Bis wohin und nicht weiter? – Zum behördlichen Umgang mit extrem rechten Demonstrationen

Die neonazistische Szene Berlins war in den vergangenen Jahren nur mäßig bei Straßenprotesten aktiv. Viele der altbekannten ProtagonistInnen zeigten sich nur selten oder gar nicht mehr. Mit dem „Rudolf-Heß-Marsch“ könnte sich nun eine jährliche Neonazi-Großveranstaltung etablieren – von zentraler Bedeutung für die regionale sowie die überregionale Szene. Allein dass dieser Aufmarsch bereits zweimal stattfinden konnte, können die Neonazis als Erfolg verbuchen, war er doch durch das „Wunsiedel-Urteil“ viele Jahre wegen NS-Verherrlichung verboten. Warum die Aufmärsche in Berlin doch stattfinden können, sorgt für Diskussionen und bei vielen für Unverständnis. Gleiches gilt für die Informationspolitik der Behörden, die antifaschistische Gegenproteste untergräbt und Menschen in Gefahr bringt.

 
Kommunikationsguerilla: Mit offiziell wirkenden Plakaten soll Druck auf den rot-rot-grünen Senat ausgeübt werden, einen möglichen „Rudolf-Heß-Marsch“ 2019 zu verbieten. Foto: © Frank Metzger / apabiz

In Berlin gab es in jüngster Zeit zwei Versuche des Innensenats, extrem rechte Demonstrationen zu verbieten – den neonazistischen „Rudolf-Heß-Marsch“ am 19. August 2017 sowie einen „Trauermarsch“ am 9. November 2018, organisiert von der extrem rechten Organisation „Wir für Deutschland“. Beide Versuche scheiterten.

Ob gegen neonazistische und andere extrem rechte Demonstrationen juristisch vorgegangen und ein Verbot als weitestgehendes Mittel angewandt werden soll, ist ein zu Recht umkämpfter Streitpunkt. Dieser wird nicht nur auf juristischer Ebene ausgefochten, sondern ist auch Gegenstand politischer und moralischer Auseinandersetzungen. Im Fokus stehen dabei folgende Kontroversen: Was soll und muss im Sinne der grundgesetzlich verbrieften Meinungsfreiheit im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft toleriert und hingenommen bzw. „ausgehalten“ werden? Wo sind Grenzen des Tolerierbaren erreicht? Wann kann und sollte rechtsstaatlich mit einem Verbot oder zumindest mit Einschränkungen durch verbindliche Auflagen eingegriffen werden?

Die Meinungsfreiheit sowie die Demonstrationsfreiheit stehen als im Grundgesetz festgeschriebene Grundrechte unter besonderem verfassungsrechtlichen Schutz. Beide haben jedoch den Zusatz einer unter bestimmten Voraussetzungen möglichen Einschränkung. Die Meinungsfreiheit findet laut Art. 5 Abs. 2 GG ihre Grenzen bei den „Vorschriften der allgemeinen [Anm.: für alle geltenden] Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Bezogen auf die Demonstrationsfreiheit heißt es in Art. 8 Abs. 2 GG dazu: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“

Nicht selten geht es in der Auseinandersetzung um Verbote extrem rechter Demonstrationen, bei denen der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt werden könnte, da die Gefahr droht, dass der Nationalsozialismus und NS-Akteure glorifiziert, deren Verbrechen relativiert und die Opfer verunglimpft werden. Für derartige Fälle wurde zum 1. April 2005 im Strafgesetzbuch der § 130 Abs. 4 StGB ergänzt:
„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“

Mit Verweis auf diesen Passus, der als „Sondergesetz gegen Nazis“ kontrovers diskutiert und kritisiert wurde, bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 4. November 2009 ein bereits 2005 von der Stadt Wunsiedel verhängtes und in mehreren Instanzen verhandeltes Verbot des „Rudolf-Heß-Marsches“ in dessen Begräbnisort. Das sogenannte „Wunsiedel-Urteil“ besagt, dass der jahrelang durchgeführte Heß-Marsch nicht allein als letztlich zu erduldende Huldigung einer NS-Persönlichkeit, sondern durchaus als NS-Verherrlichung zu werten sei. Das BVerfG verwies darauf, dass Heß als Stellvertreter Hitlers und Mitverantwortlicher sowie Unterzeichner der „Rassegesetze“ einer der Hauptprotagonisten des NS-Regimes war und bekräftigte das Verbot auch für die folgenden Jahre. Das Gericht bewertete es als unumgänglich, dass die Huldigung von Rudolf Heß § 130 Abs. 4 StGB erfülle und die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ damit gefährdet sei. Es betonte die Einschränkung der Meinungsfreiheit unter diesen besonderen Umständen als gerechtfertigt, da das Grundgesetz (GG) sowie die Bundesrepublik Deutschland als Reaktion und Gegenentwurf zum Nationalsozialismus zu werten seien.

Steilvorlage ins Leere

Am 18. August 2018 fand zum zweiten Mal in Folge anlässlich des Todestages von Rudolf Heß der neonazistische Aufmarsch „Mord verjährt nicht! Gebt die Akten frei! Recht statt Rache!“ in Berlin statt. Dass im Gegensatz zu 2017 nicht einmal der Versuch unternommen wurde, die auf der Hand liegende NS-Verherrlichung juristisch zu verhindern, ist vermutlich der Befürchtung von Innensenator Andreas Geisel (SPD) geschuldet, ein zweites Mal zu scheitern. In 2017 hatte er sich zwar deutlich gegen den Neonazi-Aufmarsch ausgesprochen und betont, dass ihm ein Verbot „sehr sympathisch gewesen“ wäre. Seine Behörde hätte dies jedoch „sehr sorgfältig geprüft und festgestellt, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung leider auch für Arschlöcher gilt“. Letztlich konnten etwa 1.200 Neonazis durch Spandau marschieren und etwa 250 aufgrund blockierter Anreisewege spontan durch Falkensee. Im August 2018 waren es etwa 700 Neonazis in Friedrichshain und Lichtenberg.

Im Aufruf hatten die Neonazis die offene Huldigung sowie das Gedenken an Rudolf Heß strikt vermieden. Vielmehr wurde die Forderung nach einer erneuten Untersuchung der Todesumstände und die Freigabe von bis zum Sommer 2017 in Großbritannien unter Verschluss gehaltenen Akten thematisiert. In den rechtlichen Hinweisen der Veranstalter an die Teilnehmenden wurde das mit Verweis auf die Auflagen auch von diesen eingefordert:

„Im Fließtext zu dieser Auflage wird noch einmal auf den Paragraphen 130, Absatz 4 Bezug genommen. Die Berliner Polizei unterstreicht dabei, dass ‚jedwede Thematisierung von Rudolf Heß in verherrlichender Weise‘ ‚diesen Tatbestand‘ erfüllen würde. Explizit genannt werden Bezeichnungen wie ‚Friedensflieger‘ und ‚Märtyrer des Friedens‘. Die Liedzeile ‚Sein Glaube war stärker als Kerker und Schmerzen‘ [Anm.: Zitat aus dem Song „Rudolf Heß“ der als kriminelle Vereinigung verbotenen Neonazi-Band Landser] sei wie die Bezeichnung ‚Friedensflieger‘ eine Glorifizierung und Mythologisierung von Rudolf Heß und wäre daher als strafbar anzusehen.“

Das gewählte Motto „Mord verjährt nicht! Gebt die Akten frei! Recht statt Rache!“ machte klar, dass die nach offiziellen Erkenntnissen unzweifelhafte Selbsttötung Heß’ von Neonazis weiterhin als Mord verklärt wird und damit sein Märtyrer-Status aufrechterhalten werden soll. Das allein ist jedoch kein Straftatbestand. Auf eine Kleine Anfrage der Partei Die Linke im Abgeordnetenhaus hatte der Innensenat am 6. September 2017 geantwortet, dass die „hohen Voraussetzungen für ein Verbot des Aufzugs“ auch unter Berücksichtigung des „Wunsiedel-Urteils“ nicht vorgelegen hätten (Drucksache 18/12133). Dies wurde am 7. September 2018 in einer Antwort auf eine weitere Kleine Anfrage noch einmal bestätigt. Die Prüfung im Vorjahr hätte ergeben, dass es „um den Teilaspekt der Todesumstände von Heß und der Forderung nach deren Aufklärung“ gehe und dies „nicht inkriminiert“ sei. Es wurde auf die Auflagen der Innenverwaltung und deren zentralen Passus verwiesen: „Jede Verherrlichung von Rudolf Heß in Wort, Schrift und Bild wird untersagt.“ Die Taktik der Neonazis war aufgegangen und eine Demonstration für Rudolf Heß damit offiziell abgesegnet.

Das dort gezeigte Zitat „Ich bereue nichts“ mit dem Zusatz „Nationale Sozialisten Berlin“ sei zweifelsohne Rudolf Heß zuzuordnen. Mit diesen Worten hatte Heß bei der Urteilsverkündung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse seine Uneinsichtigkeit sowie bedingungslose Überzeugung vom NS und Treue zu Hitler manifestiert. Die Tragenden hätten sich laut Richwin die Aussage und Positionierung zu eigen gemacht, sich buchstäblich „hinter die Aussage gestellt“.

Genau gegen die zentrale Auflage ist nach Einschätzung von Versammlungsrechtler*innen wie dem Berliner Anwalt Sven Richwin jedoch 2017 wie auch 2018 bereits mit Entrollen des Fronttransparents verstoßen worden. Das dort gezeigte Zitat „Ich bereue nichts“ mit dem Zusatz „Nationale Sozialisten Berlin“ sei zweifelsohne Rudolf Heß zuzuordnen. Mit diesen Worten hatte Heß bei der Urteilsverkündung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse seine Uneinsichtigkeit sowie bedingungslose Überzeugung vom NS und Treue zu Hitler manifestiert. Die Tragenden hätten sich laut Richwin die Aussage und Positionierung zu eigen gemacht, sich buchstäblich „hinter die Aussage gestellt“. Mit dem Transparent sei somit nicht nur gegen die Auflagen verstoßen worden, sondern auch der Straftatbestand nach § 130 Abs. 4 StGB eindeutig erfüllt gewesen, da kein Raum für eine anderweitige Interpretationsmöglichkeit verbleibe. Der Aufmarsch hätte demnach gleich zu Beginn von der Polizei beendet oder zumindest das Transparent einkassiert werden müssen. Doch die Polizei ließ gewähren und erklärte im Nachgang, dass das Justiziarat eingehend geprüft, aber „aufgrund der Mehrdeutigkeit der Äußerung […] in diesem wie auch letztem Jahr keinen Verstoß gegen § 130 Abs. 4 StGB und die versammlungsrechtliche Auflage erkannt“ habe (Drucksache 18/16119). Diese fatale Einschätzung diente den Neonazis als Freifahrtschein.

Hinzu kommt, dass auch weitere Heß-Glorifizierungen nicht beanstandet wurden. So wurde 2017 vom Lautsprecherwagen das Lied „Deine Asche, dein Grab“ der neonazistischen Band Stahlgewitter abgespielt, indem es unter anderem heißt:
„Angst vor einem Toten, der im Grabe liegt. Vor seinem Geist, bis heute unbesiegt. Vor der Asche, den Knochen, vor einem Greis. Kerker und Mord waren der Preis. Sie dachten, wenn keiner mehr dein Grabmal kennt, auch keiner mehr deinen Namen nennt. Dein Heldengrab ist überall. Ganz Deutschland ist dein Ehrenmal“. Auch wenn sein Name nicht genannt wird, ist der Song-Text doch zweifelsohne auf Rudolf Heß gemünzt. Ähnlich verhielt es sich bei der Auftaktkundgebung 2018. Vom Lautsprecherwagen wurde eine Instrumentalversion des in den Auflagen erwähnten Songs „Rudolf Heß“ der als kriminelle Vereinigung verbotenen Band Landser abgespielt. Dass die Polizei das Transparent nicht als klaren Verstoß wertete und darin sowie bei den Songs keinen Anlass zur Intervention sah, stieß auf viel Kritik und Unverständnis. Die Kritik richtete sich auch an Innensenator Geisel, der 2018 trotz dieser Erfahrungen nicht noch einmal ein Verbot prüfen ließ und lediglich auf die Ergebnisse der Prüfung aus dem Vorjahr verwies. Verwunderlich ist auch, dass trotz eines in den Auflagen verhängten Uniformierungsverbots keinerlei Widerspruch darin gesehen wurde, dass die Neonazis zu „einheitlicher weißer Oberbekleidung“ aufriefen und der Aufmarsch somit im Stile der SA abgehalten werden konnte.

Uniformierung? Neonazis beim „Rudolf-Heß-Marsch“ 2018 in Berlin. Foto: © apabiz

Ein Schlag ins Wasser

Möglicherweise in Reaktion auf die Kritik versuchte Geisel zu einem anderen Anlass ein Machtwort zu sprechen. Für den 9. November 2018, dem 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, hatte die extrem rechte Organisation „Wir für Deutschland“ (WfD) eine Demonstration unter dem Motto „Trauermarsch für die Toten von Politik“ angemeldet, um angeblich den „Opfern an den Grenzen der ehemaligen DDR“ zu gedenken (Drucksache 18/17137). Vermutlich auch aufgrund des öffentlichen Drucks hatte Geisel ein Verbot ausgesprochen. Eine breit angelegte zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu Gegenprotesten ließ bereits im Vorfeld erahnen, dass viele Tausend Menschen auf die Straße gehen würden. Vertreter*innen jüdischer Organisationen hatten an Geisel persönlich appelliert, die Provokation zu unterbinden. Im Verbot wurde mit Verweis auf diese historische Bedeutung des Datums sowie die Erfahrungen mit der vom selben Anmelder organisierten Demonstrationsreihe „Merkel muss weg“ bzw. „Nein zur GroKo“ argumentiert, dass sich abermals die „Teilnehmenden vornehmlich aus der rechtsextremistischen Szene rekrutieren“ würden, von denen in der Vergangenheit bereits eine „Vielzahl szenetypischer Straftatbegehungen […] insbesondere Verstöße […] gegen § 86a StGB [Anm.: Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen]“ begangen worden seien.
Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Vertreter*innen und Versammlungsrechtler*innen zweifelten von Anbeginn an der Stand festigkeit dieses Verbots und äußerten teils Kritik an der willkürlichen Formulierung. Es überraschte daher kaum, dass das Verbot gerichtlich gekippt wurde und der „Trauermarsch“ stattfinden konnte, der dennoch ein großer Reinfall für die extremen Rechten wurde. Gekommen waren nur etwa 140 mehrheitlich männliche Teilnehmende, die schweigend und Grablichter tragend vom Hauptbahnhof zum Gedenkort für die Maueropfer am Brandenburger Tor liefen. Begleitet wurden sie von massiven Gegenprotesten sowie einem großen Presseaufgebot.

Gegenproteste ausgebremst

Im Kontrast zu diesem zurückhaltenden bis zuvorkommenden Vorgehen der Behörden gegenüber Neonazis steht deren teilweiser Umgang mit antifaschistischen Gegenprotesten. 2017 war es noch gelungen, große Gegenproteste zu organisieren und mit Blockaden für eine verkürzende Routenänderung des „Rudolf-Heß-Marsches“ in Spandau zu sorgen. Im Folgejahr hingegen konnten die Neonazis nahezu problemlos durch Friedrichshain und Lichtenberg laufen. Dies gelang einerseits aufgrund einer Taktik der Neonazis, andererseits aber auch aufgrund der zu kritisierenden polizeilichen Informationspolitik. Erst wenige Tage vor dem Aufmarsch wurde zufällig bekannt, dass neben der Route in Spandau eine weitere Anmeldung unter leicht anderem Motto für Lichtenberg und Friedrichshain vorlag. Anwohner*innen hatten polizeiliche Warnzettel wahrgenommen, dass in „Berlin-Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Lichtenberg mehrere Versammlungen“ stattfinden würden und mit „Beeinträchtigungen und verkehrsbedingten Einschränkungen zu rechnen“ sei. Dass damit der „Heß-Marsch“ gemeint war, wurde erst durch journalistische Nachfrage bekannt. Offenkundig verfolgt die Polizei bisweilen primär das Interesse, die eigene Arbeitsbelastung gering zu halten und Neonazi-Aufmärsche möglichst störungsfrei abzuwickeln. Das hat zweierlei Konsequenzen: Indem den Neonazis auf diese Weise ihre Demonstrationsfreiheit ermöglicht wird, wird gleichzeitig in Kauf genommen oder sich gar bewusst entschieden, den Gegenprotestierenden genau dieses Grundrecht zu untergraben oder schlichtweg unmöglich zu machen. Erschwerend kommt hinzu, dass durch diese Desinformation Personen, die ins Feindbild-Schema der Neonazis passen, Gefahr laufen, unvorbereitet mit gewalttätigen Neonazis konfrontiert und einer erhöhten konkreten Gefährdung ausgesetzt zu sein.
Als die Neonazis sich vermeintlich spontan für die Route durch Friedrichshain und Lichtenberg entschieden, ging der Plan auf: In der Kürze der Zeit konnte nur ein Teil des Gegenprotests an die Aufmarschroute mobilisiert werden. Doch damit nicht genug: Wie schon auch 2017 in Spandau wurden die Neonazis nur an der Spitze und am Ende des Aufmarsches von Polizei begleitet. An den Seiten sahen sich vereinzelte Gegendemonstrant*innen sowie Anwohner*innen, Passant*innen und Pressevertreter*innen direkt den etwa 700 Neonazis gegenüber und mit deren teils aggressiven verbalen Gewaltdrohungen konfrontiert. Dies schuf eine beängstigende und bedrohliche Situation, und es ist wohl nur dem Zufall zu verdanken, dass es nicht wie im Vorjahr zu gewalttätigen Ausbrüchen der Neonazis infolge von Störversuchen am Rande des Demonstrationszugs kam.

Staatliche Intervention ist kein Selbstzweck

Die Meinungs- und die Demonstrationsfreiheit sind unverzichtbare, elementare und unbedingt zu verteidigende Errungenschaften der demokratischen Gesellschaft, die auch für extreme Rechte gelten. Staatliches Eingreifen – zumal mittels „Sonderrechten gegen Neonazis“ – sollte sehr kritisch betrachtet und wenn nur äußerst zurückhaltend eingefordert werden. Es sollte immer auch berücksichtig werden, dass Forderungen aufgestellt werden könnten, staatliche Sanktionsmaßnahmen und Einschränkungen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit auch gegen andere missliebige politische Strömungen zu schaffen. Zu betonen bleibt, dass eines der wichtigsten und sinnvollsten Mittel gegen die extreme Rechte zivilgesellschaftliches Engagement ist – sei es lautstarker und entschlossener antifaschistischer Gegenprotest auf der Straße oder aber weitreichende und nachhaltige Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Dass die Würde der Opfer des Nationalsozialismus einen besonderen Schutz und damit NS-Verherrlichung Einschränkungen erfährt, ist jedoch nachvollziehbar und unbedingt zu vertreten. Dazu ist es auch notwendig, bestimmte Äußerungen und Ausdrucksformen im Rahmen des bestehenden Rechts einschränken und sanktionieren zu können – sei es Holocaust-Leugnung, rassistische und antisemitische Diffamierungen, Aufrufe zu Gewalt- und Tötungsdelikten, das Zeigen des Hitler-Grußes oder andere Formen der NS-Wiederbetätigung. Um es zuzuspitzen: Es ist richtig und wichtig, Neonazis nicht uniformiert, mit brennenden Fackeln und Hakenkreuzfahnen zu Trommelschlägen durch das Brandenburger Tor marschieren zu lassen. Und: Sie sollten sehr wohl daran gehindert werden, in aller Öffentlichkeit Rudolf Heß oder anderen Hauptverantwortlichen des NS-Regimes offen zu huldigen. In diesem Sinne muss es auch möglich sein, bei einzelnen Anlässen das Demonstrationsrecht mit Auflagen einzuschränken und als letzte Maßnahme auch Veranstaltungen zu verbieten. Mindestens zu erwarten ist aber, dass Auflagen von Behördenseite tatsächlich ernst genommen, offensichtliche Verstöße als solche geahndet werden und daraus Konsequenzen folgen. Bei den „Rudolf-Heß-Märschen“ der letzten beiden Jahre hat sich gezeigt, dass die Neonazis mit taktischer Zurückhaltung bei ihrer Mobilisierung einen Verstoß gegen § 130 Abs. 4 StGB erfolgreich umgangen haben. Vor Ort wurde dann vor allem mit dem Fronttransparent ganz offen und auch mit der abgespielten Musik Heß glorifiziert. Dass dies 2017 nicht beanstandet wurde und auch für den Aufmarsch 2018 keine Folgen hatte, ist skandalös. Dass das „Wunsiedel-Urteil“ unter diesen Umständen in Berlin keine ausreichende Grundlage sein soll, ist kaum nachvollziehbar und vermittelbar und erschließt sich auch für in Versammlungsrecht versierte Jurist*innen nicht. Auch wenn bis jetzt noch keine Mobilisierung für einen „Rudolf-Heß-Marsch“ 2019 erkennbar ist, ist nicht auszuschließen, dass dieser auch in diesem August in Berlin stattfinden und damit erneut eine offene NS-Glorifizierung mit polizeilicher Absegnung zelebriert werden soll. Innensenator Geisel wird sich an seinen markigen Sprüchen messen und sich die Frage gefallen lassen müssen, ob er aufgrund der Erfahrungen der letzten beiden Jahre immer noch keine Notwendigkeit sieht, erneut ein Verbot zu prüfen. Eines ist klar, sollte das nicht der Fall sein: Antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Gegenprotest wird es definitiv geben – verbunden mit der dringenden Forderung, diesen anstandslos zu ermöglichen und auch hier das Demonstrationsrecht zu garantieren sowie im direkten Umfeld der Neonazis für ausreichenden Schutz vor deren Gewaltpotential zu sorgen.

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