Rassismus vor Gericht – Eine Prozessbeobachtung

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet 185 Angriffe für das Jahr 2013. Das ist im Vergleich zum Jahr 2012 eine Zunahme von mehr als 30%. So viele Angriffe hat ReachOut seit der Projektgründung 2001 noch nie dokumentieren müssen.

 

Allein in Hellersdorf wurden 16 Angriffe verübt. Die meisten davon müssen im Zusammenhang mit den rassistischen Protesten gegen das Flüchtlingswohnheim gesehen werden. Auch die Unterstützer_ innen der Geflüchteten wurden gejagt, permanent bedroht, von Neonazis beobachtet, fotografiert und angegriffen. Berlinweit wurden 288 (2012: 234) Menschen verletzt und waren Bedrohungen ausgesetzt. Rassismus steht als Motiv mit 87 Taten (2012: 68) noch immer im Vordergrund. Die meisten Angriffe fanden in aller Öffentlichkeit, auf Straßen, Plätzen (121; 2012: 69) und in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen (42; 2012: 34) statt. Vor allem letztere können dazu führen, dass die Mobilität und Bewegungsfreiheit der Betroffenen massiv eingeschränkt wird. Wenn niemand der Passant_innen und Fahrgäste eingreift und Hilfe holt, ist die Verarbeitung des schrecklichen Erlebnisses für die Betroffenen viel schwerer. Wenn jedoch Andere reagieren, gibt es die Chance, dass die Täter_innen juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Und es ermöglicht den Betroffenen die Erfahrung, dass es eine für sie angemessene Auseinandersetzung mit dem Geschehenen geben kann. Ein Beispiel:

9. Juli 2013 – Berlin-Mitte: Gegen 16.15 Uhr wird ein 48-jähriger Mann, der auf einer Parkbank am Neptunbrunnen sitzt, von zwei Männern rassistisch beleidigt, angegriffen und verletzt. Mehrere Zeug_innen greifen ein und die 23-jährigen und 33-jährigen Männer flüchten. Die Polizei nimmt sie in der Nähe fest.[1] Mit Faustschlägen und Tritten traktierten Tomasz K. und Artur L. ihr Opfer Herrn S. – auch dann noch, als dieser bereits am Boden lag und bewusstlos war. Die Täter ließen erst von ihm ab, als umstehende Zeug_innen aufmerksam wurden und dazwischen gingen. Hätten Passant_innen nicht reagiert, würde Herr S. vielleicht nicht mehr leben. Herr S. erlitt eine Hirnblutung, einen Nasenbeinbruch und einen Bruch der rechten Augenhöhle, sowie Schürfwunden an Arm und Bein. Befördert wurde die Tat, laut Anklageschrift, durch die »Abneigung [der Täter] gegen Personen mit dunkler Hautfarbe sowie aus purer Lust an Gewalt«.

Seit dem 14. Februar 2014 läuft der Prozess gegen die beiden Täter. Angeklagt sind sie wegen versuchten Mordes. Herr S. ist Nebenkläger in dem Verfahren. Der Prozessauftakt sowie die ersten Verhandlungstage sind in ihrem Ablauf typisch für eine Gerichtsverhandlung: Die Anklage wird verlesen, die Personalien bestätigt, die Täter gefragt, ob sie sich äußern wollen und erste Zeug_innenaussagen gehört. In seiner Stellungnahme betont der Angeklagte Tomasz K., dass ihm der Vorfall leid tue. Der zweite Angeklagte Artur L. hingegen schweigt. Danach werden die ersten beiden Zeugen befragt. Die zwei Beamten vom Landeskriminalamt haben direkt am 9. Juli 2013 sowie die Tage danach die beiden Täter befragt. Leider verläuft die Befragung sehr schleppend, da beide Zeugen sich nicht genügend auf ihre Aussagen vorbereitet haben und sich kaum an die jeweiligen Verhöre erinnern können. Der erste Verhandlungstag endet mit der Befragung der beiden Beamt_innen, die direkt am Tatort waren, sowie eine erste Befragung mit Herrn S. im Krankenhaus durchgeführt haben. Auch die weiteren Verhandlungstage ähneln diesem Prozessauftakt. Zeug_innen werden ausführlich befragt, was genau sie gesehen haben beziehungsweise woran sie sich erinnern können. Richter und Verteidiger_innen stellen detaillierte Nachfragen und lassen den Tathergang ausschnittsweise nachstellen.

Erfahrungen bei Prozessen

Dieser Gerichtsprozess scheint juristisch korrekt und sachlich abzulaufen. Richter, Staatsanwältin und Verteidigung versuchen die Tat genau zu rekapitulieren, um die Wahrheit herauszufinden und die Angeklagten rechtmäßig zur Verantwortung zu ziehen. Aber wie wirkt dieser ganze Prozess auf Außenstehende? Offizielle Zahlen beschreiben eine enorme Unzufriedenheit von Betroffenen rassistischer Gewalt während eines Prozesses: So sind 65,6 Prozent der Betroffenen unzufrieden mit dem Verlauf beziehungsweise dem Ausgang eines Strafprozesses. 70,7 Prozent konnten das Ergebnis des Prozesses nicht akzeptieren und 58,6 Prozent erleben das eigene Erscheinen vor Gericht als belastend.[2]

„Die steife Atmosphäre vor Gericht ist in vielen Fällen ein Einschüchterungsfaktor und kann zu einer sekundären Traumatisierung führen.“

ReachOut hat zudem bei der Begleitung und Beratung von Betroffenen vor Gericht festgestellt, dass beispielsweise die Bedeutung des Strafmaßes in den Hintergrund rückt, wenn der Prozess sensibel geführt wurde und das Tatmotiv genau benannt wird. Für Betroffene ist die gerichtliche Anerkennung von Tatmotiv und Tat ein wichtiger Schritt, um die traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu können. Die steife Atmosphäre vor Gericht ist in vielen Fällen ein Einschüchterungsfaktor und kann zu einer sekundären Traumatisierung führen. Wie wirkt es beispielsweise für Herrn S., wenn die ersten beiden Zeugen sich nicht auf ihre Aussagen vorbereitet haben, sodass selbst der Richter die Geduld verliert? Herr S. hätte fast sein Leben verloren und die beiden Beamten lesen sich nicht einmal die eigenen Verhörprotokolle zur Vorbereitung durch. Diese offenkundige Ignoranz dem Fall und seiner Besonderheit gegenüber, ist nur ein Aspekt, der die Teilnahme am Prozesses für den Betroffenen zur Tortur werden lassen. Bereits einfache Handgriffe können das Verfahren für die Betroffenen erleichtern: Als Herr S. nach dem Verlesen der Anklageschrift den Raum verlässt, öffnet ihm ein Justizbeamter die Tür. Dieser stellt sich links neben die Tür. Hätte er sich rechts platziert, hätte er zwischen Herrn S. und der Anklagebank gestanden. Herrn S. wären dadurch die harten Blicke der beiden Täter erspart geblieben. Diese für das Verfahren kaum relevante Kleinigkeit zeigt, dass ein sensibler Umgang mit Betroffenen nicht viel verlangt und leicht umsetzbar ist.

Der Umgang mit dem Betroffenen

Dies scheinen allerdings Richter und Verteidigung bei der über zweistündigen Vernehmung von Herrn S. am dritten Verhandlungstag nicht berücksichtigen zu wollen. Ungeduldig, teilweise genervt und die Stimme erhebend führt der Richter die Befragung durch. Herr S. antwortet ihm nicht schnell und konkret genug, zudem wiederholt er vor allem den Tathergang immer wieder. Dass ein solches Erlebnis schwer traumatisierend sein kann und Betroffene vor Gericht alles ‚richtig‘ machen wollen, darauf scheint der Richter keine Rücksicht nehmen zu wollen. Auch der Umgang der Verteidigung wirkt auf Zuschauer_innen höchst problematisch. So versucht der Verteidiger von Artur L. Herauszufinden, wie gut Herr S. deutsch versteht und sprechen kann. Er stellt mehrere Fragen auf deutsch und bittet die Dolmetscherin diese nicht zu übersetzen. Herr S. wirkt verunsichert, versucht aber trotzdem auf die Fragen zu reagieren. Unklar für die Zuschauer_innen bleibt, warum Herr S. in eine solch unangenehme Situation versetzt wird. Warum wird ihm beispielsweise nicht erklärt, warum diese Fragen gestellt werden? Leider ist der Prozessverlauf typisch dafür, wie unsensibel teilweise mit Betroffenen und Zeug_innen umgegangen wird. So wird beispielsweise auch einer der Augenzeugen, die Herrn S. geholfen haben, vom zweiten Vorsitzenden gefragt, welchen Zweck sein anschließender Besuch im Krankenhaus bei Herrn S. hatte. Die Frage ist eher Vorwurf und weniger Anerkennung für die Zivilcourage des Zeugen.

Mehr Sensibilität würde die juristische Wahrheitsfindung nicht einschränken – ganz im Gegenteil. Fragen zum Tathergang etc. können und müssen selbstverständlich gestellt werden. Interessant ist hier nur, wie werden diese gestellt? Welche Worte werden beispielsweise benutzt, um Menschen und Sachverhalte zu beschreiben? Wie eindeutig wird zum Beispiel Rassismus als Tatmotiv genannt? Die Anklage formuliert ›nur‹ eine »Abneigung gegen Personen mit dunkler Hautfarbe« – von Rassismus wird nicht gesprochen. Vielmehr wechseln sich rassistische Begriffe ab wie ›Schwarzafrikaner‹, ›Farbiger‹ oder ›Südländer‹. Selbstbezeichnungen wie Schwarzer oder POC (Person Of Colour) fallen nicht.

Rassismus wird nicht erkannt

Außerdem wird die rassistische Beleidigung, die Ausgangspunkt des brutalen Angriffs war, kontinuierlich wiederholt. Der rassistische Begriff wird so zu einem ›Beweismittel‹, welches dadurch auf einer formalen Ebene immer wieder genannt werden kann. Welche Verletzungen damit verbunden sind und wie es sich für den Betroffenen, als einzigen Schwarzen im Raum, anfühlt, immer wieder damit konfrontiert zu sein, scheint etwas zu sein, was der weißen Richterschaft nicht auffällt. Warum muss die Beleidigung regelmäßig ausgesprochen werden? Es geht sogar weiter: Da die Täter den Betroffenen nicht auf deutsch beleidigten, wird eine Dolmetscherin für polnisch/russisch-deutsch hinzugerufen, die zur genauen semantischen Bedeutung der Beleidigung Auskunft geben soll. Sie übersetzt die Beleidigung mit dem ›N-Wort‹. Daraufhin wird sie befragt, ob das Wort nicht auch andere Bedeutungen, wie ›Südländer‹ oder ›dunkel‹ haben könnte. Die Dolmetscherin verneint. Am dritten Verhandlungstag wird eine zweite Dolmetscherin für polnisch/russisch-deutsch zu ihrer Einschätzung befragt. Sowohl sie als auch Herr S. sagen aus, dass das Wort auf russisch ›Schwarzer‹ bedeutet, aber auf polnisch als ›N-Wort‹ übersetzbar ist. Mehrmals wird hinterfragt, was genau welches Wort bedeutet. Es stellt sich die Frage, wer definiert hier, ab wann ein Wort rassistisch ist? Ist für einen Betroffenen in einer lebensbedrohlichen Situation nicht jede rassistische Beleidigung verletzend?

Eine andere skurrile Situation spielt sich ab, als die vierte Zeugin – eine Beamtin der Mordkommission, die Herrn S. am Tattag im Krankenhaus befragt hat – am ersten Verhandlungstag aussagt, dass sie den Fall abgegeben hat an die Abteilung, die sich mit Hasskriminalität beschäftigt. Auf die richterliche Frage, was Hasskriminalität sei, antwortet die Zeugin, dass dies Straftaten seien, die gegen Personen aufgrund von ›Rasse‹, Religion, Nationalität und so weiter begangen werden. Dass die deutsche Übersetzung aus dem Englischen von ›Hate Crimes‹ das Wort ›Rasse‹ nicht ausschließt, ist erschreckend. Noch erschreckender ist allerdings, dass niemand der Anwesenden zu reagieren scheint, als das Wort ›Rasse‹ im Bezug auf polizeiliche Ermittlungsarbeit fällt.

Juristische Objektivität ist fraglich

Eine vermeintlich juristische Objektivität und Wahrheitsfindung kann und darf die konstante Nennung rassistischer Bezeichnungen nicht legitimieren. Wenn rassistische Beleidigungen als sachliche ›Beweismittel‹ vor Gericht ständig wiederholt werden, verlieren sie für Betroffene nicht an Bedeutung. Im Gegenteil, sie werden zu einer zusätzlichen Demütigung. Wie kann ein Gericht überhaupt Rassismus erkennen, wenn es selbst unsensibel beziehungsweise unwissend mit rassistischen Begriffen umgeht? In diesem Fall ist es leicht, die Täter und deren Motiv für den brutalen Angriff als rassistisch einzuordnen. Nicht nur, dass einer der Täter bei der polizeilichen Vernehmung ausgesagt hat, dass er keine Schwarzen möge: die Täter sind bereits im Vorfeld durch Gewalt an einem Obdachlosen verbunden mit Hakenkreuzschmierereien aufgefallen. Was wäre allerdings, wenn die Angeklagten nicht so leicht zu kategorisieren wären? Was wäre, wenn auf der Anklagebank ein weißer 76jähriger Rentner[3] säße? Würde das Gericht Rassismus dann auch erkennen? Aber nicht nur diese Fragen und Zweifel drängen sich auf bei der Beobachtung des Prozesses. Vor allem eine letzte Überlegung bleibt: Wie eigentlich würde der ganze Prozess ablaufen, wenn der Richter oder die Staatsanwältin Personen of Colour wären? Würden rassistische Beleidigungen kontinuierlich wiederholt werden? Sicher nicht…

Durch die Nebenklagevertreterin lässt Herr S. ausdrücklich betonen, dass er jetzt in die Zukunft sehen kann, weil er den Eindruck gewinnen konnte, dass sich eingehend mit dem Angriff beschäftigt wurde. Er habe Glück gehabt, dass er mitten am Tag und an einem Ort, an dem viele Menschen sich aufhielten, angegriffen wurde. Nur so habe er überleben können, da Menschen eingegriffen und ihm geholfen haben. Am 18. März wurde das Urteil gesprochen. Die Angeklagten werden zu je 3 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Allerdings erkennen die Richter nicht auf versuchten Mord, sondern auf gefährliche Körperverletzung. Als Motiv wird ausdrücklich auf die rassistische Gesinnung der Angeklagten eingegangen.

ReachOut ist die Berliner Beratungsstelle für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt. Unterstützung finden auch Angehörige der Opfer und die Zeug_innen eines Angriffs. Das Team bietet außerdem Workshops, Veranstaltungen und Fortbildungen an. Das Projekt recherchiert Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik.

  1.  Polizei Berlin, 9.07.2013/ B.Z., 9.07.2013/ rbb online, 9.07.2013/ Tagesspiegel, 9.07.2013/ Stern, 10.07.2013/ Berliner Kurier, 10.07.0213/ Berliner Zeitung, 10.07.2013/ Junge Welt, 11.07.2013/ ReachOut
  2.  Haupt, Holger/ Weber, Ulrich (1999): Handbuch Opferschutz und Opferhilfe. Ein Praxisorientierter Leitfaden für Straftatsopfer und ihre Angehörigen, Mitarbeiter von Polizei und Justiz, Angehörige der Sozialberufe und ehrenamtliche Helfer. Baden- Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft. S. 129.
  3.  Am 13. Juni 2003 wurde der 33jährige Berliner HipHop- Künstler Maxim nach einem Streit zwischen seiner Ehefrau und einem 76jährigen Rentner tödlich verletzt. Der Täter wurde freigesprochen, da das Gericht zu dem Schluss kam, dass dieser angeblich im Konflikt so überfordert war, dass er keine andere Möglichkeit gesehen hatte, als sein auf beiden Seiten geschärftes Gartenmesser zu ziehen. Der Tod von Maxim und der Freispruch des Täters sorgten für großes Aufsehen.
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