Interview: Berliner Obdachlosenhilfe erteilt Rechten eine Absage

In Zeiten knapper Wohnungen ist das Thema Obdachlosigkeit in Berlin ein drängendes Problem, das in den kalten Wintermonaten besonders zum Tragen kommt. Nicht nur bei der Wohnungssuche sind Obdachlose systematischer Diskriminierung ausgesetzt. Sozialchauvinistische Einstellungen finden sich in weiten Teilen der Gesellschaft. Rechte Akteure schwanken zwischen einer propagandistischen Instrumentalisierung „deutscher“ Wohnungsloser und Vernichtungsphantasien. Wir sprachen mit Niclas Beiersdorf von der Berliner Obdachlosenhilfe e.V. über ihre Arbeit.

 
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Berliner Zustände: Bezahlbarer Wohnraum ist in Berlin so rar wie lange nicht. Wie schätzen Sie die Situation von Wohnungslosen in Berlin aktuell ein?

Beiersdorf[1]: Ist man erst mal wohnungslos[2], ist es extrem schwierig wieder in ein Mietverhältnis zu kommen. Wenn man zusätzlich Probleme mit Schulden, Suchterkrankungen oder psychischen Leiden hat, erschwert das die Situation noch einmal. Durch die aktuelle Mietpreisentwicklung hat sich das noch verschärft, zusätzlich ist es aber auch für die Träger der Obdachlosenhilfe zum Problem geworden, bezahlbare Immobilien, für Übergangswohnheime beispielsweise, zu finden. Die Plätze die es gibt, sind bereits jetzt überfüllt.

Treiben Mietsteigerungen Menschen in die Obdachlosigkeit?

Ja. Es gibt in Berlin jede Menge Zwangsräumungen. Bei der Berliner Konferenz, auf der Mitte Januar soziale Träger, Bezirke und der Senat über Strategien im Umgang mit der Wohnungsnot in Berlin beraten haben, wurde nun beschlossen, Zwangsräumungen für Familien auszusetzen. Ob sich etwas ändert, wird sich zeigen. Alleinstehenden hilft dieser Vorstoß jedoch nicht.

Wie viele Menschen sind in Berlin derzeit obdachlos?

Die Stadt hat es bislang versäumt, belastbare Zahlen vorzulegen, nach dem Motto: ‚Wenn ich es nicht sehen kann, geht es mich auch nichts an.‘ Die Schätzungen gehen von sechs- bis zwölftausend Menschen auf der Straße aus und ungefähr fünfzigtausend, die keine Wohnung haben. Es ist aber davon auszugehen, dass diese Zahlen aus den bereits genannten Gründen in den nächsten Jahren noch ansteigen werden. Noch im Wahlkampf haben die jetzigen Regierungsparteien versprochen, eine eigene Statistik zu erstellen, das wird voraussichtlich 2019 geschehen. Dann sollte es hoffentlich belastbare Zahlen geben.[3]

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und Rassismus?

Ja, auf jeden Fall. Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder mit geringen Deutschkenntnissen sind auf dem Wohnungsmarkt klar benachteiligt. Gleichzeitig ist die Arbeitssituation für Menschen ohne Papiere sehr kompliziert. Wenn diese beispielsweise um ihren Lohn geprellt werden, besteht kaum Hoffnung auf juristische Unterstützung. Teilweise müssen Menschen aufgrund solcher Probleme in abbruchreifen Wohnungen zu überteuerten Preisen leben.

Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem wird es auch unter Obdachlosen untereinander geben. Wie schätzen Sie dieses Problem ein?

Aufgrund der Sprachbarrieren bleiben obdachlose Menschen häufig unter Personen aus ihrem jeweiligen Herkunftsland. Kommt es zu Konflikten zwischen den Gruppen, sind diese deshalb schnell rassistisch aufgeladen. Konkurrenzdenken unter obdachlosen Menschen gab es aufgrund der begrenzten Angebote schon immer, aktuell werden die Probleme jedoch häufig auf Geflüchtete projiziert. In diese Kerbe schlagen dann auch gern rechte Gruppen. Letztendlich ist es jedoch ein Versagen des Staates, der es versäumt hat, genügend Hilfsangebote zur Verfügung zu stellen, obwohl die Mittel dafür vorhanden sind.

„Trotz der Tatsache, dass viele Vereine sehr gute Arbeit machen, gibt es einfach zu wenige Anlaufstellen. Die, die es gibt, sind unterbesetzt und unterfinanziert. Deswegen mussten Notunterkünfte teilweise auch schon vorübergehend schließen.“

Wie würden Sie das Angebot an Unterstützungseinrichtungen für obdachlose Menschen in Berlin bewerten?

Trotz der Tatsache, dass viele Vereine sehr gute Arbeit machen, gibt es einfach zu wenige Anlaufstellen. Die, die es gibt, sind unterbesetzt und unterfinanziert. Deswegen mussten Notunterkünfte teilweise auch schon vorübergehend schließen. Vereine, die Straßensozialarbeit machen, erreichen die Menschen erfahrungsgemäß am Besten, können aufgrund der Unterbesetzung jedoch nicht flächendeckend arbeiten. Außerdem fehlt es an ausreichend Übersetzer*innen. Aber selbst wenn das alles kein Problem wäre, können die Vereine keine Wunder vollbringen, wenn es schlicht nicht genügend Wohnungen zu angemessenen Preisen gibt.

Üben obdachlose Menschen auch Kritik an den vorhandenen Unterbringungen?

Wir hören oft, dass die Notunterbringungen in einem sehr schlechten Zustand sind. Auch Berichte von Ratten in den Unterkünften hatten wir schon. Und weil die Unterkünfte häufig überfüllt sind, kommt es unter den Gästen immer wieder zu Streit. Manche bleiben den Notunterkünften deshalb lieber fern und übernachten draußen.

Häufig werden obdachlose Menschen Opfer rechter (physischer) Gewalt. Gleichzeit findet diese Gruppe kaum Eingang in die offiziellen Statistiken. Neben der fehlenden Aufmerksamkeit kommt erschwerend hinzu, dass viele aus Angst vor Racheakten von einer Anzeige absehen. Erfahren Sie im Zuge Ihrer Arbeit von solchen Fällen? Was müsste sich hier ändern?

Unsere Gäste berichten häufig, dass es zu Angriffen auf sie gekommen ist. Dabei schildern sie immer wieder ein hohes Maß an Brutalität bei den Taten. Die TäterInnen sind nicht immer eindeutig der rechten Szene zuzuordnen. Oft wird uns auch von Angriffen durch Security-Personal berichtet. Hinter den Angriffen steckt eine sozialchauvinistische[4] Motivation. Menschen werden als ,Penner‘ oder als ,asozial‘ beschimpft. Das ist Teil eines rechten Weltbildes. Dieses Motiv müsste in der Statistik mehr Berücksichtigung finden. Darüber hinaus kann sich erst etwas ändern, wenn die Diskriminierung von Obdachlosen sowohl seitens der Gesellschaft als auch durch staatliche Stellen aufhört.

Obdachlose Frauen* sind zudem häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt, da sie keine sicheren Rückzugsräume haben. Gibt es in Berlin Angebote, die sich speziell an weibliche Obdachlose richten?

In letzter Zeit ist die Zahl obdachloser Frauen* deutlich angestiegen. Darauf konnte noch nicht adäquat reagiert werden. Es gibt eigene Beratungsangebote, einige wenige Notübernachtungen sowie Wohnheime für obdachlose Frauen*, dazu zählen auch die Frauen*häuser. Doch auch hier besteht das Problem der Unterfinanzierung.

Die extreme Rechte hat ein gespaltenes Verhältnis zum Thema Obdachlosigkeit. Einerseits werden obdachlose Menschen aus einer sozialdarwinistischen Motivation heraus abgewertet oder gar physisch angegriffen. Das reicht bis hin zu Mord. Vor wenigen Monaten schrieb die Opferberatungsstelle ReachOut an dieser Stelle beispielsweise über Eugeniu B., der an den Folgen einer Körperverletzung starb.  Er wurde beim Stehlen in einer Edeka-Filiale in Berlin-Lichtenberg vom Geschäftsführer beobachtet. Anstatt die Polizei zu verständigen und Anzeige zu erstatten, brachte er Eugeniu B. in einen verschlossenen Raum des Supermarkts und prügelte mehrmals auf den Wehrlosen ein, bevor er ihn trat und aus einer Hintertür in den Hof stieß. Vor Gericht wurden die rassistischen und sozialdarwinistischen Einstellungen des Angeklagten offensichtlich.

Andererseits versuchen verschiedene rechte Gruppen sich als Fürsprecher ,deutscher‘ Obdachloser zu inszenieren und organisieren propagandistisch in Szene gesetzte Hilfsaktionen. Nachdem Ihrem Verein mehrfach Kleidung mit neonazistischen Aufdrucken ,gespendet‘ wurde, hat sich der Verein Ende 2017 via Facebook gegen die Instrumentalisierung von obdachlosen Menschen durch Rechte ausgesprochen. Wo beobachten sie so etwas?

Statement der Berliner Obdachlosenhilfe vom November 2017. Bild: Screenshot Facebook

Beispielsweise bei dem Verein ,Brot für Berlin‘. Ein Großteil der Vorstandsmitglieder war bis vor Kurzem noch bei Pro Deutschland aktiv. Wenn man sich deren Socialmedia-Auftritt anschaut merkt man, wie dort Obdachlose und Geflüchtete gegeneinander ausgespielt werden. Aus Dresden ist zudem die Aktion ,Dresdner Bürger unterstützen Dresdner Obdachlose‘ bekannt, die von der AfD unterstützt wird. In Berlin macht die Partei vor allem Stimmung gegen Obdachlose ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die sie als Störfaktor im Stadtbild wahrnimmt. Die Neonazis vom Dritten Weg verteilen beispielsweise unter dem Titel ,Deutsche Winterhilfe‘ Kleidung, dabei handelt es sich offensichtlich um eine Anspielung auf das NS-Winterhilfswerk. Hier wird die rechte Motivation ebenfalls sehr deutlich, da nur weiße Menschen, die nach neonazistischer Definition deutsch sind, unterstützt werden. Menschen mit Suchterkrankungen fallen ebenfalls heraus, da sie vermeintlich selbst verschuldet in diese Situation geraten sind. All das geht völlig an der Realität der Menschen auf der Straße vorbei.

Wie waren die Reaktionen auf das Statement?

Wir waren überrascht, da noch nie ein Facebook-Post von uns soviel Aufmerksamkeit bekommen hat. Einerseits haben wir sehr viel Zuspruch erfahren. Das ging bis zu linken Gruppen in Belgien, die den Beitrag geteilt haben. Anderseits ist schnell ein Shitstorm über uns hereingebrochen, nachdem das Statement in rechten Facebook-Gruppen verbreitet worden war. Schnell gingen die Kommentare von ,Die T-Shirts haben doch nichts mit Nazis zu tun‘ über zu offenen Vernichtungsphantasien gegen Jüdinnen und Juden, Schwarze, Obdachlose und uns als Verein. Es gab auch Kommentare à la ‚Pennerklatschen ist doch eine gute Sache‘. Das hat uns bald überfordert, so dass wir die Kommentare rigoros gelöscht haben, da wir solchen Inhalten keine Plattform bieten wollen.

Auf der Anfangs erwähnten Konferenz in Berlin wurden Strategien zum Umgang mit den steigenden Obdachlosenzahlen diskutiert. Was müsste seitens des Berliner Senats getan werden, um an der Situation von Menschen auf der Straße in der Stadt etwas zu ändern?

In einigen Bezirken sehen wir deutliche Probleme, etwa wenn die Bezirksbürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey (SPD), veranlasst, dass Obdachlose nicht mehr in Parks übernachten können oder der Bezirksbürgermeister von Mitte Stephan von Dassel (Bündnis 90/ Die Grünen) sich in der Presse mit sozialchauvinistischen Aussagen zitieren lässt oder Menschen einfach abschieben lassen will.

Was wir brauchen ist mehr Geld für die bereits bestehenden Angebote. Gerade die niedrigschwelligen Angebote, wie beispielsweise Notschlafplätze müssen ausgebaut werden. Deswegen ist es falsch, wenn sich der Senat jetzt aufgrund der etwa eintausend bestehenden Plätze rühmt. Dem stehen weiterhin bis zu zwölftausend Menschen gegenüber, die auf der Straße leben. Außerdem braucht es Qualitätsstandards für die Unterbringungen. Insgesamt braucht es eine veränderte Zielsetzung bei den Hilfsangeboten. Es muss Menschen erleichtert werden, wieder in Mietverhältnisse zu kommen. Ich finde da das sogenannte Housing-First-Konzept gut, wonach Menschen als erstes in Wohnungen untergebracht werden und anschließend über aufsuchende Sozialarbeit versucht wird, möglichen weiteren Problemen zu begegnen. So lange man auf der Straße lebt, ist es zum Beispiel sehr schwer aus einer Sucht herauszukommen oder Schulden zu tilgen. Gerade in Städten braucht es daher mehr Wohnungen in öffentlicher oder genossenschaftlicher Hand, bei denen garantiert ist, dass sie langfristig günstig bleiben. Außerdem war die Gesetzesänderung, wonach Menschen aus dem EU-Ausland erst nach einem fünfjährigen Aufenthalt Anspruch auf Sozialhilfe haben ein Fehler. Viele Angebote der Unterkünfte oder der Suchthilfe sind an den Anspruch auf Sozialhilfe gebunden. Das erschwert den Vereinen, die momentan das tun, was der Staat tun sollte, die Arbeit.

Das Interview führte Kilian Behrens.

 


Die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. besteht seit Ende 2013. Ein Team aus Freiwilligen verteilt seitdem Essen, Kleiderspenden und Erste-Hilfe-Sets an Bedürftige. Im November 2017 eröffneten sie außerdem ein Obdachlosen-Café, dass zwei Mal wöchentlich 20 Schlafplätze zur Verfügung stellt.

 

 

 

 

  1.  Name auf eigenen Wunsch von der Redaktion geändert
  2.  Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße leben. Obdachlos sind aber auch Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben und in Wärmestuben, Notschlafstellen oder anderen niederschwelligen Einrichtungen übernachten. Als wohnungslos gelten Menschen, die in Einrichtungen wohnen, in denen die Aufenthaltsdauer begrenzt ist und in denen keine Dauerwohnplätze zur Verfügung stehen, wie z.B. Übergangswohnheime oder Asylunterkünfte. Auch Frauen* und Kinder, die wegen häuslicher Gewalt ihre Wohnung verlassen haben und kurz- bis mittelfristig in einer Schutzeinrichtung leben, wie z.B. in Frauen*häusern, sind wohnungslos.
  3.  Die Zahlen beziehen sich auf Äußerungen von Sozial-Staatssekretär Alexander Fischer (Linke). Online unter: https://www.morgenpost.de/berlin/article213067681/Wohnungslosigkeit-in-Berlin-erreicht-die-Mittelschicht.html Regelmäßige Schätzungen zu den bundesweiten Zahlen von obdachlosen beziehungsweise wohnungslosen Menschen gibt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) heraus. Online unter: www.bagw.de. Ab 2016 sind in den Zahlen der BAG W auch anerkannte Geflüchtete enthalten. Dies erklärt einen Teil der gestiegenen Zahlen. Ein Anstieg der Zahlen ist jedoch auch unabhängig davon zu beobachten.
  4.  Die Bedeutung des Begriffs hat sich stark verändert. Bezeichnete er ursprünglich einen Chauvinismus im Sinne eines kriegstreibenden Nationalismus, der von Teilen der Arbeiter*innenbewegung ausging, meint das Wort heute einen Chauvinismus der Elite gegen soziale Errungenschaften, also eine Art Klassismus. Vgl. https://andreaskemper.org/2013/06/11/was-ist-sozialchauvinismus/ Um den Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie deutlich zu machen, wird an anderer Stelle auch von Sozialdarwinismus gesprochen.
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