Das sind zwölf Monate Erfahrungen mit einem Gesetz, das sich vor allem in seiner praktischen Anwendung beweisen muss. Eine kritische Zivilgesellschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Dazu zählen Organisationen wie die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und ReachOut, die auf Rassismus in Behörden aufmerksam machen, aber auch solche, die auf die Situation geflüchteter Menschen hinweisen, deren Diskriminierungsrisiko in der Pandemie noch weiter gestiegen ist.
Antidiskriminierungsrecht ist erkämpft und umkämpft
Das Antidiskriminierungsrecht verfolgt die Absicht „Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen“, so hat es das Bundesverfassungsgericht 2017 sehr schön in der Entscheidung zum Recht auf die Option eines dritten Geschlechtseintrages formuliert. Solches Recht fällt nicht vom Himmel, es wird erkämpft und ist umkämpft. Hier steht das LADG in einer Bürgerrechtstradition. Der Civil Rights Act von 1964 war ein von der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung erkämpfter Meilenstein antirassistischer Gesetzgebung in den USA. Den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in Artikel 3 Grundgesetz verdanken wir dem Kampf, den 1949 vier Parlamentarierinnen unterstützt von außerparlamentarischen Frauenzusammenschlüssen und autonomen Feministinnen führten. Behinderte Menschen erkämpften, dass seit 1994 – endlich – der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 Grundgesetz steht. Lesben, Schwule, Trans- und Interpersonen haben dafür gekämpft, dass heute Regenbogenfamilien und nichtbinäre Menschen Rechte haben, an die 1949 und 1994 noch nicht zu denken war. Dem Kampf Schwarzer Menschen in Deutschland verdanken wir Gerichtsentscheidungen, die klarstellen, dass Racial Profiling gegen das Verbot rassistischer Diskriminierung in Artikel 3 Grundgesetz verstößt. Ohne den Einsatz der Berliner Zivilgesellschaft, vom Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin (ADNB) des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB) über die Landesvereinigung Selbsthilfe bis zur Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) würde es auch das LADG in seiner heutigen Form nicht geben. Das Projekt hat aus der Zivilgesellschaft viel Rückenwind erhalten, zugleich gab es im Rahmen einer Verbändeanhörung auch Kritik und Änderungsvorschläge, die das Gesetz mit Blick auf den Schutzumfang noch verbessert haben.
2020 war aber auch das Jahr einer neuen antirassistischen Bewegung – getragen von Black Lives Matter und von einer postmigrantischen Organisierung nach den Anschlägen von Halle und von Hanau. In einer noch nie dagewesenen Offenheit und Grundsätzlichkeit wird seither über institutionellen Rassismus gesprochen – nicht nur, aber auch in den Sicherheits- und Justizbehörden. Das LADG ist Teil dieser Debatte, es ist ein Symbol für eine neue politische Kultur geworden, in der Diskriminierung und tradierte Ungleichheit auf dem Prüfstand stehen.
Es geht nicht um Extremismus – es geht um Strukturen
Sexistische, heteronormative, rassistische, antisemitische, ableistische und klassistische Weltbilder gibt es nicht nur bei der organisierten extremen Rechten. Sie sind weit verbreitet, auch in öffentlichen Institutionen. Mit einem Ansatz, der Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit, die den Nährboden für Diskriminierung bilden, als Problem „extremer Ränder“ oder als Relikt der Vergangenheit begreift, lassen sie sich nur schlecht thematisieren – und Thematisierung ist der erste Schritt zur Veränderung. Das LADG signalisiert hier ganz unmissverständlich: Wir als Gesellschaft wollen Betroffene umfänglich vor Diskriminierung schützen, auch unabhängig davon, ob diese feindselig erfolgt. Es geht nicht um Extremismus, es geht um alle. Und es geht nicht (nur) um Hass, dafür ist das Strafrecht zuständig. Es geht um alltägliche Benachteiligungen und Ausschlüsse, um eingespielte Routinen und unhinterfragte Abläufe – um Strukturen.
Diskriminierung kommt vor – überall
Seit Juli 2020 erreichten die LADG-Ombudsstelle über 300 Beschwerden, bei denen eine Verletzung des LADG gerügt wurde. Die meisten davon betrafen Diskriminierungen wegen rassistischen Zuschreibungen bzw. der ethnischen Herkunft. Typische Beispiele sind hier Beschwerden gegen die Polizei im Rahmen von Kontrollen im öffentlichen Raum oder bei Nachbarschaftskonflikten und Diskriminierungen bei der Fahrausweiskontrolle im Öffentlichen Personennahverkehr. Auch Gewalterfahrungen spielten dabei mitunter eine Rolle. Zu rassistischen oder sprachbezogenen Diskriminierungen kam es auch in der Schule, Hochschule und bei Ämterterminen. Schwarze Menschen und muslimisch gelesene Menschen waren hiervon besonders betroffen, aber auch asiatisch gelesene Menschen berichteten uns von Kontrollen, die, so ihre Vermutung, mit ihrem Äußeren zu tun hatten. An zweiter Stelle stehen bei der Ombudsstelle bislang Diskriminierungen wegen Behinderungen oder chronischer Krankheit. Hier führt die Pandemie zu einer stärkeren Benachteiligung von Menschen, die beim Krisenmanagement öffentlicher Einrichtungen, seien es Unis, Bibliotheken oder Impfcenter, oft nicht mitgedacht werden. Andere Beschwerden betreffen das Geschlecht und die geschlechtliche Identität, hier geht es oft um falsche Ansprache durch Behörden oder öffentliche Einrichtungen. An vierter Stelle kommen, mit steigender Tendenz, Diskriminierungen wegen des sozialen Status – und auch dabei wirkt sich die Pandemie verstärkt diskriminierend aus, zum Beispiel auf alleinerziehende Mütter, Hartz-IV-Empfänger*innen, Gefangene in den JVAs oder obdachlose Menschen. In all diesen Fällen zeigt sich zweierlei: Es ist aus Betroffenensicht ein immens wichtiges Signal, dass es ein Gesetz und eine staatliche Stelle gibt, die Diskriminierung ernst nimmt. Aus Sicht der Verwaltung zeigt sich, dass nun, wo das Gesetz einmal da ist, auch gut damit gearbeitet wird: Unsere Bitten um Stellungnahmen werden beantwortet, Lösungen werden gesucht, neugierige und kontroverse Diskussionen über Diskriminierung werden geführt. Auch wenn uns das manchmal nicht schnell genug geht, im Vergleich zur Implementierung des AGG kommt es mir oft so vor, als trügen wir Sieben-Meilen-Stiefel. Doch es erreichen uns auch Beschwerden von Coronaleugner*innen, die keine Maske tragen wollen und mit Gefälligkeitsattesten operieren, das ist der bislang einzige „Missbrauch“ des Gesetzes – und hier grenzen wir uns klar ab. Hieran zeigt sich wiederum die Bedeutung von Initiativen wie der MBR, des apabiz und RIAS Berlin, die auf Verschwörungsmythen und Antisemitismus bei den Corona-Protesten hinweisen.
Auf die Rechtsdurchsetzung kommt es an
Das LADG hat nicht nur Abwehr, sondern auch große Erwartungen hervorgerufen. Nicht alle wird es erfüllen können, das hat viel mit den Rahmenbedingungen der Durchsetzung von Antidiskriminierungsrecht zu tun. Hier ist eine kritische Begleitung der Zivilgesellschaft gefragt, damit sich Politik und Verwaltung nicht auf dem LADG ausruhen. Das LADG ist kein Feigenblatt, es ist ein Auftrag. Der Auftrag lautet, „die tatsächliche Herstellung und Durchsetzung von Chancengleichheit, die Verhinderung und Beseitigung jeder Form von Diskriminierung sowie die Förderung einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt“ (§ 1 LADG) in die soziale Wirklichkeit zu übersetzen. In dieser Wirklichkeit haben es Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen beim Zugang zu Recht oft schwerer. Das zeigt sich, wenn Betroffene von Racial Profiling sich nicht selbst beschweren, sondern über Unterstützer*innen, weil sie dem Recht und den staatlichen Institutionen wegen schlechter Vorerfahrungen nicht vertrauen. Das zeigt sich auch, wenn armen und alten Menschen eine Beschwerde in Zeiten der Pandemie viel schwerer fällt, weil sie kein Handy haben und keinen Internetzugang. Das zeigt sich, wenn alleinerziehende Mütter schlicht keine Zeit finden, sich zu beschweren. Auch der angespannte Wohnungsmarkt und die dramatische Mietpreisentwicklung produzieren zusätzliche Diskriminierungsrisiken für einkommensschwache und behinderte Menschen, für Alleinerziehende oder kinderreiche Familien; rassistische Zuschreibungen kommen hier erschwerend hinzu. Antidiskriminierungspolitik und Maßnahmen für mehr soziökonomische Gleichheit müssen deshalb zusammengedacht werden. Ein Mietendeckel wäre also auch antidiskriminierungsrechtlich sinnvoll. Wichtig sind auch niedrigschwellige Anlaufstellen, damit das LADG kein Papiertiger bleibt. Deshalb kooperiert die Ombudsstelle von Anfang an mit Beratungsstellen und Selbstorganisationen, wie ADNB, EOTO, Amaro Foro, OFEK, ReachOut und vielen mehr in Berlin, denn effektive Rechtsdurchsetzung geht besser zusammen.
Die unangenehmen Fragen stellen
Mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung zeigt sich bisher auch, dass die im Vorfeld viel diskutierte Beweislasterleichterung in der Praxis meist nicht ausreicht, wenn Aussage gegen Aussage steht. Nicht jede Diskriminierungserfahrung lässt sich so belegen, dass eine Klage aussichtsreich erscheint. Publikationen wie die Berliner Zustände zeigen strukturelle Diskriminierung und deren Hintergründe aus der Perspektive der Betroffenen auch an den Stellen auf, wo sich eine Diskriminierung formalrechtlich nicht beweisen lässt. Hier zeigt sich, kritische Zivilgesellschaft fragt weiter und lässt nicht locker, wenn die Arbeit von Institutionen wie der Ombudsstelle bereits am Ende ist oder wenn Betroffene aus Mangel an Vertrauen in staatliche Stellen nicht den Weg zur Ombudsstelle finden. Zum Beispiel tauchten Rom*nja und Sint*izze bis 2017 in der polizeilichen Kriminalstatistik des Landes Berlin noch unter dem Punkt »Trickdiebstahl« auf. Die Berliner Datenschutzbeauftragte rügte solche Erfassungen. Sie sind auch nach dem LADG klar rechtswidrig. Hier, aber auch mit Blick auf andere Formen des Racial Profiling, ob an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten oder in Shishabars, ist die kritische Zivilgesellschaft gefragt, noch stärker mit dem LADG zu arbeiten. Diskriminierung muss problematisiert und sichtbar gemacht werden und sie muss sorgfältig dokumentiert werden, damit Beschwerden zu struktureller Veränderung führen. Schattenberichte, wie Berliner Zustände, die Missstände mutig offenlegen, unangenehme Fragen stellen und die Perspektive der Betroffenen an die erste Stelle setzen, sind dafür unabdingbar.