Berliner Zustände: Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 hat die Deutsche Aidshilfe in den sozialen Medien eine Kampagne „Vielfalt gegen rechte Einfalt“ ins Leben gerufen. Außerdem hat die Deutsche Aidshilfe den Aufruf „Vielfalt für alle!“ initiiert, mit dem sich LGBTIQ*-Organisationen „gegen rechts – für eine offene Gesellschaft“ positioniert haben. Was hat sich aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren gesellschaftlich verändert und was waren die Beweggründe, sich als Organisation auch öffentlich zu diesem Thema positionieren zu wollen?
Wicht: Ob man es nun Rechtsruck, Rechtspopulismus, Backlash oder irgendwie anders nennt: Wir erleben ein beängstigendes Erstarken von Nationalismus, Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und sogar völkischen Gedankenguts. Unsere offene, liberale Gesellschaft ist bedroht. Zugleich werden Minderheiten wie LGBTIQ* oder Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte wieder verstärkt angegriffen. Grundlage ist zum Beispiel im Fall von LGBTIQ* ein biologistisch geprägtes Menschenbild, das Sexualität wieder allein in den Dienst der Fortpflanzung stellen sowie sexuelle und geschlechtliche Identität am Ideal der reproduktiven Kleinfamilie messen will. Emanzipationserfolge von LGBTIQ* werden von rechts torpediert, ihre Lebensentwürfe in Frage gestellt – teilweise sogar ihr Existenzrecht.
Damit wendet sich die „Neue Rechte“ gegen Grundrechte und –werte unserer Gesellschaft. Je weiter sie damit durchkommt, desto schlimmer die Folgen für Individuen wie die Gesellschaft. Das allein ist Grund genug, dagegen anzugehen.
Als Aidshilfe positionieren wird uns zudem, weil von dieser Entwicklung in besonderem Maße unsere Kernzielgruppen betroffen sind, die allesamt ohnehin stigmatisiert sind. HIV-Prävention muss immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse einbeziehen.
Was bedeutet das konkret für Ihre Arbeit?
Jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung kann krank machen und ist Gift für Prävention. Abwertung und Ausgrenzung schwächen Menschen, ihre Fähigkeit sich zu informieren und selbstbewusst Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Angst und Scham, die daraus resultieren, werden zu Barrieren beim Zugang zu Prävention, Beratung, zum HIV-Test und gegebenenfalls zur Behandlung. Stigma hat zum Beispiel erheblichen Anteil daran, dass in Deutschland mehr als 11.000 Menschen mit HIV leben ohne es zu wissen und mehr als 1.000 pro Jahr an Aids oder einem schweren Immundefekt erkranken, obwohl es vermeidbar wäre. Viele verdrängen mögliche Risiken, auch aus Angst vor Diskriminierung. Ihre Infektionen bleiben lange undiagnostiziert und unbehandelt. Schwere Erkrankungen sind die Folge, außerdem weitere HIV-Infektionen – unter Therapie ist eine Übertragung nicht mehr möglich.
Aus diesen Gründen setzen wir uns immer auch für gesellschaftliche Verhältnisse ein, die Menschen Gesundheit und ein gesundheitsbewusstes Verhalten ermöglichen. In diesem Sinne ist unser Engagement gegen Rechts zwingend ein Teil unseres Konzepts der „Strukturellen Prävention“.
Anders formuliert: Respekt und Akzeptanz von Menschen und ihren Lebensweisen ist die Grundlage dafür, dass passende Angebote für bestimmte Gruppen überhaupt gemacht werden und genutzt werden können. Genau für diese Angebote ist in hohem Maße die Deutsche Aidshilfe verantwortlich, und zwar mit staatlichem Auftrag. Diese Strategie ist übrigens sehr erfolgreich: Die HIV-Infektionszahlen in Deutschland sind im internationalen Vergleich sehr niedrig. All das gerät in Gefahr, wenn die Voraussetzungen dieser Präventionsarbeit von rechts in Frage gestellt werden.
Wir haben irgendwann angefangen uns mit der Frage auseinanderzusetzen: Wie gehen wir am effektivsten mit Hasskommentaren im Netz um. Und landeten sehr schnell bei der Frage: Was können wir eigentlich proaktiv gegen diese Entwicklung machen?
In welchen Bereichen ist die Deutsche Aidshilfe und/oder ihre Mitgliedsorganisationen von Auswirkungen der Aktivitäten der sogenannten Neuen Rechten oder der Politik von rechtspopulistischen Parteien konkret betroffen? Könnten Sie dies einmal an Hand von Beispielen oder Schwerpunkten beschreiben?
Die „Neue Rechte“ vergiftet das Klima. Zum einen müssen wir immer damit rechnen, dass unser Engagement gegen die Menschen gewendet wird, für die es gemacht wird. Ein Beispiel: Wenn wir öffentlich zu Solidarität mit HIV-positiven Menschen aufrufen, die aus Afrika stammen, dann kommt oft sofort die Interpretation: „Da sieht man’s mal wieder – die Flüchtlinge bringen uns Krankheiten.“ Ähnliches passiert in der Politik, wenn Angebote für Prävention und Versorgung von Migrant*innen geplant oder gefordert werden.
Auch wer sich öffentlich für LGBTIQ* einsetzt, weiß, dass heftiger Gegenwind kommen kann. Stichwort „Gender-Gaga“. Niemand möchte im Netz oder in der Boulevard-Presse am Pranger stehen. Das macht in der Politik und anderen öffentlichen Institutionen manche Menschen vorsichtig. Weil sie wissen, dass Ärger droht, verzichten sie eher auf emanzipatorische Statements und Bilder oder äußern sich zurückhaltender. Der Gegenwind kommt mittlerweile ja auch schon oft aus etablierten Parteien.
Das ist eine große Gefahr: Das rechte Denken sickert wie Gift in Köpfe und Institutionen. Angst lässt Leute übervorsichtig werden, gefährdet breite Unterstützung. Diesen Sieg auf Raten dürfen wir den Rechten nicht lassen. Wir setzen dem bewusst den Wert einer offenen und pluralistischen Gesellschaft entgegen. Wer sich dafür stark macht, soll belohnt werden! Und wir müssen konsequent weiter für marginalisierte Gruppen eintreten, als Aidshilfe natürlich gerade dann, wenn sie von HIV oder anderen Infektionskrankheiten besonders stark betroffen sind. Kurz: Der Widerstand von rechts sollte uns besonders motivieren.
Mitunter versuchen Rechtspopulist*innen durch eine Ethnisierung des Sozialen die Interessen verschiedener marginalisierter Gruppen strategisch gegeneinander auszuspielen. Macht sich dies auch in ihrer Arbeit und der ihrer Mitgliedsorganisationen bemerkbar und wie sieht Ihr Umgang damit aus?
Klar, das erleben wir vor allem in Social Media. Der Klassiker ist die Behauptung, Migrant*innen, insbesondere Muslime, seien gegen unsere offene Gesellschaft und gewalttätig und wir dürften uns deswegen zum Beispiel nicht für Flüchtlinge einsetzen. Damit würden sich LGBTIQ* sozusagen ihr eigenes Grab schaufeln. Und natürlich werden wir auch mit What-Aboutism (Ablenkung von
unliebsamer Kritik durch Hinweise auf andere vermeintliche Missstände;
Anm. d. Red.) oder der Behauptung konfrontiert, Menschen mit HIV oder Drogen konsumierende Menschen seien selbst schuld an ihrer Situation und der Unterstützung durch die Solidargemeinschaft nicht wert. Bis zu einem gewissen Grad halten wir da gerne argumentativ dagegen, machen deutlich, warum dieses schlichte Denken in die Irre führt. Schon allein, weil ja auch immer andere mitlesen, die vielleicht noch nicht so gefestigt sind in ihrer Meinung. Wenn ein gewisser Punkt überschritten wird, ist aber Schluss. Dann wird gelöscht und geblockt.
Welche Resonanz hat es auf die Kampagne und den Aufruf im Jahr 2017 gegeben? Wie sind die Reaktionen der Öffentlichkeit, der Adressat*innen, aber auch in den eigenen Zielgruppen ausgefallen?
Die Social-Media-Kampagne „Vielfalt gegen rechte Einfalt“ hat über 100.000 Leute erreicht. Gefreut hat uns auch die Beteiligung von Prominenten wie Rita Süssmuth, Ralf König, Sookee und vielen anderen. Wir hatten viel Zuspruch und weniger negative Kommentare als erwartet. Aber natürlich gab es auch hier Anfeindungen. Wer so eine Kampagne macht, weiß das natürlich vorher. Wir waren vorbereitet.
In den klassischen Medien wurde die Kampagne nicht aufgegriffen, wohl aber zum Beispiel mehrfach auf queer.de. Bei „Vielfalt für alle!“ haben wir vor allem starke Bilder produziert: Der Reichtstag unterm Regenbogen aus Luftballons taucht bis heute immer wieder in Medien auf. Genau darum ging es uns: ein Bild von einer offenen und wehrhaften Gesellschaft zu setzen und positiv aufzuladen. Unsere Überschrift war damals sehr bewusst: „Die Vielfalt ist ein sicherer Ort für alle.“ Diese Bilder helfen hoffentlich, eine starke Identifikation mit dem Wert unserer offenen solidarischen Gesellschaft emotional zu verankern und spürbar zu machen, wie wir alle als Individuen davon profitieren.
Wenn Sie auf die vergangenen 18 Monate seit den letzten Bundestagswahlen zurückschauen, inwiefern haben sich mögliche Befürchtungen etwa im Hinblick auf Angriffe auf ihre Präventionsarbeit z.B. an Schulen bestätigt und was bedeutet das für künftige Aktivitäten der Deutschen Aidshilfe?
Schulen sind ein gutes Beispiel. Die „Neue Rechte“, in Gestalt von Gruppierungen im Schafspelz wie „Besorgten Eltern“ oder der „Demo für alle“, setzt sich ja mit unglaublicher Vehemenz gegen Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein. Sie verstecken ihre normierenden und Menschen abwertenden Positionen mehr oder weniger geschickt, indem sie vorgeben, Kinder etwa vor „Frühsexualisierung“ schützen zu wollen. Da wird auch Druck auf Bildungspolitik und Schulen aufgebaut. Nehmen wir die Angriffe auf die senatsfinanzierte Broschüre zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in Berlin, die sowohl von der CDU als auch in der B.Z. torpediert wurde, also von durchaus etablierten Kräften. Das zeigt, dass die Entwicklung, von der wir sprechen, nicht auf rechtsextreme Kreise beschränkt bleibt, sondern dass sie die Grenzen des Sag- und Denkbaren im allgemeinen Diskurs verschiebt und weit über sich hinaus wirkt. Die Broschüre wurde in der Öffentlichkeit absurderweise auch als „Sex-Broschüre“ bekannt. Die Strategie der Rechten, emanzipatorische Inhalte als „Frühsexualisierung“ zu diskreditieren, wurde damit teils völlig unreflektiert übernommen.
In der Aufklärung von Kindern und Jugendlichen zu diesen Themen wurde in den letzten Jahren viel erreicht. Das ist auch nötig, unter anderem um die stark erhöhten Suizidraten von jungen Menschen zu senken, die nicht ins Raster passen. Diese Erfolge gilt es zu verteidigen und immer wieder mit guten Argumenten, aber auch mit nachvollziehbaren Lebensgeschichten zu untermauern.
Auch in anderen europäischen Staaten stehen marginalisierte Gruppen unter verstärkten Druck von rechts. Wie blickt die Deutsche Aidshilfe auf die europaweiten Entwicklungen, und gibt es schon Planungen für zukünftige Aktionen zum Thema Vielfalt?
Wir hoffen sehr, dass nationalistische und rechtsextreme Kräfte nicht an Gewicht gewinnen. Deswegen haben wir mit zu der „Ein Europa für alle!“-Demo aufgerufen. Das Thema Vielfalt wird uns weiter beschäftigen, denn es ist die Grundlage für Respekt und Empowerment. Wir arbeiten damit auf politischer Ebene, aber auch in der Arbeit für bestimmte Zielgruppen. Es gibt zum Beispiel auch in unserer Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU für schwule Männer immer wieder Motive und Aktionen für Vielfalt und Akzeptanz gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen. Denn selbst einer Minderheit anzugehören schützt leider nicht automatisch vor Intoleranz und Abwertung anderer.