In der Rückschau auf das Jahr 2014 stellte sich heraus, dass kaum ein Bericht über die Berliner Zustände isoliert von der aktuellen Debatte zu Migration betrachtet werden kann. Rassistische Positionen in der Diskussion über das Recht auf Asyl und Einwanderung sind in der Gesellschaft weit verbreitet, Medien produzieren zum Teil stigmatisierende Bilder von Geflüchteten, Politiker_innen fordern die Schließung der Grenzen und Behörden stehlen sich aus der Verantwortung; rechtsextreme und rassistische Einstellungen entspringen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft und werden von dort aus weitergetragen. Nur allzu oft wird dies durch einen reflexartigen Blick auf den rechtsextremen Rand verdrängt.
Flucht, Asylpolitik, Hetze gegen Geflüchtete – aber auch die Bewältigung der Erfahrungen von Rassismus, die praktische Hilfe vor Ort und der Widerstand gegen die politische und rechtliche Diskriminierung: das ist die Berliner Gesamtsituation. Seit dem Vorjahr hat sich nur wenig verändert, daher schreiben die hier versammelten Artikel so manche Geschichte für ein weiteres Jahr fort. Und leider kann nur selten Entwarnung gegeben werden. Wir haben uns als Herausgeber_innen entschieden, in dieser Ausgabe keinen zusätzlichen Themenschwerpunkt zu setzen, sondern die Beiträge den Bereichen Geflüchtete, Rassismus, Neonazismus und Antisemitismus zuzuordnen.
Geflüchtete in Berlin
Viele Menschen, die nach Berlin kommen und hier leben, arbeiten und studieren oder eine Ausbildung machen wollen, werden vor unüberwindbare Hürden gestellt. Die Anerkennung einer abgeschlossenen Ausbildung oder der Abschluss eines Studiums bedeuten für Migrant_innen einen extremen bürokratischen Aufwand. Der Beitrag von Education no Limitation zeigt, dass die geforderten Bedingungen dafür kaum zu erreichen sind. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass ein Studium für Migrant_innen schon im Ansatz gar nicht gewollt ist. Eine Vielzahl von Projekten und Organisationen setzt sich für die Rechte von Flüchtlingen ein und kämpft für eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Zum Teil erfüllen sie aber mit ihren Tätigkeiten staatliche und behördliche Aufgaben, die von professionellen Kräften mit angemessener Bezahlung erfolgen müssten. Der Bedarf an Beratung, Sozialarbeit, Erziehung, Betreuung und Versorgung wird aus Kostengründen viel zu schwach abgedeckt und daher zum Teil von Ehrenamtlichen übernommen. Damit ziehen sich staatliche Strukturen aus der Verantwortung und belassen Flüchtlinge in einer prekären gesundheitlichen, sozialen und rechtlichen Situation.
Rassismus in Berlin
Täglich erfahren viele Menschen in Berlin antimuslimischen Rassismus. Dabei wird viel zu selten thematisiert, was diese Ausgrenzung bewirkt und welche Verletzungen die Erfahrung auslöst, vermittelt zu bekommen, in dieser Gesellschaft unerwünscht zu sein. Eine stärkende solidarische Unterstützung können die gemeinsame Auseinandersetzung und ein Austausch über Handlungsstrategien darstellen. Die Thematisierung von Ausgrenzungserfahrungen und Diskriminierung ist auch der Fokus des Präventionsprojektes der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Wenn verhindert werden soll, dass sich Jugendliche gewaltförmigen Strömungen des Islamismus zuwenden, müssen alle Jugendlichen angesprochen werden und gemeinsam ausarbeiten, wie sie sich eine inklusive, respektvolle Gesellschaft vorstellen und wie diese in ihrem Umfeld zu erreichen ist.
Die sogenannten ›berechtigten Ängste‹ der Anwohnenden sind eine vielfach wiederholte Erklärung für die flüchtlingsfeindlichen Aufmärsche, die im letzten Jahr beobachtet werden mussten. Dass es sich bei gewaltförmigen Protesten gegen die Unterbringung von Geflüchteten und bei der Hetze gegen Migrant_innen nicht um das Anbringen von Befürchtungen handelt, sondern um rassistische und menschenverachtende Strömungen, lässt sich am Beispiel Pegida deutlich zeigen.
In jeder Ausgabe der Berliner Zustände wird die Chronik der Opferberatung ReachOut veröffentlich, in der rassistische, rechtsextreme und antisemitische Angriffe gegen Menschen in Berlin dokumentiert werden. Leider kann noch immer keine Entwarnung gegeben werden: die Angriffszahlen steigen stetig, Handlungsbedarf ist dringend erforderlich!
Neonazis in Berlin
Mit der rassistischen Aufladung der Frage um die Unterbringung von Geflüchteten und das Recht auf Asyl hat die extreme Rechte in Berlin viele Menschen erreicht. In einigen Bezirken konnten hunderte Menschen mobilisiert werden, die rund um diese Debatte ihre rassistischen Vorurteile ausagiert haben. Kritisch ist vor allem, dass mit den stattgefundenen Aufmärschen und Kundgebungen immer mehr Interessierte angesprochen wurden, die sich dadurch der rechten Szene angenähert haben und politisiert wurden.
Dass Neonazis im Jahr 2014 vielfach aktiv waren, zeigen die verschiedenen Artikel in diesem Kapitel: Rechtsextreme griffen Projekte an, die sich für eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten einsetzen, sie bedrohten Menschen, die sich für die Bedingungen für Asylsuchende engagieren, sie schlugen auf Journalist_innen ein, die versuchten, eine unabhängige Berichterstattung zu gewährleisten, sie veranstalteten rassistische Kundgebungen und verbreiteten ihre hetzerischen Parolen über Lautsprecher und Flugblätter. Besonders in der Darstellung des Projektes Hellersdorf hilft wird deutlich, welchen persönlichen Einsatz es bedeutet, sich für Gefüchtete zu engagieren.
Antisemitismus in Berlin
In der Zeit des Gazakrieges, im Sommer des Jahres 2014, zeigte sich auf erschreckende Weise, wie offen Antisemitismus in Berlin gewaltförmig ausgetragen wird. Die Zahl der in Berlin verübten Angriffe auf Menschen und Einrichtungen, die (vermeintlich) jüdisch sind, hat sich vervielfacht. Projekte und Zivilgesellschaft sind dringend aufgefordert, die jüdische Perspektive wahrzunehmen und sich gegen antisemitische Diskriminierung zu positionieren.
Auffällig war auch, dass eine Vielzahl neu gegründeter Gruppen auftrat, um mit sogenannten Verschwörungsideologien für den Weltfrieden zu werben. Sie laden komplexe wirtschaftliche, soziale und politischen Zusammenhänge mit antisemitischen Deutungen auf, beschuldigen die Medien, sich vom System zu einseitiger Berichterstattung zwingen zu lassen und lehnen die Demokratie ab.
Der Artikel der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus und des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums verschafft einen Überblick über dieses Phänomen. Für das Vorwort konnten wir Simon Teune vom Verein für Protest- und Bewegungsforschung gewinnen, der mit seiner Gesamtbetrachtung eine Einordnung der aktuellen Situation vornimmt. Initiativen und Organisationen in Berlin engagieren sich für Geflüchtete, kämpfen gegen Rassismus und Antisemitismus oder treten Neonazis bei rassistischen Aufmärschen entgegen. Viele Projekte leisten Tag für Tag professionelle Arbeit, um die Lebenssituation von Asylsuchenden und Migrant_innen zu verbessern oder erträglich zu machen. Diese Arbeit ist selten spektakulär und fast nie so abgesichert, wie die Beteiligten sich das wünschen. In der Berichterstattung der Medien, und allzumal in der tagesaktuellen Presse, findet diese Arbeit in den seltensten Fällen Erwähnung. Die Finanzierung von Projekten, die notwendige Unterstützungsarbeit für Geflüchtete leisten, ist in vielen Fällen nicht gesichert. Einige dieser Projekte stellen sich in den Berliner Zuständen vor und berichten von ihrer überaus notwendigen Arbeit.
Wir danken allen, die das Erscheinen der Berliner Zustände ermöglicht haben; dazu zählen alle Projekte und Einzelpersonen, die sich mit Artikeln beteiligt haben und damit einen Beitrag zur aktuellen Diskussion leisten, die wir anschieben wollen. Dazu zählen aber auch diejenigen, die sich täglich einsetzen und engagieren, auch wenn sie hier nicht mit einem Artikel vertreten sein können. Das Layout und die fotografische Illustration wurde von Mo Aufderhaar und Zanko Loreck sowie Özlem Günyol und Mustafa Kunt gestaltet, wir freuen uns sehr über ein gelungenes Produkt und die Zusammenarbeit.
Viel Spaß bei der Lektüre und bereichernde Erkenntnisse wünscht die Redaktion!