Die Muslimbruderschaft als politische Herausforderung in Berlin

Der politische Islam und die Muslimbruderschaft sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteur:innen gerückt. Aufgrund ihres Einflusses, ihrer Strategien im „Westen“ und ihrer geschickten Lobbyarbeit ist die Muslimbruderschaft längst nicht mehr nur ein Thema für staatliche Sicherheitsbehörden. Während sich ihre Protagonist:innen in dem einen Kontext als Alternative zu ISIS und Al-Qaida und als „die Freunde der Juden“ inszenieren, rufen ihre Brüder und Schwestern in anderen Kontexten zum Kampf gegen „die Juden“, „die Zionisten“, „die Homos“, „die Unmoral“ und „das Unislamische“ auf und halten gemeinsame Konferenzen mit salafistisch-dschihadistischen Organisationen im Nahen Osten und Nordafrika (MENA-Region) ab. Das klingt widersprüchlich... Und was hat das mit Berlin zu tun?

 

Kontextualisierung

Die Muslimbruderschaft gilt als die einflussreichste sunnitisch-islamistische Bewegung weltweit. Sie blickt auf eine fast einhundertjährige Geschichte zurück, die in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten von Erfolg, Einfluss, unterschiedlichen Strategien geprägt war und die mit ihrer Zielsetzung, die bestehende Gesellschaftsordnung zu überwinden, Repression von Seiten der jeweiligen Herrschaftsregime erfuhr. In einigen Ländern lag der Schwerpunkt – zumindest zeitweise – auf religiöser Bekehrung, Erziehung und der langsamen Gestaltung einer islamischen Weltordnung. In anderen Kontexten wurde zu den Waffen gegriffen, um „Widerstand“ gegen diejenigen zu leisten, die sich nicht der islamischen Herrschaft auf „islamischem Boden“ unterwerfen wollten. Am bekanntesten sind wohl die Gründungsorganisation, die ägyptische Muslimbruderschaft, und einer der „Arme der Muslimbruderschaft in Palästina“, die sogenannte „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas). Während die eine es geschafft hat, durch Wahlen im Zuge des Arabischen Frühlings temporär die Macht zu übernehmen, hat die andere bereits die quasistaatliche Möglichkeit, ihre islamische Gesellschaftsordnung weiter zu etablieren, und verteidigt sie mit öffentlichen Züchtigungen, Hinrichtungen und Waffengewalt sowie nach außen mit Raketen und Selbstmordattentaten und der Ermordung möglichst vieler jüdischer Zivilist:innen.

Die fast hundertjährige Geschichte der Unterdrückung hat die Muslimbruderschaft vielerorts zu einer klandestinen Organisation werden lassen, die über einen großen Gestaltungsspielraum bei der Ausbreitung des Islams im jeweiligen nationalen Kontext verfügt. Aussteiger und Analysten berichten von einer hierarchischen Struktur, die selbst in westlichen Ländern in kleinen Organisationszellen operiert. Ein jahrelanger Aufnahmeprozess für Mitglieder prägt die Kernorganisation als klandestine, elitäre Organisation. Organisationszusammenhänge finden sich in westlichen Ländern häufig – trotz eines gesamtislamischen Anspruchs – entlang der nationalen Herkunftslinien derjenigen, die vor mehreren Jahrzehnten als politisch Verfolgte oder Student:innen nach Europa kamen. Vielerorts ist das Organisationsmodell an die ägyptische Muslimbruderschaft angelehnt, mit Männer-, Frauen- und Jugendorganisationen, Führungskreisen und regionalen Zusammenschlüssen, sogenannten „Usra“-Zellen („usra“ steht auf Arabisch für Familie). Trotz ihrer relativ kleinen Kerngruppe ist es der Muslimbruderschaft und ihr nahestehenden Organisationen in den letzten Jahrzehnten häufig gelungen, den Islam politisch-organisiert in „westlichen Staaten“ zu repräsentieren. Organisationen, die mit der Muslimbruderschaft verbunden sind, mit ihr sympathisieren oder Kontakte zu ihr pflegen, haben nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch auf den höchsten politischen Entscheidungsebenen, bis hin zu den Staatsoberhäuptern Einfluss.
Die ersten exilierten Muslimbrüder und -schwestern kamen vor Jahrzehnten vor allem aus Ägypten und Syrien und gründeten im Laufe der Jahre Zentren und Moscheen in München, Aachen, Frankfurt oder Berlin. Die Verbindungen zwischen den Strukturen und den „Herkunftsländern“ sind zum Teil bis heute so eng, dass beispielsweise nach dem Sieg Mursis führende Vertreter aus Deutschland in hohe Positionen nach Ägypten rekrutiert wurden.

Die Berliner Straße

Nach dem Militärputsch in Ägypten im Jahr 2013 fanden auch in Deutschland Demonstrationen der Muslimbrüder zur Unterstützung ihrer Brüder und Schwestern in Ägypten statt. Massenmobilisierungen finden auch weiterhin rund um die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und um Jerusalem („al Quds“ auf Arabisch) im Allgemeinen statt, was die Muslimbruderschaft und die Hamas zu einem ihrer Kernthemen gemacht haben. Viele der Demonstrationen gegen Israel, die weltweit und auch in Europa stattgefunden haben, wurden von Aktivist:innen koordiniert und organisiert, die der Muslimbruderschaft und der Hamas nahestehen. So ist es nicht verwunderlich, dass in der Vergangenheit regelmäßig Vertreter verschiedener Berliner Moschee- und Kulturvereine unterschiedlicher nationaler Herkunft als Redner bei solchen Straßenprotesten auftraten.

Die Themen und der Fototermin

In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass einige Vereine und Moscheen, die historisch eine Nähe zur Muslimbruderschaft pflegten, sich von diesem öffentlichen Schmuddelimage lösen wollen. Die öffentliche Verteidigung des Kampfes gegen Israel, die Unterstützung der Hamas und anderer Terrororganisationen, die Gründung deutscher Fatwa-Räte zur islamischen Rechtsauslegung und die Einladung von Führungskadern aus der MENA-Region, die sich offen als Mitglieder der Muslimbruderschaft zu erkennen geben, sind teilweise durch eine neue Umarmungstaktik ergänzt worden, insbesondere die Umarmung von Juden:Jüdinnen. Ein gemeinsamer Fototermin mit dem regierenden Bürgermeister, einer Ministerin oder – noch besser – der Bundeskanzlerin ist bei Veranstaltungen zum interkulturellen Dialog oder gegen den Terror leichter zu haben.
Die Kundgebungen unter dem Motto „Muslime gegen Terror“ und das paternalistische Bedürfnis vieler Politiker:innen, irgendwelche muslimischen Partner:innen zu finden, führten zu einigen hochkarätigen Fototerminen.
In der Vergangenheit kam es vermehrt zu rechtlichen Klagen gegen Pressevertreter:innen sowie gegen die Überwachung durch den staatlichen Verfassungsschutz. Ein zentrales Argument in öffentlichen Auseinandersetzungen ist das Bestreiten jeglicher Nähe zur Muslimbruderschaft, die Betonung des interkulturellen Dialogs, die staatliche Förderung interkultureller- und von Integrationsprojekten und das Eintreten gegen islamistische Massaker, die in Europa stattfanden. Die Auseinandersetzungen um andere, auch
von muslimbrüdernahen Strukturen besetzte Themen wie um den Begriff und Kampf gegen „Islamophobie“, aber auch Geflüchtetenhilfe und humanitäre Hilfe für Krisen- und Kriegsgebiete werden wohl noch über Jahre hinweg anhalten. Gleiches gilt für die seit einigen Jahren zu beobachtende zunehmende Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat, einschließlich seiner religiösen Strukturen im In- und Ausland.
Die Frage ist also abschließend nicht, was das alles mit Berlin zu tun hat, sondern was wir tun können, damit die Strukturen, die die Diskriminierung von nationalen, religiösen, LGBTIQ*- und anderen Gruppen von Menschen in der MENA-Region und auch in Europa vorantreiben, nicht den schönen Fototermin auf der Bühne vor dem Brandenburger Tor in Berlin bekommen und für ihre politische Arbeit vom Staat bezahlt werden.

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Verwendete Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung – Rita Breuer: Die Muslimbruderschaft in Deutschland,
http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/290422/die-muslimbruderschaft-in-deutschland

The Global Muslim Brotherhood Daily Watch
http://www.globalmbwatch.com/

Vidino, L: The Closed Circle: Joining and Leaving the Muslim Brotherhood in the West (Columbia Studies in
Terrorism and Irregular Warfare), 2020

Vidino, L: New Muslim Brotherhood in the West (Columbia Studies in Terrorism and Irregular Warfare), 2010

Meijer, R: Muslim Brotherhood in Europe, 2012

Küntzel, Matthias: Jihad and Jew-Hatred: Islamism, Nazism and the Roots of 9/11, 2013

Meining, Stefan: Eine Moschee in Deutschland: Nazis, Geheimdienste und der Aufstieg des politischen Islam im Westen, 2011

Autorinnen- und Projektprofil:

Kim Robin Stoller ist Vorsitzende des Internationalen Instituts für Bildungs-, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA). Sie studierte Gender Studies und Europäische Ethnologie in Berlin. Sie
forscht zu Antisemitismus, Islamismus, Nationalismus, Holocaust-Erinnerung und Akteur:innen sowie Strategien gegen Antisemitismus. Aktuell arbeitet sie an einem Buch zu Antisemitismus und Akteur:innen gegen Antisemitismus in Marokko. Das Internationale Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) forscht und berät zu aktuellem Antisemitismus, Islamismus und Rechtsextremismus mit internationaler Perspektive. Es fördert den wissenschaftlichen und praxisorientierten Austausch und entwickelt Konzepte und Programme. Das Institut ist in verschiedenen Ländern zur Forschung und Antisemitismusbekämpfung aktiv und unterstützt Netzwerke zwischen Akademiker:innen, Bildungsträger:innen, NGOs und Multiplikator:innen.

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