Um einen Angriff als extrem rechts, rassistisch, antisemitisch, LGbTIQ* feindlich einzuordnen, stehen für ReachOut die Perspektiven und Wahrnehmungen der Betroffenen im Vordergrund. Weitere Kriterien können die Art und Weise der Tat beziehungsweise die besonderen Tatumstände sein. So finden beispielsweise rassistische Angriffe für die Opfer meistens völlig unvermittelt statt, ohne dass es irgendeine Vorgeschichte dazu gibt. Auch Bedrohungen und Nötigungen werden von uns als Angriff definiert. Die Straftatbestände, wie sie im Strafgesetzbuch definiert werden, spielen eine untergeordnete Rolle. So kann zum Beispiel eine Sachbeschädigung aus der Perspektive der Betroffenen eine massive Bedrohung darstellen. Ganz besonders dann, wenn dadurch die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen gefährdet ist oder zerstört wird. Das kann so sein wenn, wie 2014 geschehen, in ein Lokal eingebrochen wird, Mobiliar zerstört und die Wände mit rassistischen Parolen beschmiert werden. Dennoch: bei den meisten der von uns dokumentierten Taten werden Menschen verletzt, 156 im Jahr 2014 (2013: 169), oder es handelt sich um versuchte Körperverletzungen und Bedrohungen, die in diesem Jahr 119 betrugen (2013: 112). Rassismus ist das häufigste Tatmotiv und steigt jährlich noch an. In 100 (2013: 87) Fällen wurden deswegen Menschen bedroht und verletzt. Linke, vor allem Antifaschist_ innen, wurden 31 mal (2013: 27) angegriffen. 18 (2013: 8) Angriffe waren antisemitisch motiviert. Darüber hinaus schauen wir, wo sich die Angriffe ereignet haben. All das ist nicht zuletzt wichtig, um Gegenproteste und -strategien zu organisieren.
„Rassismus ist das häufigste Tatmotiv und steigt jährlich noch an.“
Informationen über Angriffe weitergeben
Wir nehmen Veröffentlichungen aus den Medien und Meldungen von den Ermittlungsbehörden auf. Entscheidend sind vor allem die Informationen, die wir von antifaschistischen/antirassistischen Gruppen, Initiativen und Projekten wie den bezirklichen Registerstellen erhalten. Dazu kommen die Informationen, die wir direkt von den Opfern und Zeug_innen erhalten, die zu uns in die Beratung kommen. Bei den Recherchen geht es nicht nur darum, zu dokumentieren und zu veröffentlichen, welche Angriffe in Berlin stattfinden. Wir wollen vor allem Kontakt mit den Betroffenen aufnehmen, um herauszufinden, ob sie unsere Unterstützung brauchen. Deswegen sind Netzwerke für unsere Arbeit so wichtig. Denn durch sie können die Betroffenen auf unsere Beratungsarbeit hingewiesen werden. Deswegen immer wieder die Bitte: Informationen über Angriffe an uns oder andere Projekte weitergeben! Wir brauchen für die weiteren Recherchen wenige grundsätzliche Daten, diese aber so genau wie möglich. Was ist wann (Datum und Uhrzeit) und wo passiert?
Rassismus in Mitte
Die meisten Angriffe fanden in Mitte statt. Während dort in den letzten Jahren höchstens 12 Gewalttaten gemeldet wurden, waren es 24 Körperverletzungen und massive Bedrohungen im Jahr 2014, von denen wir erfuhren. Viele davon geschahen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an Bahnhöfen. Am 6. November zum Beispiel wird eine 31-jährige Frau gegen 15.45 Uhr in der Straßenbahn auf dem Alexanderplatz von einem 32-jährigen Mann rassistisch beleidigt und ins Gesicht geschlagen. Ein 25-jähriger Mann greift ein und der Täter versucht auch ihn zu schlagen. Am 13. Oktober wird eine Frau, die von ihrem dreijährigen Sohn begleitet wird, morgens in der U-Bahnlinie 6 kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße von einem Mann rassistisch beleidigt und das Kind wird geschlagen. Nach wie vor bleibt es die Ausnahme, dass Passant_innen eingreifen und den Opfern zu Hilfe kommen.
Angriffe auf Geflüchtete
Die Angriffe, die im Zusammenhang mit den rassistischen Protesten gegen geflüchtete Menschen gesehen werden müssen, setzen sich auch 2014 fort. Mindestens 18 Gewalttaten und Bedrohungen richten sich gegen Flüchtlinge und deren Unterstützer_innen.
So findet am 7. Oktober 2014 um 18.00 Uhr ein Treffen von Teilnehmer_innen der Initiative »Hellersdorf hilft« in der Begegnungsstätte Ladenlokal (LaLoka) statt. Auf dem Weg dorthin wird ein Teilnehmer von Neonazis erkannt und verfolgt. Er flüchtet in das LaLoka. Etwa 15 Neonazis dringen in den Vorraum ein und bedrohen die Anwesenden bis die Polizei erscheint. Am 30. August wird ein 14-jähriges Mädchen, das in einer Gruppe von Kindern aus den Geflüchtetenunterkünften in der Carola-Neher-Straße und Maxie-Wander-Straße unterwegs ist, an einer Bushaltestelle von einem unbekannten Mann absichtlich angerempelt. Wir gehen davon aus, dass kontinuierliches monitoring rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe erheblich dazu beiträgt, das Ausmaß realistischer darstellen zu können. monitoring macht Sinn, um Strategien zu entwickeln und Proteste zu organisieren. Um damit eine solidarische Unterstützung mit den Betroffenen zu erreichen, sollten deren Perspektiven und Bedürfnisse unbedingt einbezogen werden. In jedem Fall ist es notwendig, Beobachtungen oder auch eigene Erlebnisse weiterzugeben, auch wenn es keinen unmittelbaren Beratungsbedarf gibt. Denn eines ist mittlerweile offensichtlich: Die wenigsten Erkenntnisse haben wir aus den Bezirken Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf. Dort gibt es nach wie vor keine Registerstellen und auch keine anderen Initiativen, die die Möglichkeit haben, systematisch und längerfristig zu dokumentieren.
„Für uns ist eine enge Zusammenarbeit mit den Registern und mit anderen Projekten, die kontinuierlich dokumentieren, unverzichtbar.“
Für uns ist eine enge Zusammenarbeit mit den Registern und mit anderen Projekten, die kontinuierlich dokumentieren, unverzichtbar. Dabei geht es gar nicht in erster Linie darum, dass wir uns über die Anzahl und die Art der Vorfälle und Angriffe austauschen. Vielmehr schärfen die Register die Wahrnehmung derjenigen, die gegen Rassismus und Neonazis aktiv sind oder werden wollen. Denn durch sie wird bekannt, welche Arten von Vorfällen in den Bezirken wo genau passieren. Die Register und deren Analysen stärken die Perspektive der von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffenen Menschen und machen sichtbar, was viele Anwohner_innen nicht sehen können oder wollen. Gezeigt werden kann, dass Ausgrenzung und extrem rechte, rassistische Gewalt eben nicht das Problem von Einzelnen ist und deswegen auch auf lokaler Ebene politische Lösungen notwendig sind. Ein Beispiel: In Spandau wurden durch das Register häufiger Vorfälle dokumentiert, bei denen Frauen, die ein Kopftuch trugen, beschimpft oder beleidigt wurden. Ob beim Einkauf in der Altstadt, in der Apotheke hinterm Verkaufstresen oder als Küchenhilfe einer Weihnachtsfeier – Frauen mit Kopftuch werden rassistisch beleidigt. Melden sie diese Fälle, wird sichtbar, dass sie nicht allein betroffen sind, sondern auch andere Frauen im direkten Lebensumfeld. Das Gefühl des Allein-Gelassenseins wird dadurch reduziert und durch die Thematisierung solcher Vorfälle können Engagierte vor Ort aufmerksamer sein und gegebenenfalls Eingreifen und ihre Unterstützung gegenüber den Betroffenen anbieten. Für Menschen, die nicht an Gruppen oder Organisationen angebunden sind, ist das eine ganz praktische Hilfe, weil sie Zugang zu Funktionsträger_innen und zur Öffentlichkeit bieten können. Und genau das ist es ja, was notwendig ist, um die Betroffenen gleichzeitig individuell unterstützen zu können und politische Veränderungen zu erreichen.