ehemalige NPD-Bundesvorsitzende und ehemalige EU-Abgeordnete Udo Voigt sowie andere ältere Parteiaktivisten wie Richard Miosga und Hans-Ulrich Pieper, Veranstalter der extrem rechten „Dienstagsgespräche“. Aber auch jüngere Neonazis waren vor Ort, so der ehemalige und der derzeitige NPD-Landesvorsitzende, Sebastian Schmidtke und Andreas Käfer, sowie Oliver Niedrich, der heute stellvertretender Landesvorsitzender ist und in der Frühphase Vize bei ETN war. Als Fotograf trat Stefan Trautmann in Erscheinung, ein unter anderem wegen Gewaltdelikten vorbestrafter NPD-Aktivist aus Döbeln in Sachsen.
Sollten die Begleitumstände am Mittwoch also schon eine polizeitaktische Reaktion auf das seit dem 28. Februar 2021 gültige Berliner „Versammlungsfreiheitsgesetz“ sein, muss die Frage gestellt werden, ob mit derlei Maßnahmen Paragraph 3 Abs. 2 angemessen umgesetzt wird. Dieser benennt als Aufgabe der Behörde, „von der Versammlung oder im Zusammenhang mit dem Versammlungsgeschehen von Dritten ausgehende Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren“. Dass bei einer angemeldeten Versammlung mit fünfzehn Neonazis ohne Polizeipräsenz im Ernstfall eben kein ausreichender Schutz für potentielle Opfer extrem rechter Gewalt gewährleistet wird, dürfte offenkundig sein. Dass es nicht immer bei einer reinen propagandistischen Inszenierung wie in diesem Fall bleibt, hat sich in der Vergangenheit leider allzu oft gezeigt.
- ↑ Dies und die folgenden Zitate sind sofern nicht anders gekennzeichnet der Homepage von ETN entnommen.