Die Berliner Zustände im Jahr 2013

Selten hat ein Thema die Projekte in Berlin so beschäftigt, wie in 2013 die verschiedensten Aspekte von Flucht, Migrations- und Asylpolitik und die rassistische Mobilisierung gegen Geflüchtete. Der Schwerpunkt des diesjährigen Heftes lag scheinbar auf der Hand, ohne dass er in ein einziges Schlagwort zu pressen gewesen wäre.

 

Fängt man im lokalen Sozialraum an, beginnt die Erzählung in einer leerstehenden Schule in Berlin-Hellersdorf. Dort zogen im August 2013 rund 200 Geflüchtete ein, während im Vorfeld und im Nachgang rassistische und rechtsmotivierte Angriffe zur Tagesordnung wurden und rassistische Bürger_innen und extrem rechte Parteien wie die NPD ihre Kampagnen gegen »das Heim« lancierten. »Hellersdorf« ist das Symbol geworden für Rassist_innen und Nazis, die versuchen, ein Heim zur Unterbringung von Geflüchteten zu verhindern. Es ist das Symbol für eine überforderte Lokalpolitik und den Versuch, eine »Willkommenskultur« zu etablieren – oder wenigstens zu helfen. An anderen Orten verliefen die Konflikte um Heime ähnlich – oder ganz anders. Gemeinsam ist, dass antifaschistische und zivilgesellschaftliche Gegenwehr notwendig wird, wenn Rassist_innen gegen Asylsuchende und Sammelunterkünfte mobil machen und versuchen, eine rassistische Bewegung loszutreten.

Die Artikel zum Schwerpunkt »Geflüchtete in Berlin« in dieser Ausgabe zeigen einige lokale Beispiele und zeigen im Überblick zur Gesamtsituation, wie Geflüchtete mit restriktiven und diskriminierenden Praktiken der Behörden und Institutionen konfrontiert sind. Auch diejenigen, die mit Glück eine Wohnung haben und nicht in eine Sammelunterkunft eingewiesen wurden oder auf der Straße leben, bekommen unterschiedlichste Steine in den Weg gelegt. Eine gleichberechtigte Teilhabe oder auch nur die Wahrung der eigenen Rechte sind noch lange nicht selbstverständlich: Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, angeblich nicht vorhandene Plätze für geflüchtete Kinder und Jugendliche an Schulen, unzureichende medizinische Versorgung – die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Im Alltag ist es die Praxis der Polizei, Menschen anzuhalten, zu durchsuchen oder gar festzunehmen, weil sie ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe verdächtiger vorkommen als andere Menschen. Der institutionelle Rassismus besteht aber auch aus aufenthalts-, arbeits- und sozialrechtlichen Ausschlüssen. Aus dieser Logik ist auch nicht zu entkommen, wenn man als Opfer von Rassismus vor Gericht aussagt: diskriminierende Sprache und die Verharmlosung oder Ignoranz von Rassismus als Motiv von Gewalttätern und Nazis reproduzieren sich in Ermittlungen und Gerichtsverfahren – nicht nur in München beim Prozess gegen den NSU, sondern immer noch auf alltäglicher Ebene vor jedem deutschen Gericht.

Parteien und Lokalpolitiker_innen haben sich immerhin manchmal dem Druck gebeugt und sind zwar bereit, Initiativen gegen Rassismus auszuzeichnen, sie möchten sich gern hilfsbereit und tolerant zeigen. Zwei Artikel zeigen, wie dennoch versäumt wird, die betroffenen Roma, die Geflüchteten oder die Migrant_innen selbst teilhaben, mitreden oder gar selbst bestimmen zu lassen. Die Abwehrhaltung der Parteipolitik in Berlin gegenüber den selbstbestimmten Kämpfen von Geflüchteten hat in Berlin eine eigene, fast vergessene Tradition: vor über 20 Jahren flüchteten schon vormals Geflüchtete von Hoyerswerda nach Berlin. Sie besetzten zusammen mit migrantischen und deutschen Aktivist_innen für 5 Monate das Mathegebäude der TU, um für ein selbstbestimmtes Leben in Sicherheit zu kämpfen. Eine Rückschau beschreibt, dass zwar das Happy End ausblieb, sehr wohl aber ein breites Bündnis und eine Form von Selbstermächtigung entstanden, die ihre Parallelen heute auf dem Oranienplatz finden.

Politiker_innen und Medien reden oft humanitär von Menschenrechten, formulieren aber gleichzeitig Rassismen gegen verschiedene Gruppen von Migrant_innen, Rom_nija und Geflüchtete, die auf fruchtbaren Boden fallen. Die Beiträge dieser Ausgabe zeigen, dass der rassistische Diskurs um »Armutsmigration« die Durchsetzung einer autoritären Armuts- und Migrationspolitik und die Aberkennung von Grundrechten für stigmatisierte Gruppen erleichtern. Diese Politik ist zunehmend vereinheitlichend auf europäischer Ebene abgestimmt, es heißt, die Flüchtlingspolitik solle »harmonisiert« werden. Das Resultat ist die Vereinigung der Kräfte zur Regulierung, Kontrolle und der versuchten kompletten Abwehr von Migrationsbewegungen nach Europa. Diese Abwehr bindet auch nordafrikanische Staaten in Form von »Sicherheitspartnerschaften« in das Projekt ein. Die Festung Europa beginnt schon in der Wüste Malis, sie hindert Menschen, nach Ceuta und Melilla zu migrieren und fordert unzählige Tote auf dem Mittelmeer. Die Überlebenden erreichen auch Berlin. In einem Interview beschreiben Aktivist_innen ihre selbstbestimmten Kämpfe für Bewegungsfreiheit und Menschenrechte.

Die weiteren Artikel in diesem Schattenbericht analysieren die rechtskonservativen Aktivitäten in Berlin, berichten über rechtsextreme Infrastruktur und über eine rechtsextreme Funktionärin in der Sozialen Arbeit. Das Thema Antisemitismus wird beleuchtet und ein kritischer Blick auf die Umsetzung des Gedenkortes Rummelsburg geworfen. Das Erstellen von »Schattenberichten« (shadow report oder auch Parallelbericht) ist ein Instrument für NGOs, um offiziellen Darstellungen zu Menschenrechten in den UN-Länderberichten kritische Aspekte, eigene Fakten und Perspektiven entgegenzustellen. Expert_innen zum Thema Rassismus und Migration sollen die Darstellung der Behörden, der Medien und der Mainstream-Gesellschaft nicht nur ergänzen, sondern herausfordern. Da ihre eingereichten Berichte in die offiziellen UN-Darlegungen einfließen, können sie helfen, Druck auf die Regierungen auszuüben.

Diesen Weg geht unser Schattenbericht »Berliner Zustände« nicht. Sicherlich fragen wir uns alle regelmäßig, welchen Einfluss unsere Perspektive, unsere gesammelten Fakten und Erfahrungen auf die reale Politik haben. Wichtig ist es, aus dem Schatten zu treten, eine Stimme zu haben, eine dem Mainstream oder den Behörden widersprechende Sichtweise zu artikulieren. Dass das eine zusätzliche Arbeit für die notorisch unterfinanzierten (oder gar nicht finanzierten) Projekte und Initiativen bedeutet, die manchmal nicht geleistet werden kann und dass die Stimmen der Betroffenen auch in unserem Bericht zu wenige sind, ist uns klar. Umso mehr freuen wir uns, jedes Jahr mehr Artikel und Autor_innen für die Publikation gewinnen zu können. Wir hoffen, dass wir vor allem auch voneinander lernen und uns vernetzen können. Und dass eine Vielzahl von Perspektiven nicht nur unseren eigenen Horizont erweitert, sondern auch den der Leser_innen.

Unser besonderer Dank geht an Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess in München, den wir für das Vorwort gewinnen konnten. Großer Dank geht auch an alle weiteren Kolleg_innen, die die Redaktion unterstützten und vor allem Golnar Mehboubi Nejati für das Layout, Ramtin Zanjani für die Fotos, Philipp Kuebart für die Ausstellung »Residenzpflicht – Invisible Borders«, Bianca Klose und Julia Opitz für die redaktionelle Mitarbeit.

Viel Spaß und bereichernde Erkenntnisse wünscht die Redaktion Berlin im April 2014

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