Rassistische Kriminalisierung: Jugendliche im polizeilichen Raster
Dass nicht-weiße Jugendliche im Fokus polizeilicher Kriminalisierung stehen, ist keine Neuigkeit. Dass sie in Berlin auf der Straße angehalten, kontrolliert, durchsucht und ausgezogen werden, ist für sie bedrohlicher Alltag. Dass sie deshalb bestimmte Orte meiden, an denen weiße Berliner*innen völlig unbehelligt Freund*innen treffen, feiern gehen oder einfach abhängen, ist die bittere Konsequenz. Dass jeder Kontakt mit der Polizei ihre Erfassung nach rassistischen Phänotypen in polizeiinternen Datenbanken zur Folge haben kann, ist ein offenes Geheimnis. Wie die taz am 5.2.2020 berichtete, erfasst die Berliner Polizei systematisch und langfristig in der Datenbank Poliks neben „Volkszugehörigkeiten“ und „ethnischen Zugehörigkeiten“, auch zugeschriebene „Phänotypen“ verdächtiger Personen im Rahmen der erkennungsdienstlichen Behandlung. Dort finden sich dann Kategorien wie „afrikanisch“, „afro-amerikanisch“, „asiatisch“, „indianisch“ und „ost-,süd- oder westeuropäisch“.
Rassistische Kriminalisierung ist ein institutionelles Problem in der Berliner Polizeibehörde. Deshalb beschränkt sich Racial Profiling nicht auf demütigende und bedrohliche Polizeikontrollen und -durchsuchungen im Öffentlichen Raum. Vielmehr bezeichnet Racial Profiling eine umfassende Ermittlungsperspektive, die durch rassistische Vorurteile geprägt ist und das gesamte Handeln der Polizist*innen mit bestimmt – und die nicht auf der Straße endet.
Racial Profiling: Kein Ende vor der Wohnungstür
ReachOut berät und begleitet seit Jahren Jugendliche, die durch Berliner Polizist*innen rassistisch kriminalisiert und verletzt worden sind. Eng mit ReachOut verbunden ist die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), die diese und andere Berichte rassistischer Polizeigewalt in einer Chronik auf ihrer Website veröffentlicht.
Seit 2015 erfährt ReachOut zunehmend von Polizeieinsätzen in Wohnungen der stationären Jugendhilfe, in denen unbegleitete geflüchtete minderjährige Jugendliche leben. Die meisten von ihnen sind junge Männer. Die Einsätze zeichnen sich durch die vielfältige Missachtung der Rechte der Jugendlichen aus, ebenso wie durch zum Teil massive Gewaltanwendung. Mehrere Vorfälle wurden durch Sozialarbeitende, die die betroffenen Wohngruppen betreuen, 2019 bekannt.
Stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe tragen eine besondere Verantwortung, ihre Bewohner*innen vor Gewalt, Kriminalisierung und potenziell (re-)traumatisierenden Erfahrungen zu schützen.
Exemplarisch dafür stehen die folgenden zwei:
9. Mai 2019: Wie der Berliner Flüchtlingsrat berichtete, verschafften sich drei Polizist*innen in der Nacht Zutritt zu einer Jugendhilfewohnung in Berlin-Lichtenberg. Zuerst klingelten sie an der Tür, dann klopften sie an die Fenster der im Erdgeschoss liegenden Wohnung. Der geflüchtete Jugendliche, den sie überprüfen wollten, war traumatisiert und in psychiatrischer Behandlung. Er verstand nicht, was die Polizei von ihm wollte und öffnete deshalb die Tür. Einen Durchsuchungsbeschluss hatten die Beamt*innen nicht. Trotzdem kontrollierten sie den Jugendlichen und befragten ihn ohne Befugnis zu seinen Fluchtgründen. Sie erklärten ihm, er müsse Deutschland verlassen und am nächsten Tag bei der Ausländerbehörde vorsprechen. Sonst würde man ihn abholen und abschieben. Der diensthabende Bereitschaftsbetreuer der Jugendhilfeeinrichtung wurde nicht benachrichtigt. Der Jugendliche befand sich noch im Asylverfahren. Er konnte nicht abgeschoben werden.
02. Juli 2019: Wie der Bundesverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BumF) e.V. berichtete, drang die Polizei am frühen Morgen gewaltsam in eine Jugend-WG des Trägers Evin e.V. ein. Die Polizist*innen traten Türen ein, zogen dort schlafende Jugendliche mit vorgehaltener Waffe aus den Betten und legten ihnen Handschellen an. Bei keinem der Jugendlichen gab es einen Verdacht auf eine Straftat. Die Polizist*innen suchten einen Jugendlichen, der bereits vor zwei Monaten ausgezogen war. Der Bezirk, in dem sich die Wohngruppe befand, wurde zum Schutz der Bewohner*innen nicht veröffentlicht.
Insbesondere von Rassismus betroffene Jugendliche, die in ihrem Leben Erfahrungen mit polizeilicher Willkür und rassistischer Gewalt durch Einzelne und/oder staatliche Behörden machen, werden durch diese Polizeieinsätze in ihrer psychischen und physischen Gesundheit stark gefährdet.
Stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe tragen eine besondere Verantwortung, ihre Bewohner*innen vor Gewalt, Kriminalisierung und potenziell (re-)traumatisierenden Erfahrungen zu schützen. Das geht aus Menschenrechtsverträgen genauso hervor, wie aus dem deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz, wie sie in Artikel 3 der Kinderrechtskonvention sowie im Sozialgesetzbuch (SGB) in § 1 Absatz 2 Nr. 3 SGB VIII gegebenenfalls in Verbindung mit Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben sind. Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen im Wohnraum junger Menschen stellen eine Form von Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII dar. Insbesondere von Rassismus betroffene Jugendliche, die in ihrem Leben Erfahrungen mit polizeilicher Willkür und rassistischer Gewalt durch Einzelne und/oder staatliche Behörden machen, werden durch diese Polizeieinsätze in ihrer psychischen und physischen Gesundheit stark gefährdet.
„Polizeieinsätze in Jugendhilfe-Wohnungen: Ausmaß der Rechtsbrüche unklar“
Insbesondere Sozialarbeiter*innen, die mit den betroffenen Jugendlichen arbeiten, wenden sich verstärkt an KOP und ReachOut. Nach einem Polizeieinsatz in einer Wohngruppe des Trägers KJHV am 9. Mai 2018, bei dem mehrere Jugendliche völlig grundlos zum Teil schwer verletzt werden, fühlen sich die verantwortlichen Sozialarbeitenden zum Handeln gezwungen. Sie veröffentlichen den Polizeieinsatz in einer Pressemitteilung und initiieren damit die ersten ernsthaften Gespräche über das Problem in den Arbeitskreisen der Jugendhilfe. Immer mehr Kolleg*innen berichten nun von rechtswidrigen Polizeieinsätzen in den Wohngruppen ihrer Einrichtungen und von der Notwendigkeit, professionell und solidarisch darauf zu reagieren. So erfährt ReachOut unter anderem von Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, bewaffneten Polizeieinsätzen, Einsätzen unter Anwendung von Gewalt, verbalen und körperlichen Erniedrigungen, Sachbeschädigungen, sogenannten Gefährderansprachen, informellen Begehungen und Befragungen ohne Dokumentation der beteiligten Polizist*innen oder Maßnahmen, Befragungen von Minderjährigen ohne Anwesenheit von Vormünder*innen oder Sozialarbeiter*innen, DNA-Abgaben, Beschlagnahmungen von persönlichen Gegenständen, Eindringen in private Räume unbeteiligter Jugendlicher.
Das Ausmaß des Problems bleibt jedoch relativ unklar. Oft erfahren weder die Vormünder*innen der Jugendlichen, noch die zuständigen Sozialarbeiter*innen von den Einsätzen. Die Polizei meldet die Einsätze und „Begehungen“ nicht, hinterlässt oft keinerlei Dokumentation. Nur die Jugendlichen selbst informieren im Zweifel ihre Einrichtungen. Dann ist es oft schwer, das Geschehene zu rekonstruieren, und die Identifizierung beteiligter Beamt*innen ist unmöglich. Selbst wenn Jugendliche beispielsweise nach einer Ausweiskontrolle die Dienstnummer der Polizeibeamt*innen verlangen, wird die Herausgabe fast immer verweigert, obwohl die Senatsverwaltung für Inneres und Sport laut ihrer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage von Die Linke vom 12.10.2018 „alle Vollzugsdienstkräfte zur Aushändigung ihrer Dienstkarte oder dienstlichen Visitenkarte verpflichtet“ hat .
Das Ausmaß des Problems bleibt jedoch relativ unklar. Oft erfahren weder die Vormünder*innen der Jugendlichen, noch die zuständigen Sozialarbeiter*innen von den Einsätzen. Die Polizei meldet die Einsätze und „Begehungen“ nicht, hinterlässt oft keinerlei Dokumentation.
Als sich die Berichte und Beratungen im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen in den Wohngruppen häufen, initiiert ReachOut 2019 zwei Fortbildungen, zu denen Sozialarbeiter*innen der stationären Jugendhilfe eingeladen sind. Die Rechte der betroffenen Jugendlichen auf der Straße und in ihren Wohnungen zu sichern und zu schützen, im Zweifel auch gegen rassistische Kriminalisierung und darauf basierende Polizeieinsätze, steht dabei im Vordergrund der Auseinandersetzung.
Dass es sich jedoch nicht nur um ein rechtliches Problem handelt, auf das in den jeweiligen Situationen professionell reagiert werden muss, ist allen Anwesenden schnell klar. So entsteht der Wunsch unter den Sozialarbeiter*innen, sich strategisch zu vernetzen mit dem Ziel über Trägergrenzen hinweg das Ausmaß der Polizeieinsätze in den Wohngruppen zu erfassen, professionelles und antirassistisches Handeln im Umgang mit den Einsätzen zu stärken, Jugendhilfestrukturen in die Verantwortung zu nehmen und ein Ende der Gewalt und Bedrohung zu erreichen.
Arbeitskreis Schutzräume sichern – Gegen Racial Profiling und rassistisches Fehlverhalten der Polizei in der Jugendhilfe
Im November 2019 gründet sich deshalb auf Initiative von ReachOut der Arbeitskreis „Schutzräume sichern“ mit einer Ideenwerkstatt, an der zahlreiche Sozialarbeiter*innen verschiedener Träger der stationären Jugendhilfe teilnehmen. Fünf Interventionen zum Schutz der betroffenen Jugendlichen werden dort beschlossen, die unmittelbar organisiert werden sollen:
1. Etablierung von Monitoring: Aufruf zur Dokumentation von Fällen polizeilichen Fehlverhaltens im Kontakt mit den Jugendlichen auf der Straße oder in den Wohnungen. Konsequente anonymisierte Veröffentlichung und Analyse der Berichte.
2. Entwicklung von Handlungsleitfäden zum Umgang mit unverhältnismäßigen Polizeimaßnahmen zur Stärkung von Jugendlichen und Sozialarbeiter*innen;
3. Erarbeitung von Leitlinien zum Schutz der Bewohner*innen stationärer Jugendhilfeeinrichtungen;
4. Einwicklung eines Fortbildungsformats zur Qualifizierung von Fachkräften in der Arbeit mit besonders Schutzbedürftigen;
5. Formulierung politischer Forderungen an die Senatsverwaltung und die Berliner Polizei, um die Anweisungen für die Durchführung von Polizeieinsätzen in stationären Einrichtungen zu verändern.
Die entscheidende Hürde ist ein rassistisch kriminalisierender Diskurs, durch den immer zuerst nach möglichen Straftaten der Jugendlichen geforscht, jedoch nie nach rassistischem Fehlverhalten der Polizei gefragt wird.
Die Umsetzung der Interventionen wird weder an dem Engagement der Sozialarbeiter*innen in den Wohngruppen, noch an dem Vertrauen der Jugendlichen ihnen gegenüber scheitern. Die entscheidende Hürde ist ein rassistisch kriminalisierender Diskurs, durch den immer zuerst nach möglichen Straftaten der Jugendlichen geforscht, jedoch nie nach rassistischem Fehlverhalten der Polizei gefragt wird. In diesem Licht erscheinen die Polizeieinsätze als ein notwendiges Übel zur Aufdeckung und Verfolgung von Kriminalität, als ein notwendiges Übel zum Schutz von „guten“ Jugendlichen, die nicht „auf die schiefe Bahn geraten“ sollen.
Die Wahrheit vom Kopf wieder auf die Füße stellen
Dabei kennt rassistische Kriminalisierung keine Unschuldigen. Es geht um nichts weniger, als die Deutungshoheit der Polizei praktisch anzugreifen. Konkret heißt das für den Arbeitskreis, konsequent nach den Straf- und Diskriminierungstatbeständen von Polizist*innen beim Kontakt mit den Jugendlichen auf der Straße und in ihren Wohnungen zu fragen und zu forschen, ganz unabhängig davon, ob und inwieweit die Jugendlichen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Schließlich werden die Jugendlichen durch die Einsätze der Polizei von Opfern polizeilichen Fehlverhaltens zu offiziellen Beschuldigten wegen beispielsweise Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelschutzgesetz.
Der Schutz der Jugendlichen vor rassistischer Kriminalisierung bedeutet deshalb auch, ihre Situation als Betroffene rassistischen polizeilichen Fehlverhaltens konsequent anzuerkennen und zu verteidigen. Das beginnt schon im polizeilichen Ermittlungsverfahren, an dem beschuldigte Jugendliche nicht aktiv mitwirken müssen. Die Sicherstellung des Beistands durch rassismussensible Strafverteidiger*innen sollte zur Selbstverständlichkeit werden.
Literatur:
Berliner Flüchtlingsrat: Erneuter Polizeiübergriff in betreutem Jugendwohnen in Berlin – Kein Schutzraum für junge Geflüchtete? (Presseerklärung vom 27.5.2019)
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BuMF): Polizei dringt mit gezogener Waffe in Berliner Jugendhilfeeinrichtung ein. (Pressemitteilung vom 23.7.2019)
Joswig, Gareth: Berliner Polizei. Phänotyp gespeichert (taz vom 5.2.2020)
Klages, Robert: Rassistische Gewalt in Berlin. „Die Täter tragen manchmal auch Uniform“. (Tagesspiegel vom 06.03.2019)
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016): Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden.
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt: Chronik rassistisch motivierter Polizeivorfälle für Berlin von 2000 bis 2020.
Rosa-Luxemburg-Stiftung. Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling (2019): Racial Profiling. Erfahrung-Wirkung-Widerstand.
ReachOut ist eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin. Wir unterstützen und beraten auch Angehörige, Freund*innen der Opfer und Zeug*innen eines Angriffs. Die Situation und die Perspektive der Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt stehen im Zentrum der Arbeit. ReachOut bietet antirassistische, interkulturelle Bildungsprogramme an. ReachOut recherchiert rechtsextreme, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik.