Im Jahr 2020 jährte sich mit der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands auch die Befreiung Berlins und seiner Bezirke zum 75. Mal. Der 8. Mai 2020 war einmalig gesetzlicher Feiertag. Mit welchen Plänen für Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen war die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ursprünglich in das Jahr gestartet?
Rund um den 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, versuchen wir alljährlich verstärkt in die Öffentlichkeit zu gehen. Zum 75. Jahrestag hatten wir uns einiges mehr vorgenommen. Es ist uns trotz Pandemie allerdings auch einiges gelungen. Aber unsere ursprünglichen Pläne, alle unsere Gedenk- und Befreiungsfeierlichkeiten im größeren Rahmen durchzuführen, unsere letzten „Zeitzeug:innen“ noch einmal auch auf offiziellen Gedenkveranstaltungen zu Wort kommen zu lassen, von denen zu diesem Anlass sicherlich viele unserer Einladung gefolgt wären, waren leider nicht durchführbar. Auch die Veranstaltungen zur Befreiung der überlebenden Häftlinge der Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen im April, bei denen wir ja über die Lagergemeinschaften und Komitees vertreten sind, entfielen. Geplant war auch die Übergabe der ersten 100.000 Unterschriften unserer Petition „Den 8. Mai zum Feiertag machen! Was 75 Jahre nach Befreiung vom Faschismus getan werden muss!“, die wir in nur vier Wochen gesammelt hatten. Geplant war, die Unterschriften mit einer großen Kundgebung vor dem „Reichstag“ dem Bundestag zu übergeben. So blieb es bei einer Übergabe an ein paar wenige Abgeordnete im kleinsten Kreise. Das offizielle Berlin musste sich also kaum dem 75. Jahrestag der Befreiung stellen, diesem Ereignis, dass die Grundlagen unserer heutigen Gesellschaft legte – schade. Auch am 9. Mai, dem Tag des Sieges, den wir seit 20 Jahren mit einem Fest – „Wer nicht feiert, hat verloren!“ – am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow zusammen mit der russischen, bzw. postsowjetischen Community feiern, mussten unsere Zeitzeug:innen zu Hause bleiben. Wir hatten unter anderem eine Sanitäterin der Roten Armee eingeladen. Das werden wir leider nicht nachholen können.
Die Pandemie hat die Zivilgesellschaft um den 8. Mai also nicht lahmgelegt.
Wie ihr in einem offenen Brief an den Berliner Senat schreibt, sind dann infolge der Corona-Pandemie gerade in Berlin nicht nur das offizielle Gedenken von Bundestag und Bundesregierung, Abgeordnetenhaus und Senat, sondern auch die geplanten Aktivitäten von Parteien und zahlreichen Initiativen fast zum Erliegen gekommen. Wie habt ihr euch als Berliner VVN-BdA auf die neue Situation eingestellt?
Zum 75. Jahrestag der Befreiung haben wir trotz der Pandemie in den Berliner Bezirken unsere „traditionellen“ Gedenk- bzw. Befreiungsfeierlichkeiten durchgeführt. Aber wir haben dabei ausdrücklich auf ein größeres Publikum verzichtet und stattdessen dazu aufgerufen, dezentral und individuell zu gedenken und das auch zu dokumentieren. Und das hat überraschend gut geklappt. An hunderten Orten in Berlin, sowjetischen Ehrenmälern, Stolpersteinen, Straßenschildern, OdF-Steinen (Anm.: OdF = Opfer des Faschismus) und Gedenktafeln gedachten Menschen mit Blumen, kleinen Schildern und Plakaten den Opfern des Faschismus, den Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand und den sowjetischen Befreier:innen. Sie setzten der durch die Pandemie beförderten offiziellen Gedenkverweigerung und Geschichtsvergessenheit ein entschiedenes antifaschistisches und lebendiges Gedenken entgegen. Die Pandemie hat die Zivilgesellschaft um den 8. Mai also nicht lahmgelegt.
Eine Rede von Peter Gingold oder Esther Bejarano auf einer Antifa-Demonstration ist im „Stream“ nicht zu ersetzen.
Das Jahr 2020 war das Jahr der Online-Veranstaltungen, Streams und Videokonferenzen. Welche Erfahrungen habt ihr bisher mit den neuen Kommunikationskanälen gesammelt und welche Rolle haben sie in eurer erinnerungspolitischen Arbeit gespielt? Worin bestanden die Herausforderungen bezüglich der Vermittlung der Inhalte oder ggf. auch bei den Teilnehmer:innen?
Zugegeben waren und sind die digitalen Welten nicht gerade eine Stärke von uns. Aber auch wir mussten uns notgedrungen damit beschäftigen. Begegnungen, Diskussionen und persönlicher Austausch, sich kennenlernen über Generationsgrenzen sind unser „Kerngeschäft“. Die persönlichen Begegnungen mit ehemaligen Widerstandskämpfer:innen sind gerade für unsere zweite und dritte Generation wichtig und prägend gewesen. Eine Rede von Peter Gingold oder Esther Bejarano auf einer Antifa- Demonstration ist im „Stream“ nicht zu ersetzen. Auf der anderen Seite funktionieren z.B. unsere Vorstandssitzungen als Videokonferenz erstaunlich gut. Wir lernen viel von den „Jüngeren“ die sich ganz selbstverständlich in und mit den digitalen Medien und Anwendungen bewegen. Aber „Präsenzveranstaltungen“ sind doch schwer zu ersetzen. Wir vermissen sie sehr.
Die Berliner VVN-BdA ist schon länger in den Sozialen Medien präsent. Inwiefern habt ihr diese Präsenz auch für eure Aktivitäten zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus eingesetzt und inwieweit habt ihr dort im Vergleich zu früheren Jahren eine veränderte Resonanz bemerkt?
Haben wir! Unsere Twitter-, Facebook- und Instagram-Accounts haben bundesweit sehr viel höhere Zugriffszahlen gehabt und die Inhalte sind wesentlich stärker geteilt und weitergereicht worden. Gerade bei den dezentralen Gedenkaktionen zum 8. Mai und den Befreiungsfeierlichkeiten haben Bilder bzw. die Dokumentation mit Fotos eine immense Rolle gespielt. Das Smartphone draufhalten ist mittlerweile in allen Altersstufen weit verbreitet.
Hunderte, ja tausende kleine dezentrale Events sind dokumentiert und über die Sozialen Medien verbreitet worden. Dabei waren auch die Interpretationen und erläuternde Texte viel diverser als in den vergangenen Jahren. Das war eine gute Erfahrung und hat tolle Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, auch gerade in Bezug auf unsere stark gestiegene Mitgliederzahl. In dieser Hinsicht hat uns das Berliner Finanzamt mit dem Entzug der Gemeinnützigkeit unseres Bundesverbandes stark „geholfen“, eine ganz wichtige Sache – unsere „Neuen“ konnten sofort loslegen. Wichtig waren auch unsere Petitionen zum 8. Mai und gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit. Wir haben gelernt, dass dies gute niederschwellige Möglichkeiten sind, sich antifaschistisch zu artikulieren und solidarisch zu zeigen. Überdies sind sie auch ein tolles Kommunikationsmittel: Viele Unterstützer:innen hinterlassen ja auch ihre Kotaktdaten und wollen auf dem Laufenden gehalten werden.
In dem schon erwähnten offenen Brief an den Senat fordert ihr u. a., dass der 8. Mai ein Feiertag bleiben soll. Was plant ihr für das Jahr 2021? Werdet ihr z. B. ausgefallene Veranstaltungen nachholen?
Auf den zentralen Aspekt unseres offenen Briefes an die Berliner Abgeordneten und die rot-rot-grüne Regierung, nämlich den 8. Mai in Berlin nicht nur einmalig 2020 zu einem offiziellen und arbeitsfreien Feiertag zu machen und damit in der ehemaligen Hauptstadt des nationalsozialistischen Terrors eine bundesweite Vorreiterrolle zu übernehmen, haben wir keinerlei Reaktion erhalten. Sollte die Koalition wiedergewählt werden, hat sie ja die Chance nachzuzulegen. Der 8. Mai 2023 ist ein Montag, das wäre ein schönes langes Wochenende. Wir bleiben dran und werden das auch zu einem Wahlprüfstein machen. Berlin hat sicherlich Platz für einen weiteren Feiertag, da könnten sich die jetzigen und auch die folgenden Parlamentarier:innen und Regierungen z.B. Bayern zum Vorbild nehmen. So sehr wir es begrüßen, dass der 8. März, der internationale Frauenkampftag, nun offizieller Feiertag ist, desto mehr möchten wir daran erinnern, dass dies ein rot-rot-grüner Kompromiss war. Die Diskussion um den 8. Mai muss und wird weitergeführt werden, würde doch ohne die Befreiung vom Faschismus am 8. März heute eher der Tag der deutschen Mutter begangen werden.
Die Pandemie-Situation hat sich leider noch nicht entscheidend entschärft. Wir werden also 2021 ähnlich wie 2020 verfahren. Und das wird mit den Erfahrungen des vergangenen Jahres sicherlich noch besser klappen. Zusätzlich werden wir aber am 22. Juni mit einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Bebelplatz, der ist schön groß, an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion erinnern. Von der Bundesregierung und dem offiziellen Berlin ist da sicherlich wenig zu erwarten.
Seht ihr in der notgedrungenen „Digitalisierung“ der Erinnerungskultur im Jahr 2020 auch ein Potenzial, das für zukünftiges gedenkpolitisches Engagement genutzt werden kann?
Kurze Antwort – ja. Wie viele andere, haben wir einiges gelernt. Hinzu kommt ja auch, dass unsere Gründer:innengeneration mittlerweile fast komplett verstorben ist und wir für uns daher neue Formate entwickeln müssen. Die „Zeitzeug:innen“ fehlen. Anderseits gibt es mit der zweiten und dritten Generation und jenen, die z. B. noch Überlebende und Widerstandskämpfer:innen kennengelernt haben, ganz „analog“ Zeug:innen der Zeitzeug:innen.
Deshalb ist unsere Arbeit, nämlich die Erinnerung unauflöslich mit dem Schwur von Buchenwald und auch der Warnung Primo Levis zu verbinden, also keinen Schlussstrich unter die deutschen Verbrechen zu ziehen, so wichtig.
Im Jahr 2020 hat der Berliner VVN-BdA auch Proteste auf der Straße gegen Versammlungen von Pandemieleugner_innen organisiert. Dort waren u.a. eine kontinuierliche begriffliche Gleichsetzung der Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem „Ermächtigungsgesetz“ oder die bagatellisierende Aneignung der Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus durch die Verwendung von „Judensternen“ zu beobachten. Begonnen hatte 2020 mit einer Auseinandersetzung um die Teilnahme der AfD am Gedenken zum 27. Januar in Marzahn. Was bedeuten diese Entwicklungen für eure Arbeit, wie begegnet ihr diesen Herausforderungen, was ist nötig und welches Fazit zieht ihr aus diesem Jahr insgesamt?
Dass auf diesen Demonstrationen die Forderung und Hoffnung, aus der Geschichte zu lernen, auf so pervertierte und geschichtsfälschende Art und Weise umgesetzt wird, ist bestürzend und alarmierend. Deshalb ist unsere Arbeit, nämlich die Erinnerung unauflöslich mit dem Schwur von Buchenwald und auch der Warnung Primo Levis zu verbinden, also keinen Schlussstrich unter die deutschen Verbrechen zu ziehen, so wichtig.
Die AfD hat die Erinnerung und das oft ritualisierte Gedenken entdeckt, um einerseits ihre Version der deutschen Geschichte mit dem Holocaust als „Fliegenschiss“ und andererseits einen ausgehöhlten Demokratiebegriff, sie seien eine ganz normale, weil vielfach gewählte Partei, zu popularisieren. Deshalb versuch(t)en sie ganz ungeniert, an den Gedenkveranstaltungen auf dem Parkfriedhof in Marzahn teilzunehmen. Sie seien als BVV-Fraktion und Abgeordnete schließlich offiziell eingeladen worden. Der Interpretation von der AfD als einer demokratischen Partei und des Widerspruchs gegen deren Teilnahme als antidemokratisch folgten bedauerlicherweise dann auch die Vertreter:innen der dortigen Bezirksverordnetenversammlung (BVV) als Ausrichter:innen der Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar. Als Antifaschist:innen die Teilnahme der AfDler:innen 2019 vereitelten, waren sie, auch nach einhelliger Meinung der BVV-Vertreter:innen, die angeblichen „Störenfriede“. Der Forderung aus unserem offenen Brief im Vorfeld, unterstützt von zahlreichen Überlebenden des NS, die Partei der Antisemit:innen und Faschist:innen doch bitte auszuladen, wurde auch im folgenden Jahr nicht stattgegeben. Stattdessen eskortierte ein massives Polizeiaufgebot inklusive Hundestaffel die AfD zum „Gedenken“. Der Bezeichnung der AfD (in diesem Fall als Zeug:in vor Gericht) von antifaschistischen Protestierenden als „Störer:innen“ folgten übrigens auch die Berliner Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht. Der Geschäftsführer der Berliner VVN-BdA wurde als „Rädelsführer“ der antifaschistischen Proteste zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro verurteilt.
Auch vor diesem Hintergrund muss es nicht wundern, dass sich Pandemieleugner:innen wahlweise als Anne Frank oder Sophie Scholl gerieren und sich mit Opfern der Shoa gleichsetzen, während sie gleichzeitig zusammen mit Neonazis gegen ein neues „Ermächtigungsgesetz“ demonstrieren. Auch hier hat sich ein Begriff von Demokratie und „Volkswillen“ durchgesetzt, der den durchaus antifaschistischen und humanistischen Grundtenor des Grundgesetzes ausklammert.
Genau diesen einzufordern, war und bleibt eine der zentralen Aufgaben der VVN-BdA und deshalb haben wir uns von Anfang an auf die mühsame und nicht ganz risikofreie Arbeit eingelassen, uns an den Protesten gegen die Pandemieleugner:innen, unter denen sich übrigens auch viele AfDler:innen tummeln, zu beteiligen. An der Politik und der Gesellschaft liegt es, die Demokratie mit Inhalten zu füllen, z.B. den 8. Mai zum Feiertag zu machen, die letzten noch lebenden Opfer des Faschismus und ihre Nachfahren zu entschädigen, die Definition von Demokratie nicht dem Verfassungsschutz zu überlassen und endlich die Naziterrorserie in Neukölln aufzuklären und zu beenden. Das wäre eine Interpretation von Demokratie und Geschichte, die sich die AfD und Pandemieleugner:innen nicht so einfach aneignen könnten. Dafür werden wir kämpfen. Zuletzt: Wer will, kann uns gratulieren. Zumindest ab 2019 hat die Bundesvereinigung der VVN-BdA nach einer großartigen Solidaritätswelle ihre Gemeinnützigkeit zurückerhalten.
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA) ist ein überparteilicher Zusammenschluss von Verfolgten des Naziregimes, Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern, Antifaschistinnen und Antifaschisten aller Generationen. Der Name signalisiert das Besondere der VVN-BdA: die Gleichzeitigkeit, Begegnung und Gemeinsamkeit der Generationen. Sie reicht von Frauen und Männern, die den Nazis von Anfang an widerstanden, von überlebenden Häftlingen von Auschwitz, Buchenwald und Ravensbrück, bis hin zur jüngsten Generation, die heute in der VVN-BdA mitarbeitet. Sie stehen gemeinsam für antifaschistische Kontinuität: für Lernen aus der Vergangenheit; für die Vision einer antifaschistischen Zukunft; für eine Welt ohne Rassismus, Nazismus und Militarismus, ohne Ausgrenzung, ohne Faschismus und Krieg.