Kulturalisierung des Sozialen
Dieser populistische Slogan reiht sich ein in Entwicklungen des Einwanderungsdiskurses und europäischer Migrations- und Armutspolitiken, die sich vor dem Hintergrund aktueller Krisendynamiken vollziehen. Chiffren dieser Debatten sind »kluge Köpfe« sowie »Wirtschafts-« und »Armutsmigranten«. In Bezug auf die aktuelle Diskussion um »Armutsmigration« und »Sozialtourismus« ist es wichtig, die dominanten Zuschreibungs- und Repräsentationspraxen in den Blick zu nehmen, weil dadurch bestehende Ungleichheiten plausibilisiert werden. Eine Kritik, die sich darauf beschränkt, läuft Gefahr, der Reichweite des Rassismus als sozialem Herrschaftsverhältnis nicht gerecht zu werden, denn es drohen aktuelle Prozesse autoritärer Migrations- und Armutspolitiken aus dem Blick zu geraten, die gegenwärtig von den Regierungen der EU-Staaten etabliert und ausgebaut werden.[1]
In aktuellen medialen Debatten um »Armutszuwanderung« und »Sozialtourismus« sind zwei Positionen bestimmend: eine kulturalisierende, Einwanderung eher ablehnende einerseits und eine aus wirtschaftlichen Gründen Einwanderung befürwortende Haltung andererseits. Ein anschauliches Exemplar für erstere Variante lieferte die Publizistin Necla Kelek in einem Kommentar in der »Welt« Anfang Januar. Kelek führte Armut und Ungleichheit auf den »kulturellen Hintergrund« von Roma zurück. Sorgen bereiten ihr vor allem die Kinder, denn diese würden von Eltern und »Clanchefs zum Betteln oder Arbeiten auf die Straße geschickt«, außerdem seien Zwangsverheiratungen üblich (Die Welt, 5.1.14). Kelek steht mit dieser Einschätzung nicht alleine. In ähnlicher Weise argumentierte auch der emeritierte Kölner Erzbischof Joachim Meisner, als er gegenüber dem »Kölner Stadt-Anzeiger« im April 2013 meinte, die Bevölkerungsgruppe der Roma aus der Slowakei sei »in unsere Zivilisation nicht zu integrieren«, denn manche Frauen würden jedes Jahr ein Kind bekommen und dann vom Kindergeld leben (Kölner Stadt-Anzeiger, 10.4.14).
Was in den Äußerungen Meisners und Keleks beispielhaft zum Ausdruck kommt, sind rassistische Stereotype, die in den letzten Jahren vermehrt Rom_nija treffen. Zu dieser Stereotypisierung gehört auch die Gleichsetzung von »Armutsmigranten« und »Roma«. Hier werde eine deutliche Schieflage der Repräsentation von Romn_nija deutlich, wie der Antiziganismus-Forscher Markus End jüngst betonte. End kritisierte die Etablierung der Gleichsetzung von »Armutszuwanderer = Roma«, »ähnlich wie bei den ›Klau-Kids‹« könne man »diese Begriffe nicht mehr verwenden, ohne dass eine Abwertung von Roma mitgedacht wird« (netz-gegen- nazis.de, 7.2.14). In den medienpolitischen Diskursen wurde somit die Migration aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien fest mit dem mittlerweile dominanten und rassistisch aufgeladenen Deutungsmuster »arme Roma« verkoppelt, ungeachtet dessen, dass ein Großteil der Migrant_innen aus Rumänien und Bulgarien keine Rom_nija sind.
Dass mit Kelek und Meisner auch zwei Akteur_innen der Formierung eines antimuslimischen Bürgertums auftreten, verdeutlicht die Flexibilität rassistischer Projektionen. Meisners und Keleks Äußerungen gründen sich auf ein auch für den antimuslimischen Rassismus konstitutives Verständnis von Kultur, die zur quasi-natürlichen Eigenschaft von Menschen wird. Trotz aller (insbesondere historischen) Spezifika des Antiromaismus bzw. des Antiziganismus sind in der derzeitigen diskursiven Formation Überschneidungen zum antimuslimischen Rassismus erkennbar: Das Gegenstück zur Fremdheitskonstruktion bleibt bestehen. »Die« Kultur des Islams oder die der Rom_nija stehen im Blickfeld, das jeweilige Gegenstück zur »europäisch-abendländischen Kultur« gilt entsprechend als »unzivilisiert«, »unaufgeklärt«, »bildungsfern« und »leistungsunfähig«. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Kelek in ihrem Kommentar »die Europäer« auffordert, sich gegen die »mittelalterlichen Sitten« der Rom_nija einzusetzen, denn »Freiheit und Menschenrechte werden nicht nur am Hindukusch verteidigt, sondern auch in Duisburg und Neukölln« (Die Welt, 5.1.14).
Nützliche gegen Nutzlose
Neben diesen offensichtlichen rassistischen Zuschreibungen finden sich in aktuellen hegemonialen Debatten um »Armutsmigration« viele Positionen, die sich positiv auf Einwanderung beziehen und die damit verbundenen Chancen hervorheben. Im Zuge der Diskussion um das CSU-Papier ist die Position dominant, die die ökonomische Nützlichkeit der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien in den Vordergrund rückt. So warnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor Schäden für die Wirtschaft: »Die Zuwanderung insgesamt darf nicht durch eine aufgeheizte politische Diskussion in ein schlechtes Licht gerückt werden«, sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben (Handelsblatt, 4.1.14). Auch Kritiker betonen, dass die meisten Migrant_innen zwar arbeiten wollen oder Fachkräfte seien, es aber trotzdem eine Minderheit gebe, die unqualifiziert oder arbeitsunwillig sei. Insgesamt wird der Nutzen hervorgehoben, so etwa von der Vorsitzenden des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Christine Langenfeld, die anlässlich der Präsentation des Jahresberichts 2013 in einer Pressemitteilung vom 12. April 2013 hervorhob: »Durch die qualifizierte Zuwanderung aus EU-Staaten erzielt Deutschland eine messbare Freizügigkeitsdividende. Das wird bislang viel zu wenig wahrgenommen«.
Auf den ersten Blick mag dem liberalen Verweis auf Leistung im dominanten Diskurs aus einer antirassistischen Perspektive etwas Positives abgewonnen werden, da dadurch der Naturalisierung etwas entgegen gesetzt wird. Allerdings wiederholt die aktuelle Debatte im Kern das Ergebnis der »Sarrazindebatte« im Herbst 2010. Der Rassismus wird nicht verdrängt, sondern mit Verweisen auf Leistung bedient er sich neuer Spaltungslinien zur Aufrechterhaltung der rassistischen Verhältnisse, die entlang von Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit etabliert werden. Während der »Sarrazindebatte« setzte sich diskursiv die Trennung zwischen »Musterbeispielen gelungener Integration« und »Integrationsverweigern« durch[2] und in der aktuellen Debatte verläuft die Aufteilung zwischen »diejenigen, die arbeiten wollen« und »diejenigen, die in unsere Sozialsysteme einwandern wollen«. Der Vergleichsmaßstab ist trotz unterschiedlicher Ansichten hinsichtlich der Größenordnungen auch bei den Bezügen auf die »gut ausgebildeten Fachkräfte« die Verwertbarkeit. In einer »ZEIT ONLINE«-Reportage wird am Beispiel eines rumänischen Kochs hervorgehoben: »Anspruchsvoll sind die Rumänen nicht. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit liegt bei 47,5 Stunden in der Woche. Oft werden daraus bis zu 220 Stunden im Monat. Cazocu bekam dafür anfangs 1.000 Euro brutto im Monat, mittlerweile sind es 1.500. Vom deutschen Staat hat er noch nie einen einzigen Euro an Hilfe erhalten« (Zeit Online, 9.1.14).
Hier zeigen sich die Fallstricke, die Bezüge auf »positive Beispiele« mit sich bringen. Zwar erweitern die Beispiele die Repräsentationsformen und können den rassistischen Stereotypen entgegenwirken, doch dienen sie zugleich als sichtbarer Beweis für die Leistungsideologie, die verspricht: Wer sich genügend anstrengt, kann es zu etwas bringen. Die meisten Entgegnungen stehen zum Großteil fest auf der Grundlage der CSU-Prämissen und drohen in sich zusammen zu fallen, wenn sich die Einschätzung darüber verändert, wer als nützlich oder nutzlos erscheint. Was wird etwa aus den medial immer wieder positiv hervorgehobenen fleißigen Arbeitsmigrant_innen im Niedriglohnbereich, wenn die wirtschaftliche Konjunktur sie gerade nicht braucht? Rassistische Elemente im Einwanderungsdiskurs hinsichtlich der Zuschreibungspraxen zu fokussieren, reicht unseres Erachtens nicht aus. Gerade bezüglich des Komplexes Arbeit-Migration sollte Rassismus weiter gefasst werden. Wie der leider kürzlich verstorbene Soziologe Stuart Hall klarmachte, setzt Rassismus Menschen ins Verhältnis zueinander und reguliert dadurch den Zugang zu ökonomischen und symbolischen Ressourcen.[3] Es geht also um weit mehr als um Zuschreibungspraxen − den gegenwärtigen Rassismus im Zusammenhang mit Debatten um »Armutsmigration« zu thematisieren, sollte auch bedeuten, die realen sozioökonomischen Verhältnisse zu betrachten, in denen sich viele Migrant_innen befinden.
Lebenssituation von »Armutsmigranten«
Eine Reihe hilfreicher Fernsehreportagen und Dokumentationen antirassistischer und antifaschistischer Gruppen versuchte die Lebenssituationen vieler Migrant_innen aus dem Südosten Europas darzustellen. Nach ihrer Ankunft sind Migrant_innen häufig einer Vielzahl von Herrschaftsmechanismen ausgesetzt, die es fast unmöglich machen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Ein Großteil der Migrant_innen kommt in Häusern unter, die als »Schrottimmobilien« zu bezeichnen sind. Fließendes Wasser, funktionierende Sanitäranlagen oder Strom sind selten vorhanden. Dennoch werden Tages- oder Wochenmieten verlangt, die oftmals die ganze Habe aufzehren oder zu Schulden bei den Vermieter_innen führen, welche aus den längst auf dem hiesigen Immobilienmarkt nicht mehr vermietbaren Wohnungen Profit schlagen. Wer das Geld für diese kurzfristige Bleibe nicht aufbringen kann, muss auf der Straße leben. Der prekäre Lebensalltag wird über alledem noch verschärft durch die permanente Angst vor gewalttätigen Übergriffen, die durch Demos und Mahnwachen von Akteur_innen der extremen Rechten und enthemmten Anwohner_innen drohen.
Diese Überausbeutung setzt sich nahtlos auf dem Arbeitsmarkt fort, wo Migrant_innen als Tagelöhner_innen (»Arbeiterstrich«) versuchen, Geld für das Nötigste als Umzugs- oder Bauhilfen zu verdienen. Zu dieser prekären Arbeits- und Wohnsituation kommt der teilweise versperrte Zugang zu sozialer und medizinischer Grundversorgung. Zum einen deshalb, da Migrant_innen von medizinischen oder sozialen Einrichtungen abgewiesen werden, weil sie aus »Bulgarien oder Rumänien« kommen. Zum anderen, weil sie häufig kaum Kenntnisse haben über die spärlichen Hilfsangebote und Ansprüche von Sozialleistungen (z.B. Kindergeld). Eine weitere Facette der rassistisch strukturierten Lebensverhältnisse vieler Migrant_ innen sind die drohenden Abschiebungen, wenn die Aufenthaltsberechtigung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Die existenzielle Bedrängnis durch den Staat setzt sich, hier am Beispiel der Stadt Duisburg, auch in Praxen des racial profiling, Hausdurchsuchungen der Polizei und Personenzählungen in einem von Migrant_innen bewohnten Haus fort. Der prekäre Lebensalltag wird über alledem noch verschärft durch die permanente Angst vor gewalttätigen Übergriffen, die durch Demos und Mahnwachen von Akteur_innen der extremen Rechten und enthemmten Anwohner_innen drohen.[4]
Projekt Europa und die »Armutszuwanderung«
Für eine Analyse der gegenwärtigen Debatten halten wir es für wesentlich, die sozioökonomischen Verhältnisse und Krisendynamiken in der Europäischen Union zu rekonstruieren, um die gesellschaftliche Funktion der rassistischen Praxen auf diskursiver, urbaner und kommunaler Ebene mit sozioökonomischen Gesamtprozessen zu verbinden. Mit der letzten Osterweiterung im Jahr 2007 traten mit Bulgarien und Rumänien – beides Ausgangsorte der Migration, gegen die sich die aktuellen Diskussionen wenden − zwei Länder der EU bei, die in den letzten sieben Jahren immer wieder in den Sog kapitalistischer Krisen geraten sind. Die globale Finanzkrise 2009 traf beide besonders hart[5], zumal die Übernahme der neoliberalen Doktrin, die allen EU-Beitrittsländern aufgezwungen wird, bereits verheerende Einschnitte in der staatlichen Infrastruktur Rumäniens und Bulgariens hinterlassen hatte. Bulgarien und Rumänien haben sich unterdessen zu »Billiglohnländern der EU« gewandelt. Mit dem Beitritt der beiden Balkan-Staaten erschlossen sich die führenden Länder der EU – allen voran die Bundesrepublik Deutschland − neben neuen Märkten und billigen Produktionsbedingungen auch neue qualifizierte Arbeitskräfte, nach denen die deutschen Arbeitgeberverbände so dringend gerufen hatten. Die so unter finanzpolitische Kontrolle gestellten Länder wurden im Zuge der Finanzkrise 2009 nun vollends zur ökonomischen und politischen Peripherie Europas gemacht – Griechenland kann als weiteres Beispiel für die systematische ökonomische Ausbeutung (Süd-)Osteuropas angeführt werden.
„Es geht aus unserer Sicht um die Festsetzung einer flexiblen »inneren Grenze« Europas – wer gehört dazu und wer nicht.“
Gleichzeitig stellt sich aber für die führenden Staaten der EU die Frage, wie sie mit den durch ihre neoliberale Politik verursachten »Problemen« umgehen sollen. Während man auf die qualifizierten Arbeitskräfte nicht verzichten möchte, sollen aus Sicht der politischen Klasse der EU-Länder »Arme« besser in ihren »Herkunftsländern« bleiben. Schon vor dem Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgar_innen und Rumän_innen wurde daher das Drohszenario der »Armutsmigration« an die diskursive Verknüpfung von Migration und Arbeit gekoppelt und damit wirkmächtig an den Einwanderungsdiskurs der letzten Jahrzehnte angeschlossen, in dem − etwa in der sogenannten Asyl-Debatte Anfang der 1990er Jahre oder in der »Sarrazindebatte« 2010 − Migration, Flucht und Asyl immer wieder mit »massenhafter Einwanderung in die Sozialsysteme« verbunden wurde. Diese Deutungsmuster können als Versuch verstanden werden, mittels rassistischer Diskriminierungspraxen eine Abwehrstrategie gegenüber der gegenwärtigen »legalen« Mobilität zu etablieren. Es geht aus unserer Sicht um die Festsetzung einer flexiblen »inneren Grenze« Europas – wer gehört dazu und wer nicht. Dies lässt sich auch an den aktuellen Debatten ablesen, nämlich dann, wenn gefragt wird, wie trotz juristisch legaler Freizügigkeit Mobilität innerhalb Europas verhindert werden kann. Der mit rassistischen Stereotypen durchsetzte Diskurs zur »Armutsmigration« stellt eine Blaupause für die Bearbeitung von realer Armut in der Europäischen Union dar: Menschen, die in extrem prekären und existenzbedrohenden ökonomischen Verhältnissen leben, werden kriminalisiert – ökonomische Not und Kriminalität werden dabei im Diskurs zur »Armutsmigration« verbunden mit der rassistischen Stereotypisierung als »Roma«. Als Bearbeitungsstrategie greifen Städte und Kommunen auf law and order und eine autoritäre Armutspolitik zurück, die den alltäglichen Druck auf die Menschen noch mehr verstärkt, das Leben unerträglich macht.
An dem rassistischen Diskurs scheinen neben politischen Funktionären von Bund bis Kommune auch Medien und die »lokale Öffentlichkeit« mitzustricken. Hier tut das hegemoniale Deutungsmuster des »Zahlmeisters Deutschland« sein Übriges – »nach den Griechen, nun auch die Roma!« Die umfassenden Entsolidarisierungsprozesse im Zuge der europäischen Sparpolitik werden durch rechte und autoritäre Politikprogramme bedient, in denen Armut stets selbstverschuldet ist, extrem rechte Akteure setzen dort an, um Armut zu »ethnisieren«. Die rassistisch aufgeladene Debatte um »Armutsmigration« und ihre autoritären Bearbeitungsstrategien deuten neben der dramatischen Auswirkung auf den Lebensalltag von Migrant_innen auch auf die politisch-ökonomische Konstruktion Europas hin, in der Armut schlichtweg in die Peripherie verdrängt werden soll. Die De-facto-Relativierung von rechtsstaatlich garantierten Ansprüchen als Unionsbürger_innen durch die alltäglichen Diskriminierungspraxen, wie zum Beispiel durch Polizei, Ordnungsamt und kommunale Institutionen, deutet auf die Durchsetzung einer prekären Bürgerschaft hin: die EU-Staatsbürgerschaft und die damit einhergehenden Rechte werden durch einen permanenten Ausnahmezustand, dem Migrant_innen ausgesetzt sind, schlichtweg aufgehoben. Und dass auch die gegenwärtige Rechtslage keineswegs unverrückbar ist, hat jüngst der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok mit seiner Forderung nach Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und einer Registrierung von Fingerabdrücken von Migrant_innen gezeigt – dauerhaft in einem anderen EU-Staat leben dürften nach Brok nur jene, die »eine Arbeit haben, selbstständig [sind] oder nachweisen [können], dass [sie] über ausreichende Finanzmittel verfüg[en] und krankenversichert [sind]« (Bild, 3.1.14). »Europa« bleibt in dieser Form ein Klassenprojekt von oben.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass aktuelle Debatten auf weit mehr abzielen als auf die Reproduktion rassistischer Stereotype, denn es sind aus unserer Sicht vor allem die sozioökonomischen Bedingungen (autoritäre Sozialpolitik, restriktives Migrationsregime, prekäre Arbeitsverhältnisse) und institutionellen Herrschaftsstrukturen (bspw. racial profiling, Abschiebung, Diskriminierung auf Wohn- und Arbeitsmärkten), in denen diese Zuschreibungen ihre destruktive Dynamik entfalten. Eine Analyse rassistischer Ideologeme und Ausgrenzungspraktiken bleibt umso mehr notwendig, da aus linker antirassistischer Sicht in naher Zukunft nicht davon auszugehen ist, dass sich die Kontexte und die medialen Debatten verbessern werden. Eine Auseinandersetzung mit den rassistischen Zuständen muss daher den Blick erweitern und eine Analyse der Zuschreibungspraxen mit einer Kritik der politischen Ökonomie verbinden. Historisch lässt sich zeigen, dass rassistische Praxen immer wieder Migrationsbewegungen kanalisiert, sortiert und letzten Endes (zeitweise) legitimiert oder illegalisiert haben. Rassistische Alltagsstrukturen formieren somit durch die Regulierung von ökonomischen, symbolischen und sozialen Ressourcen erheblich die Lebenswelt von Migrant_innen. Rassistische Zuschreibungen sind dabei ein Versuch der Legitimation von sozialer Herrschaft. Die Vergegenwärtigung von Rassismus als ein solches dynamisch-gesellschaftliches Verhältnis ist aus unserer Sicht eine der aktuellen Herausforderungen antirassistischer Analyse.
Das DISS arbeitet seit Ende der 1980er Jahre zu den Themenfeldern Rassismus, Migration, extreme Rechte und Diskurstheorie und interveniert aus kritisch- wissenschaftlicher Perspektive in aktuelle Debatten.
- ↑ Wenn wir die Debatte um »Armutsmigration« in diese Richtung analysieren, möchten wir damit nicht den Eindruck erwecken, dass dies der einzige Hintergrund ist, vor dem sich die Debatte abspielt. Kompetenz- und Verteilungsfragen zwischen EU-Institutionen und den verschiedenen Ebenen der föderalen Bundesrepublik bilden eine weitere Folie, der Beachtung geschenkt werden muss, die wir an dieser Stelle aber nicht bieten können. Insbesondere die Warnungen des Städte- und Gemeindebundes zielen in erster Linie auf EU-Gelder ab, wenn in drastischer (und teils auch kulturalisierender und ethnisierender) Weise soziale Probleme thematisiert werden.
- ↑ Sebastian Friedrich / Hannah Schultes (2011): Von ›Musterbeispielen‹ und ›Integrationsverweigerern‹. Repräsentationen von Migrant_innen in der ›Sarrazindebatte‹. In: Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Münster. S. 77-95.
- ↑ Hall, Stuart 2000: Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Räthzel, Nora (Hg.): Theorien über Rassismus. Hamburg. S. 7-16.
- ↑ Der AK Antiziganismus des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) arbeitet zur Zeit zum Alltagsantiziganismus mit besonderem Augenmerk auf die Wechselbeziehung zwischen bürgerlichem und extrem rechten Spektrum.
- ↑ Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beider Länder sinkt im Zuge der Finanzkrise 2009 drastisch (Bulgarien: -5,5%, Rumänien: -6,6%) und stagniert auf niedrigem Niveau. Die Arbeitslosenquote steigt im Falle Bulgariens zwischen 2009 und 2013 von 6,5% auf 13,0%. Der öffentliche Schuldenstand nimmt in Rumänien zwischen 2009 und 2012 von 23,6% auf 37,9% zu. Beide Länder weisen mit die größten Einkommensungleichheiten in der EU auf. Fast jede_r Zweite ist in Bulgarien und Rumänien von Armut bedroht (alle statistischen Angaben nach http://epp. eurostat.ec.europa.eu/ (letzter Zugriff 12.03.2014)).