Zustände in den Sicherheitsbehörden (Vorwort „Berliner Zustände 2018“)

Betroffene einer Anschlagsserie mit eindeutig rechtem Motiv und Hinterbliebene des Opfers eines Mordes, bei dem ein rechtes Motiv nahe liegend ist, sind alarmiert. Sie bemängeln seit Jahren, dass die Taten unaufgeklärt bleiben, dass Tatverdächtige nicht dingfest gemacht und ausgespähte Personen nicht im Vorhinein gewarnt werden. Durch die Medien wird aufgedeckt, dass tatsächlich Hinweise des Verfassungsschutzes auf eine konkrete Ausspähung verspätet weitergeleitet werden und von Seiten der Polizei nicht umgehend zu Präventionsmaßnahmen gegriffen wird.

 
Demonstration am 21. Mai 2017 in Köln anlässlich des Tribunals „NSU Komplex auflösen“ © Kilian Behrens / apabiz

Es handelt sich um ein aktuelles Geschehen in Berlin, eine Anschlagsserie in Neukölln seit 2016 und den mittlerweile seit sieben Jahren unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş sowie den Mordversuch an zweien seiner Freunde.

Die Parallelen zum NSU-Komplex liegen auf der Hand. Es ist inzwischen durch vielzählige Äußerungen der Hinterbliebenen der Mordopfer und der Betroffenen der Sprengstoffanschläge des NSU, die Beweisaufnahme im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München und die Arbeit von mehreren Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern klar geworden, dass Morde und Anschläge des NSU hätten verhindert werden können. Wären alle vorliegenden Erkenntnisse zwischen Verfassungsschutzbehörden und Polizeibehörden ausgetauscht worden und hätten die Polizeibehörden die Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden und die Hinweise von Hinterbliebenen ernst genommen, hätte das Netzwerk des NSU nicht über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt aus der Illegalität heraus systematisch Morde planen und begehen können.

Auch für Berlin wäre es dringend notwendig gewesen, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Denn im NSU-Komplex gibt es auch etliche Spuren nach Berlin und Hinweise auf Fehlverhalten in den dortigen „Sicherheitsbehörden“, Polizei und Verfassungsschutz.

Den Aufklärungsbemühungen seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 zum Trotz gibt es weiterhin kein klares Bild, das erklärt, warum Verfassungsschutz- und Polizei-Behörden entweder nichts von der Existenz und den Planungen des NSU wussten oder trotz ihrer möglichen Kenntnis nichts taten. Weiterhin leben Betroffene und Hinterbliebene mit der Frage, was die Ursachen waren: Struktureller Rassismus, heimliche Sympathie oder sogar aktive Unterstützung?

Von Seiten der Sicherheitsbehörden wurde bald nach der Selbstenttarnung des NSU versucht zu erklären, dass es sich um einzelne Fehlleistungen von einzelnen Beamten und unbeabsichtigte Versäumnisse gehandelt habe. Die Betroffenen blieben misstrauisch und Gründe für das Misstrauen kamen im Rahmen der Aufklärungsbemühungen immer wieder ans Licht. Heute, acht Jahre später, ist offensichtlich, dass institutioneller Rassismus in den Behörden und Verstrickungen von staatlichen Behörden und V-Personen aus den Nazi-Strukturen („Collusion“) die Taten mit möglich gemacht haben.

Grund zum Misstrauen gegenüber Sicherheitsbehörden haben auch die Betroffenen in Berlin. Und zwar nicht nur Gründe, die sich aus bundesweiter Presseberichterstattung ergeben, unter anderem zur Serie von Drohbriefen, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet an die NSU-Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız geschickt wurden und ganz offenbar auf ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei zurückgehen, und zum „Uniter“-Netzwerk, in dem Bundeswehrsoldaten und SEK-Polizist*innen Pläne für einen Putsch an einem so genannten „Tag X“ geschmiedet haben. Sondern die Betroffenen in Berlin haben Grund, konkret den Zuständen der Sicherheitsbehörden in Berlin zu misstrauen. Innerhalb weniger Monate kam ans Licht, dass innerhalb der Berliner Polizei ein Beamter andere Beamt*innen, unter anderem seinen Vorgesetzten, mit Nazi-Formeln grüßt, ohne dass dieser unmittelbar Disziplinarmaßnahmen einleitet, und dass ein anderer Polizeibeamter dienstliche Kenntnisse nutzt, als er einen Drohbrief an Personen schreibt, die er der linken Szene zurechnet. In diesem Drohbrief fanden sich Informationen, die der inzwischen verurteilte Täter nicht bereits zur Zeit seiner Tätigkeit für die Abteilung „Staatsschutz“ der Berliner Polizei erlangt haben konnte, die aber wegen ihrer Detailliertheit daher stammen mussten.

Weiter wurde öffentlich, dass der Verfassungsschutz Berlin zwei Wochen vor dem Anschlag auf das direkt vor dem Wohnhaus seiner Eltern geparkte Fahrzeug des Linken-Kommunalpolitikers Ferat Kocak diesbezügliche Planungen mitgehört, allerdings erst am Tag vor dem Anschlag der Polizei einen Hinweis dazu gegeben hatte. Und dann kam durch journalistische Recherche noch heraus, dass kurz nach dem Anschlag auf Ferat Kocaks Auto Beamte des Verfassungsschutzes, die einen der beiden Verdächtigen im Fall der Brandanschläge observierten, mitteilten, dass sie gesehen hätten, wie dieser sich in einer rechten Szene-Kneipe mit mehreren Personen traf – unter anderem einem Observations-Beamten des LKA. Und dass er mit diesem Polizisten in dessen Auto wegfuhr.

Die Berliner Sicherheitsbehörden behaupten – wie die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern es bis heute in Bezug auf den NSU-Komplex tun –, dass es sich um einzelne Verfehlungen von einzelnen Beamten und um unbeabsichtigte Versäumnisse handelte. Die Betroffenen fordern inzwischen die Abgabe der Ermittlungen zur Anschlagsserie in Neukölln an den Generalbundesanwalt und einen Untersuchungsausschuss.

Die Erfahrungen aus dem NSU-Komplex zeigen, dass alleiniges Vertrauen auf die Arbeit von Justiz und Politik unangebracht ist. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum NSU haben nur da Erkenntnisse erbracht, wo sie ohne Rücksicht auf frühere politisch Verantwortliche und mit allen Mitteln gegen die Abschottungsbemühungen der Sicherheitsbehörden agierten. Die Empfehlungen der Untersuchungsausschüsse wurden oftmals nur oberflächlich umgesetzt, teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt, indem zum Beispiel dem Bundesamt für Verfassungsschutz weitere Kompetenzen übertragen wurden. Die Justiz handelte ebenfalls oft erst auf Anträge und Anzeigen von Seiten von Betroffenen-Vertreter*innen hin und stellte sich deren Aufklärungsbemühungen oft sogar entgegen.

Für den Fall Neukölln gilt es Schlussfolgerungen aus dem NSU-Komplex zu ziehen: Um retrospektiv aufzudecken, welche staatlichen Strukturen Nazi-Strukturen stärken und deren Taten ermöglichen, und um präventiv solche Strukturen aufzulösen, braucht es Unterstützung aus der Zivilgesellschaft wie beispielweise den Projekten und Initiativen, die auf den folgenden Seiten ihre Sicht der Dinge und ihre Analysen zu den Missständen dieser „Berliner Zustände 2018“ darstellen und Perspektiven daraus ableiten. Auch um juristische Arbeit machen und auf diesem Wege zur Aufklärung beitragen zu können, brauchen wir diese unabhängige Öffentlichkeit. Denn nur wenn der öffentliche Diskurs drängt, nur durch antifaschistisches und antirassistisches Engagement, Recherchen und journalistische Arbeit kann es gelingen, dass sich nicht wiederholt, was den NSU-Komplex auszeichnet: Unbehelligtes Agieren von Nazi-Strukturen, unterlassene Aufklärung und unterlassene Verhinderung durch die Sicherheitsbehörden, Zurückweisung der Verantwortung von Seiten des Staates, Ignoranz gegenüber dem Wissen der Betroffenen von Nazi-Gewalt und institutionellem Rassismus als Hauptzeug*innen des Geschehenen und Geschehenden. Nur mit einem gemeinsamen und einem sich aufeinander beziehenden Engagement auf den verschiedenen Ebenen kann dem wirkungsvoll etwas entgegen gesetzt werden.

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