„Wir hatten das Bedürfnis, uns auch außerhalb unserer künstlerischen Arbeit politisch zu positionieren.“

Am 9. November 2018 wurde die von über 100 Kulturinstitutionen unterzeichnete „Berliner Erklärung der VIELEN“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Erklärung äußert sich zu zunehmenden Anfeindungen gegen Kunst und Kultur durch Rechtsextreme und Rechtspopulist_innen und bildete zugleich den Auftakt der Mobilisierung zur „Glänzenden Demonstration der Kunst und Kultur – Solidarität statt Privilegien“ im Mai 2019 in Berlin. Initiiert wurden die Erklärung und die Demonstration vom Berliner Verein DIE VIELEN. Die MBR sprach für die „Berliner Zustände“ mit den „VIELEN“ über ihre Netzwerkarbeit, Herausforderungen und Zukunftspläne.

 
Foto: ©Die Vielen e.V.

Viel ist passiert, seit die DIE VIELEN im Juni 2017 auf der Bildfläche erschienen sind. Was war die Motivation euch als Kulturschaffende gerade zu diesem Zeitpunkt zusammenzuschließen? Waren die Ziele von damals, schon die gleichen wie heute?

DIE VIELEN: Wir haben uns im Frühjahr 2017 das erste Mal getroffen. Sicherlich war ein Auslöser die damals anstehende Bundestagswahl im Herbst und der zunehmende Rechtsruck in der Gesellschaft. Wir hatten das Bedürfnis, uns auch außerhalb unserer künstlerischen Arbeit politisch zu positionieren. Es wurde dringender, die so oft zitierte „Kunstblase“ zu verlassen und sich zu fragen, wie man direkter handeln kann. Es gab dann am 17. Juni die Demonstration der „Identitären“ in Berlin – für uns war das der Anlass, das erste Mal geschlossen auf die Straße zu gehen. Ein Versuch, als Künstler*innen mit positiv besetzten Bildern den Rechten zu trotzen.

Die Ziele sind ähnliche geblieben, eher dringlicher noch mit der AFD im Bundestag. Wir versuchen nun, über den Rand Berlins hinauszuschauen und auch in ländlichen Gebieten aktiv zu werden. Verändert haben sich durch die Erklärung der Vielen die Anzahl unserer Unterstützer*innen und die Vernetzung mit vielen Institutionen. DIE VIELEN e.V. ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein. DIE VIELEN möchten die Kommunikation und Handlungsmöglichkeiten unter Künstler*innen stärken. Dies gilt insbesondere für Künstler*innen, für die Theater, Literatur und Kunst machen heißt, an einer Gesellschaft zu arbeiten, die sich aus Menschen aller Hautfarben und Geschlechtervariationen, vieler sexueller Orientierungen, aus Gläubigen und Nicht-Gläubigen zusammensetzt und auf deren Gleichberechtigung beruht. DIE VIELEN solidarisieren sich mit allen Aktiven der Kunst- und Kulturlandschaft und deren Institutionen, die von rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen attackiert oder in Frage gestellt werden, und agieren dabei unterstützend als aktives Netzwerk.

Im Sommer 2017 stand das Engagement Ziviler Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer im Fokus einer rechtsextremen Kampagne. Ihr habt als Symbol der VIELEN die glänzende Folie von Rettungsdecken gewählt. War das eine direkte Antwort auf die rechtsextreme Mobilisierung oder steckt noch mehr dahinter?

Der solidarische Umgang mit Menschen auf der Flucht ist ein wichtiger Punkt der Erklärung der Vielen und kann exemplarisch für den Umgang mit Minderheiten stehen. Uns ging es aber nicht nur darum ein Symbol der Solidarität mit Menschen in Not zu schaffen, sondern zusätzlich ein gemeinsames Objekt für Aktionen zu haben, das sich für eine positive, utopische Setzung eignet. Die reflektierenden Rettungsfolien oder Decken haben vielseitige Einsatzmöglichkeiten und die Handhabe ist einfach. Auf unseren Demonstrationen waren der Glanz und das viele Gold wichtig, um auf der Straße deutlich Präsens zu zeigen, auch für die Medien. Ein sichtbares Zeichen, das jede*n ermutigt und zur Partizipation einlädt.

Viele haben dadurch ihre Unterstützung zeigen können, nicht nur mit Rettungsdecken auf den Demonstrationen, sondern z.B. mit glänzenden Fahnen vor Theaterhäusern, auf Webseiten mit goldenem Hintergrund, auf Plakatwänden oder mit goldener Kleidung. Der Slogan für die Glänzende Demonstration im Mai 2018 lautete auch: Glänzen statt ausgrenzen. Ein glänzendes Leben für Alle!

Jede Einzelperson ist viel. Jede Minderheit ist viel. Jede Meinung, die nicht auf die Ausgrenzung von Minderheiten zielt, zählt. Alle zusammen sind wir Viele, egal wie viele. Wir versuchen, einen Raum zu öffnen, in dem erstmal jede*r willkommen ist.

Beim Blick auf eure Internetseite, fällt sofort ein Slogan ins Auge: WIR SIND VIELE – JEDE*R EINZELNE VON UNS! Vielleicht könnt ihr ein wenig aus eurem Alltag berichten. Was heißt das ganz praktisch?

Jede Einzelperson ist viel. Jede Minderheit ist viel. Jede Meinung, die nicht auf die Ausgrenzung von Minderheiten zielt, zählt. Alle zusammen sind wir Viele, egal wie viele. Wir versuchen, einen Raum zu öffnen, in dem erstmal jede*r willkommen ist. Jede*r bringt ein, was er kann: Meinungen, Expertise, Engagement, Verantwortung. Wirklich viele sind wir allerdings im aktiven Kreis des Vereins nicht. Es gibt einen harten Kern, der sich sehr regelmäßig trifft, und darüber hinaus immer wieder neue Mitglieder. Natürlich kommt man irgendwann zu dem Punkt, wo man gewisse Strukturen im Verein schaffen muss, damit das ganze läuft. Aber bisher sehen wir gerade das Unkontrollierbare so einer Bewegung als Chance, die Bewegung als Zustand.

Der Spruch ist aber auch als Aufforderung zu lesen, als Möglichkeit, sich dazugehörig zu fühlen. Jede*r kann sich solidarisieren, auch ohne vor Ort dabei zu sein – wir können ja gar nicht jede*n einzelnen erreichen.

In eurem Selbstverständnis schreibt ihr, euer Ziel ist es, Künstler*innen, Ensembles und Akteur*innen der Darstellenden und Bildenden Künste zu stärken. Worin seht ihr derzeit die größten Herausforderungen für Kulturschaffende? Wie zeigt sich der „Rechtsruck“ nach eurer Wahrnehmung in der Kunst und Kultur?

Kunst und Kultur prägen das Zusammenleben einer Gesellschaft, nicht zuletzt ist die Kunstfreiheit ein grundgesetzlich geschütztes Gut. Dagegen ist der instrumentalisierende Umgang mit Kunst und Kultur Teil eines rechtsextremen Autoritarismus – historisch gesehen, wie auch auf die Gegenwart bezogen. Die völkisch-nationale Rechte nutzt allgemeine Ressentiments gegenüber Künstler*innen und Intellektuellen und fordert, das sperrige, vielfältige, komplexe Wesen der Kunst in den Dienst einer nationalen Bedeutung zu stellen. Die Nazis im Faschismus benutzten den Begriff der „entarteten“ Kunst und förderten nationale Staatskunst: Jagdszenen-Genres, röhrende Hirsche, also meist Nazi-Kitsch. Heute spricht der kulturpolitische Sprecher der AfD im Bundestag von der „Entsiffung“ der Kunst und meint eine erneute Verschiebung des Kunstdiskurses zugunsten des völkisch-nationalen Handwerks, der Folklore und tradierten Konzepten von anwendungsorientierter Darstellung in Tanz, Oper und Theater.

Aus dem historischen Blick bleibt die größte Herausforderung, diesen Angriff als Kampf um die Kulturhegemonie anzunehmen und entschieden, schlau und gemeinsam vielstimmig zu antworten: Die Kunst bleibt frei!

Vor wenigen Wochen wurde die von euch initiierte und von mehr als 100 Kulturinstitutionen unterzeichnete „Erklärung der VIELEN“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Welchen Beitrag kann die Erklärung dazu leisten, damit die zum Abschluss formulierte Losung Wirklichkeit wird und die Kunst trotz aller Anfeindungen frei bleibt? Was soll zukünftig passieren, wenn die Institutionen, die sich mit euch deutlich positionieren, angefeindet werden?

Die Erklärung der Vielen ist zum einen ein Netzwerk aus Unterzeichner*innen und Unterstützer*innen und zum anderen an eine Selbstverpflichtung gebunden. Die Unterzeichnenden verpflichten sich z.B. zu gegenseitiger Solidarität mit Kultureinrichtungen und Akteur*innen der Künste, die durch Hetze und Schmähungen unter Druck gesetzt werden und bieten kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda. Weiter verpflichten sich die unterzeichnenden Häuser, Informationsveranstaltungen, Gespräche und Aktivitäten im Sinne der Erklärung vorzubereiten und zu unterstützen. Jetzt schon gibt es bei den Unterzeichner*innen viele Impulse und Diskurse, intern und öffentlich, die den Zusammenhalt und die Solidarität nachhaltig fordern und fördern.

Über 140 Institutionen haben die Berliner Erklärung unterzeichnet, darunter die Akademie der Künste, das Deutsche Theater und der Friedrichstadt Palast. Gemeinsam sind wir stärker und können schneller und besser auf Angriffe reagieren und proaktive Handlungsmöglichkeiten organisieren. Direkte Aktionen wären z.B. das institutionsübergreifende Bündeln von Presse und Öffentlichkeitsarbeit bei Online-Hetze oder das Koordinieren einer Rechtsberatung. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wir sind eine pluralistische Gesellschaft und können das auch zeigen, überall.

Wir stellen uns auf eine langfristige Arbeit ein, kurzfristiger Aktionismus steht nicht im Mittelpunkt, wenn es jedoch notwendig wird, gemeinsam schnell zu reagieren, werden wir da sein.

Welche Reaktionen auf eure Arbeit gab es bisher aus der Kunst-und Kulturszene selbst? Gab es neben der breiten Unterstützung der Erklärung von anderen Kulturschaffenden auch kritische Rückmeldungen?

Die Unterstützung aus allen kulturellen Bereichen ist weitreichend und es werden immer noch mehr. Bei der Glänzenden Demonstration wurden wir von fast hundert Aktiven aus der Berliner Kulturlandschaft unterstützt. Das war ein Anfang. Mit der Erklärung der Vielen sind es viele hundert unterzeichnende Kulturinstitutionen und tausende Unterstützer*innen bundesweit. Die Reaktionen zeigen, dass es ein großes Verlangen und die Notwendigkeit gibt, sich zu organisieren und positionieren. Um regionale Unterschiede und Kritiken berücksichtigen zu können, gibt die Erklärung der Vielen den einzelnen Akteur*innen die Möglichkeit, sich inhaltlich einzubringen.
Ein Kritikpunkt ist sicherlich, dass die Erklärung auf Institutionen als Unterzeichner*innen fokussiert und andere Initiativen und Privatpersonen als Unterstützer*innen auftreten. Hier geht es nicht darum eine Hierarchie aufzubauen, sondern um die Ressourcen zur Umsetzung der Selbstverpflichtung. Aber im Frühjahr 2019, vor der Europawahl, werden auch die Unterstützer*innen wieder gefordert sein, wenn wir für die zweite Glänzende Demonstration mobilisieren.

Mit ihrer Unterschrift bekennen sich die Häuser zu einer Reihe von Selbstverpflichtungen. Wie wollt ihr den Prozess begleiten, damit ihre Umsetzung nicht in der alltäglichen Belastung untergeht?

Als Verein sehen wir uns als Impulsgeber, aber auch als Begleitung: Auf der Webseite der Vielen werden Veranstaltungen gepostet und dokumentiert und Presseartikel gesammelt. Wir geben den verschiedenen Aktionen der Institutionen eine Plattform und vernetzen sie untereinander. Wir organisieren regelmäßige Treffen, die den Unterzeichnenden die Möglichkeit geben, sich direkt untereinander auszutauschen, sich durch die Ideen der anderen inspirieren zu lassen.

Wir können dazu aufrufen, sich gemeinschaftlich als Unterzeichner*innen der Erklärung zu bestimmten Vorfällen zu positionieren. Wir wollen allerdings keine Kontrollinstanz sein – da setzen wir auf Eigenverantwortung und auf die Kraft der Gemeinschaft und Bewegung.

Ihr seht euch vor allem als Plattform zur Vernetzung von Kulturschaffenden. Gibt es schon Pläne, wie die Arbeit der VIELEN über den Mai 2019 hinaus weitergehen kann? Ist es euer langfristiges Ziel, dass es DIE VIELEN am Ende gar nicht mehr braucht?

Natürlich ist uns die langfristige Entwicklung von Bewegungen, Vereinen und Institutionen bekannt, deshalb bemühen wir uns, eine Vielstimmigkeit zu zulassen und als eigene Institution nicht besonders hervorzutreten. Die Kunst- und Kulturakteure sind selber DIE VIELEN, sie sprechen über die ERKLÄRUNG, sie handeln sie aus, sie setzen Ihre Ziele. DIE VIELEN als Verein braucht es als glänzenden, sichtbaren Scheinriesen, als gemeinsame reale Illusion: Die Kunst DER VIELEN spricht, DIE VIELEN verständigen sich, zeigen sich solidarisch, arbeiten an der Fortentwicklung der demokratischen Gesellschaft. Wir legen die glitzernde Rettungsdecke über den Alltag und man sieht es Glitzern, wo sonst nur Netzwerk, Workshop oder Diskussion war. Es gilt, unsere Gesellschaft konstruktiv mit allen zu gestalten und das schließt für uns ein Verständnis davon ein, das wir selbst als Einzelne VIELE sind. Unsere Gesellschaft ist keine der homogenen Identität. Vom Wesen der Kunst könnten wir vor allem eines lernen: das Vielfalt keine Bedrohung ist, sondern Schönheit. Wir müssen uns weiterentwickeln, immer, Respekt und Toleranz sind nur wahrhaftig, wenn wir uns als Gesellschaft reflektieren und unsere blinden Flecken beleuchten. Solidarität statt Privilegien. Es geht um alle. Wir sind viele – jede*r einzelne von uns! Die Kunst bleibt frei!

Die Erklärungen der „VIELEN“ soll nur der Auftakt einer Kampagne sein. Könnt ihr schon ein bisschen mehr darüber verraten, was für die nächsten Wochen und Monate geplant ist?

Nur der Auftakt! Die Erklärung lädt dazu ein, bundesweit regionale Netzwerke zu errichten, die vielstimmig agieren können, die untereinander den Erfahrungsaustausch pflegen und sich gegenseitig unterstützen können. Diese regionalen Netzwerke der Institutionen werden durch Unterstützer*innen als Einzelpersonen verstärkt. Derzeit arbeiten wir an einer bundesweiten Dokumentation rechtsradikaler Übergriffe auf Kulturinstitutionen. Außerdem schließen wir Einrichtungen miteinander kurz, die beispielsweise bereits Erfahrungen mit juristischen Drohungen oder ähnliches von rechtsextremer Seite hatten. So können wir von den Erfahrungen der anderen lernen und entsprechend abgestimmt reagieren. Die regionalen Erklärungen haben sich zu bundesweiten Aktionen, Veranstaltungen sowie Demonstrationen verpflichtet. Davon werden wir sicherlich zum 1. Februar mehr hören. Wir stellen uns auf eine langfristige Arbeit ein, kurzfristiger Aktionismus steht nicht im Mittelpunkt, wenn es jedoch notwendig wird, gemeinsam schnell zu reagieren, werden wir da sein. Jetzt steht keine der unterzeichnenden Kultureinrichtungen mehr allein Hass und Verleumdungen gegenüber. Deshalb möchten wir noch einmal darum bitten, in weiteren Bundesländern ebenfalls aktiv zu werden. Wir helfen gerne dabei!

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