Hohe Angriffszahlen in Berlin

Trotz Pandemie und Lockdown wurden 2020 in Berlin fast täglich extrem rechte, rassistische und antisemitische Angriffe begangen. ReachOut, die Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, dokumentierte für das Jahr 2020 in Berlin 357 Angriffe. Mindestens 493 Menschen wurden verletzt oder massiv bedroht. Unter den Opfern waren 37 Kinder und 28 Jugendliche. Außerdem mussten 15 Kinder miterleben, wie ihre Angehörigen oder Freund*innen geschlagen, bespuckt und gedemütigt wurden. Zum Vergleich: 2019 mussten wir mit 390 Taten die höchsten Angriffszahlen seit Bestehen des Projektes dokumentieren. Davon betroffen waren mindestens 509 Personen.

 

Die Tatmotive

Rassismus war das häufigste Tatmotiv. In 196 Fällen wurden deswegen Menschen bedroht und verletzt. Das bedeutet, dass fast 55 Prozent der Angriffe aus rassistischen Motiven verübt wurden. Davon waren mindestens 20 Angriffe antimuslimisch motiviert, richteten sich 31 gegen Schwarze Menschen und fünf gegen Sinti*ze oder Rom*nja.

Ein Beispiel aus unserer Chronik:

Am 13. Juni wird in Kreuzberg ein Mann, der in Begleitung eines anderen Mannes ist, in der U-Bahnlinie 7 von einem Unbekannten aufgrund antiziganistischer und homophober Motivation bedroht. Der Unbekannte hindert die beiden Männer am Aussteigen und schlägt einem der Männer verschiedene Dinge aus der Hand. Auf dem U-Bahnhof Yorckstraße versucht der Angreifer ihn zu schlagen und mit einer Zigarette zu verbrennen. Die beiden Männer werden bis in eine Bar, in die sie sich flüchten, verfolgt. Später erstattet der Mann Anzeige bei der Polizei. Wir müssen davon ausgehen, dass gerade für die detaillierte Erfassung rassistischer Taten das Dunkelfeld groß ist, weil nicht immer eindeutige Beleidigungen ausgesprochen werden. Deswegen sind wir froh, dass es in Berlin Projekte wie Inssan, EOTO und DOSTA gibt, die sich gezielt auf die einzelnen Erscheinungsformen des Rassismus konzentrieren.
93 Taten wurden aus LGBTIQ*-feindlichen Motiven begangen. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten ist mit 28 Angriffen nahezu gleich geblieben im Vergleich zu 2019. Wenig verändert hat sich auch die Anzahl der Attacken und massiven Bedrohungen gegen politische Gegner*innen. Gegen sie richteten sich 18 Angriffe. Zudem erfuhr ReachOut von 13 Bedrohungen und Angriffen gegen Journalist*innen.

Die Angriffsorte

155 Angriffe wurden auf Straßen und Plätzen verübt (2019: 136). An Haltestellen, Bahnhöfen und in öffentlichen Verkehrsmitteln geschahen 78 Gewalttaten und Bedrohungen (2019: 111).

Zwei Beispiele aus unserer Chronik:

Am 15. November, am U-Bahnhof Alt-Tegel: Gegen 17.00 Uhr werden eine 37-jährige Frau und ihre drei Kinder, während sie in die U-Bahn einsteigen, von einer 55-jährigen Frau rassistisch beleidigt. Ein Kind wird von der 55-Jährigen getreten. Am 10. August wird eine Frau in Mitte, in der Brunnenstraße, in der Nähe des U-Bahneingangs Rosenthaler Platz von fünf Männern aufgrund von Anti-Schwarzem Rassismus beleidigt, zu Boden gestoßen, am Boden liegend getreten und verletzt. Trotz des leichten Rückgangs der Angriffszahlen insgesamt blieb die Anzahl der Taten, die im direkten Wohnumfeld der Betroffenen begangen wurden, mit 32 Angriffen gleich hoch. Einem solchen Angriff voraus gehen häufig wiederholte Beleidigungen und andere Einschüchterungs- und Verdrängungsversuche. Obwohl es sich bei den Täter*innen meistens um Nachbar*innen handelt und sie deswegen bekannt sind, gehen sie offenbar davon aus, kein Konsequenzen für ihr Handeln fürchten zu müssen. Am Arbeitsplatz fanden 19 Angriffe statt. Wenn die Betroffenen regelmäßig den Ort aufsuchen müssen, an dem sie verletzt und gedemütigt wurden, ist es manchmal nur schwer möglich, weiterhin dieser Arbeit nachzugehen. So können die Angriffe existenzielle Ängste und finanzielle Not zur Folge haben. In Restaurants, Clubs, Kneipen wurden 26 Taten verübt.

Die Straftaten

Bei den von ReachOut dokumentierten Angriffen handelt es sich um 179 Körperverletzungen, 118 gefährliche Körperverletzungen und 53 massive Bedrohungen. Zudem mussten wir eine schwere Körperverletzung dokumentieren: In der Nacht des 7. Januar 2020 wird einem 45-jährigen wohnungslosen Mann, der im Vorraum einer Bankfiliale in der Otto-Suhr-Allee schläft, das Hosenbein angezündet. Der Mann erleidet schwere Brandverletzungen.

Die Angriffe in den Berliner Stadtteilen

Die meisten Angriffe fanden in den innerstädtischen Stadtteilen statt. Im Bezirk Mitte, mit den Stadtteilen Mitte (28), Wedding (20) und Tiergarten (12) wurden insgesamt 60 und somit stadtweit die meisten Angriffe verübt. Hier war gleichzeitig der stärkste Rückgang zu beobachten. Die häufigsten Tatmotive waren dort Rassismus mit 33 und LGBTIQ*-Feindlichkeit mit 19 Taten. In Neukölln dokumentierte ReachOut 34 Angriffe. Häufigste Motive mit je 15 Taten: Rassismus und LGBTIQ*-Feindlichkeit.
Auch die meisten Gewalttaten in Kreuzberg (17 von 30) und Schöneberg (7 von 13) richteten sich gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen. Dabei handelt es sich um die Stadtteile, in denen die Betroffenen davon ausgehen, dass sie sicher sind. Es gibt dort eine gute Infrastruktur, Treffpunkte und Projekte von und für LGBTIQ*s.
Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentierten wir in den Stadtteilen Charlottenburg (25), Friedrichshain (22), Spandau (21), Prenzlauer Berg und Hohenschönhausen (je 17), Reinickendorf (16) Treptow und Marzahn (je 15).
Beunruhigend ist, dass die Angriffszahlen trotz der Pandemie und der beiden Lockdowns so hoch geblieben sind. Obwohl im vergangenen Jahr sichtbar weniger Menschen in der Stadt unterwegs waren, ausgehen konnten und die öffentlichen Verkehrsmittel weniger genutzt wurden, geschahen so viele brutale Angriffe im öffentlichen Raum. Dies deutet darauf hin, dass die Aggressivität und die Enttabuisierung bezüglich der Gewalt gegen ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen weiter zunimmt. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass die aufgeheizte und aggressive Stimmung während der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mit zigtausend Teilnehmenden über das unmittelbare Demonstrationsgeschehen hinaus gewirkt hat. Dies könnte sich auch in der hohen Zahl der Angriffe widerspiegeln.

2020 wurde zudem deutlich, wie sich Rassismus auf den unterschiedlichen Ebenen gegenseitig bedingt und verstärken kann. So waren sowohl politische Debatten als auch die Berichterstattung über die Corona-Pandemie, die häufig illustriert wurde mit Fotos von asiatisch gelesenen Menschen, geprägt von anti-asiatischem Rassismus. Gleichzeitig wurden Beleidigungen und Angriffe aufgrund von anti-asiatischem Rassismus verübt. Die Täter*innen fühlen sich in ihrem Handeln bestärkt und ermutigt.
ReachOut erfuhr von elf Angriffen mit einem direkten Bezug auf Corona. Dies ist nur ein Streiflicht darauf, was tatsächlich passierte. Ein Beispiel aus unserer Chronik: Am 29. Februar sitzen sieben Personen, unter ihnen befinden sich auch Menschen, die asiatisch gelesen werden, gemeinsam in einem Café in der Kopenhagener Straße (Prenzlauer Berg). Sie werden aus einer anderen Gruppe heraus aus rassistischer Motivation mit einem Corona-Bezug beleidigt und bedroht. Die Angreifer*innen versuchen, eine der Personen zu schlagen. Sie kann dem Angriff ausweichen. Wir zitieren an dieser Stelle aus einem Beitrag von Sina Schindler, der auf der Internetseite von korientation e.V. veröffentlicht wurde und den Titel trägt: „Asiatische Menschen in Deutschland: Wenn selbst der Rassismus ‚unsichtbar‘ bleibt …“:
„Die Dunkelziffer rassistischer Übergriffe auf asiatisch gelesene Personen ist auf ein Vielfaches höher einzuschätzen. Darauf lassen die zahlreichen Erfahrungen und Zeug*innenberichte schließen, die Betroffene bisher in privaten Accounts in den Sozialen Netzwerken, der Presse und unter dem Hashtag #ichbinkeinvirus geteilt haben. Dazu kommen die Erlebnisse all derjenigen, die sich dazu entschieden haben, mit diesen individuellen und oft schamvollen Erfahrungen nicht nach außen zu treten oder die keinen Zugang zu Hilfs- und Dokumentationsstrukturen haben.“

Wenn wir auf das Jahr 2020 zurückschauen, blicken wir jedoch nicht nur auf eine besorgniserregende Angriffssituation in Berlin. Als Antwort auf die antimuslimischen Morde in Hanau fordert ReachOut für Berlin eine Enquête-Kommission gegen Rassismus, in der Handlungsstrategien im Abgeordnetenhaus, gemeinsam mit Expert*innen aus den Communitys, ihren Projekten und Vereinen entwickelt werden. Außerdem fordern wir ein Ende von öffentlichkeitswirksamen Razzien gegen Shisha-Bars. Diese werden von den Täter*innen als Hinweisreize verstanden. Auch das hat Hanau gelehrt. Es muss endlich eine langfristige Auseinandersetzung mit sinnvollen, dauerhaften Handlungsstrategien auf parlamentarischer Ebene geben, die jede Form von Rassismus auf allen Ebenen berücksichtigt. Insbesondere sollte der institutionelle Rassismus dabei in den Blick genommen werden.
Der Mord an George Floyd am 25. Mai des vergangenen Jahres hat auch in Berlin vielfältige Proteste, die häufig auch von der Black Lives Matter Bewegung getragen wurden, ausgelöst. Seitdem haben wir den Eindruck, dass die Sensibilität gegenüber rassistisch motivierter Polizeigewalt und Racial Profiling insgesamt größer geworden ist. Und zwar sowohl auf Seiten der Betroffenen, die sich bei uns melden, als auch bei Zeug*innen, die sich einmischen und ihre Informationen an uns oder an die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) weitergeben, und in den Medien.
Schließlich noch ein Blick in unsere Beratungsstatistik: ReachOut hat 2020 278 Ratsuchende unterstützt (48 mehr als 2019) unterstützt mit insgesamt 1.300 Unterstützungsleistungen – vom ersten Beratungsgespräch bis zur Begleitung zu Gericht und Polizei. Die meisten Ratsuchenden kommen aufgrund von rassistisch motivierten Angriffen zu uns.
Unter denjenigen, die unsere Beratung in Anspruch genommen haben, befinden sich auch 44 Ratsuchende, die aufgrund von rassistischer Polizeigewalt und Racial Profiling zu uns kamen.

 

Nachtrag:

Zahlen! Zahlen?

Zur Differenz der Angriffszahlen in der Statistik und in der berlinweiten Chronik von ReachOut

ReachOut veröffentlicht jährlich im März die recherchierten Angriffszahlen zu rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten und Bedrohungen in Berlin. Nicht gezählt werden beispielsweise Propagandadelikte, Beleidigungen, Diskriminierungen und Sachbeschädigungen, wenn keine Personen dabei gefährdet oder direkt bedroht sind.
Um einen Vergleich unserer statistischen Auswertungen mit zurückliegenden Jahren zu ermöglichen, geben die Angriffszahlen jeweils den Stand am 1. März des aktuellen Jahres wieder. Meldungen und Informationen, die wir nach diesem Stichtag erhalten, werden im Rahmen unserer statistischen Auswertung nicht berücksichtigt.
In unserer berlinweiten Chronik werden jedoch auch Meldungen, die wir nach dem 1. März erhalten, aufgenommen. So kann es zu Differenzen kommen zwischen unserer statistischen Auswertung und der Anzahl der Angriffe, die in der Chronik dokumentiert sind. Differenzen zu den Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden ergeben sich durch unterschiedliche Einschätzungen der Tatmotive. Für die Frage, ob ein Angriff rechts, rassistisch oder antisemitisch motiviert ist, stehen bei ReachOut die Perspektiven und Einschätzungen der Betroffenen im Vordergrund. Außerdem erfährt ReachOut von Fällen, die nicht angezeigt werden.

 

 


ReachOut ist eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin. Wir unterstützen und beraten auch Angehörige, Freund*innen der Opfer und Zeug*innen eines Angriffs. Die Situation und die Perspektive der Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt stehen im Zentrum der Arbeit. ReachOut bietet antirassistische, interkulturelle Bildungsprogramme an. ReachOut recherchiert rechtsextreme, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik.

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