Eine Fallgeschichte zu antimuslimischem Rassismus in Berlin

Sahras Vater reiste 1975 nach Deutschland ein. Ein Jahr später holte er die Familie nach. In ihrem Geburtsland war Bürgerkrieg ausgebrochen. Sahra war 1976 drei Jahre alt und lebt seitdem in Berlin. Sie ist in Charlottenburg aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. In ihrer Klasse waren sehr wenige Schüler_innen mit Migrationshintergrund. Aufgrund ihres Vornamens hatte sie öfter Schwierigkeiten.

 

Als ich in der 5. Klasse auf meine erste Klassenfahrt fuhr, hatte ich Probleme an der Schweizer Grenze. Die Beamten dort wollten mich nicht über die Grenze lassen und sagten, ich müsse dort alleine warten. Sie sagten, sie könnten ja nicht sicher sein, ob ich nicht in der Schweiz illegal leben und arbeiten wolle. Zudem meinten sie, sei mein Name eigentlich ein Männername. Als wir eine Klassenfahrt in die DDR machten, war ich wieder die Einzige, die aus dem Bus aussteigen musste, da ich kein Visum hatte. Ich musste alleine in einen Container, in dem Soldaten mit Gewehren standen. Nachdem ich etwas unterzeichnet hatte, durfte ich wieder in den Bus steigen. Nach der fünften Klasse habe ich zum Glück die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Das war für mich und meine Geschwister eine große Erleichterung, denn das hieß, dass wir nie wieder zur Ausländerbehörde gehen mussten, wenn wir z.B. auf Klassenfahrt fahren wollten. Es war jedes Mal schrecklich zur Ausländerbehörde gehen zu müssen, da man morgens schon um 7.30 Uhr anstehen musste und die Menschen, die dort arbeiteten, waren nie nett zu einem.

Seit 1996 lebt Sahra mit ihrem Mann in Berlin-Kreuzberg. Als sie ihren Mann heiratete, musste sie wieder zur Ausländerbehörde.

Es war hart wieder dort hingehen zu müssen. Jedoch habe ich mich diesmal stärker gefühlt, da ich die deutsche Staatsbürgerschaft hatte. Es war trotzdem wirklich hart mit dem Neugeborenen so früh morgens anstehen zu müssen. Seit ich 15 Jahre alt bin, habe ich gearbeitet. Ich habe auch gut verdient und konnte gut von meinem Geld leben. Nach ein paar Monaten, nachdem mein Mann aus dem Libanon gekommen war, reichte das Geld leider nicht mehr aus für uns beide zusammen. Eine Freundin gab mir den Rat, dass ich zum Sozialamt gehen könne, da mein Mann einen dreijährigen Aufenthalt bekommen habe und somit Anspruch auf Leistungen habe. ich ging also zusammen mit meinem Mann das erste Mal in meinem Leben zum Sozialamt. Die Frau, die uns damals im Kreuzberger Sozialamt gegenüber saß, sagte zu mir: «Selbst Schuld! Warum heiraten Sie denn auch einen aus dem Libanon? Jetzt müssen wir hier auch noch ihren Mann bezahlen.» Als ich später bei der Sozialberatung war, sagte mir die Frau dort, dass ich mir ja nicht vorschreiben lassen dürfe, wen ich heiraten würde.

Sahra hat vier Kinder. Als sie mit ihnen und deren Cousinen am Potsdamer Platz ein Eis essen ging, machte ein Passant abfällige Bemerkungen in Bezug auf «die vielen Kinder.» Die Kinder liefen freudig vor, da sie die Eisdiele schon kannten. Da sagte ein Mann auf der Straße zu seiner Frau: «Die haben wohl nichts anderes zu tun, als Kinder in die Welt zu setzen.»

Leider ist mir in diesem Moment keine Antwort oder Reaktion eingefallen. Aber ich war schockiert darüber, wie andere Menschen von außen einfach so über mein Leben urteilen, ohne zu wissen, was die Hintergründe sind. Auch im Krankenhaus, als ich mein viertes Kind bekommen hatte, sagte meine Bettnachbarin in einem abfälligen Ton: «Peter, die hat schon ihr viertes Kind bekommen.» Dies sagte sie so laut, dass es für mich nicht zu überhören sein konnte. In diesem Krankenhaus ist mir einmal etwas Schreckliches passiert, was ich bis heute nicht vergessen kann. Ich musste mit meinem kleinen Sohn, der eine Lungenentzündung hatte, in das Krankenhaus gehen. Es ging meinem Sohn sehr schlecht und er brauchte dringend Medikamente. Es war sehr heiß an diesem Tag. Mein Mann und ich hatten natürlich vorher geduscht und wir sind auch so immer sehr gepflegt. Als die Ärztin in das Behandlungszimmer kam, sagte sie zu uns: «Das nächste Mal, wenn sie diese Einrichtung aufsuchen, dann duschen sie bitte zuerst. Sie sehen doch, wie klein diese Räumlichkeiten sind.» Ich war so perplex und schockiert über diese Aussage, dass ich nicht wusste, was ich machen oder sagen sollte. Sie hatte meinen kranken Sohn nicht mal angesehen oder uns beraten, ob er Medikamente benötigt. Schockiert ging ich mit meinem Mann und meinem Sohn aus dem Krankenhaus. Als wir draußen waren, sahen wir, wie hinter uns die Fenster aufgerissen wurden, um den Raum, aus dem wir gerade kamen, zu lüften.
Dieses Erlebnis war für mich und meinen Mann so einschneidend und demütigend, dass wir uns bis zum heutigen Tag vor jedem Arzt- und Krankenhausbesuch duschen und waschen

Auch von Familienangehörigen und Freund_ innen weiß Sahra, dass sie eine Menge rassistischer Diskriminierungen erfahren haben. So musste ihr Mann wegen einer Sache bei Gericht erscheinen.

Es ging um einen kleinen Fall, der nichts mit seinen Sprachkenntnissen zu tun hatte und auch nicht mit seinem Aufenthalt in Deutschland. Trotzdem fragte der Richter ihn, wie lange er schon in Deutschland leben würde und warum sein Deutsch denn trotzdem so schlecht sei. Zum Glück reagierte der Anwalt gut darauf und erwiderte, dass diese Fragen nichts mit dem vorliegenden Fall zu tun hätten. Meiner Mutter sind schon viele rassistische Beleidigungen untergekommen, vor allem auch, weil sie ein Kopftuch trägt. So musste sie zum Beispiel im Supermarkt ihre Handtasche öffnen, weil die Verkäuferin hineinschauen wollte, ob sie auch nichts geklaut hatte und im Bus wurde sie von einem deutschen Fahrgast angeschrien. Weil er keinen Sitzplatz hatte, meinte er: «Die Ausländer sitzen und die Deutschen stehen.» Dann forderte er sie auf, den Platz frei zu machen. Sie weigerte sich aber. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass ihr Sohn in der Grundschule von seinem Lehrer immer diskriminiert wurde. Es war ein sehr junger Lehrer gewesen, einmal machte er eine Äußerung wie: «Ich habe zwar nichts gegen Ausländer, aber Deutschland gehört den Deutschen.» Nach den Sommerferien sollte jeder Schüler über seine Ferien berichten. Als der Sohn meiner Bekannten an die Reihe kam, übersprang der Lehrer ihn einfach, weil er der Meinung war, dass er ja nur im Libanon gewesen sei und das sowieso nicht interessant oder schön ist. Er sagte: «Wir machen einfach mit dem nächsten weiter.» Der Junge ist jetzt 18 Jahre alt und kann diesen Vorfall bis heute nicht vergessen. Es war ihm in diesem Moment sehr unangenehm und gleichzeitig fühlte er sich absolut enttäuscht. Zwei Freundinnen, die in Berlin-Reinickendorf wohnen, erfahren ständig rassistische Diskriminierungen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft und weil sie ein Kopftuch tragen. So ist einer an einer Bushaltestelle etwas passiert. Dabei fühlte sie sich sehr hilflos. Irgendetwas war geschehen und ein etwas älterer deutscher Mann schrie sie plötzlich an. Er gab an, Polizist zu sein, ohne einen Ausweis oder Ähnliches vorzuzeigen. Sie spricht fast gar kein Deutsch und glaubte dem Mann, als er einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche holte und zu ihr sagte, er wolle eine Anzeige erstatten. Sie versuchte, mit ihm zu kommunizieren und fragte ihn, warum er Anzeige erstatten wolle. Er verdrehte jedes Wort, das sie sagte und warf ihr vor, sie würde Ausdrücke zu ihm sagen und sie solle den Mund halten. Dabei machte er sich Notizen. Die anderen Leute an der Bushaltestelle schauten nur zu, niemand kam ihr zu Hilfe, außer einem ca. 12 Jahre alten Mädchen. Sie sagte zu dem Mann, dass es nicht wahr sei, die Frau habe das alles gar nicht gesagt. Dann schrie er auch das kleine Mädchen an. Sie bekam Angst und zog sich zurück. Zwischendurch sagte er: «Ich werde euch schon dazu bringen, zurück in eure Heimat zu gehen.» Meine andere Freundin wurde auch auf offener Straße diskriminiert. Einem Passanten gefiel ihr Kopftuch nicht. Er schrie sie an mit den Worten, «Dich sollte man vergasen». Sie hatte danach lange Zeit Angst, alleine mit ihren Kindern auf die Straße zu gehen.

Der Text ist der deutsch-arabischen Broschüre „Ich möchte wie ein Mensch behandelt werden. Antimuslimischer Rassismus, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Menschen arabischer Herkunft“, herausgegeben von ReachOut und der Arabischen Eltern-Union, entnommen.

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