Auch Medienvertreter*innen, mit denen wir in unserem Projekt zu tun haben, gehen zunächst oft von einem wahrnehmbaren Radikalisierungszustand in Schulen aus und sind dann überrascht, wenn sie in ihren Gesprächen mit uns, mit Lehrkräften und Schüler*innen einem anderen, einem »normalen« schulischen Alltag und »ganz normalen« Jugendlichen begegnen. Dschihadist*innen und dschihadistische Propaganda trifft man in der Schule nicht an. Das bestätigen auch die Informationen aus der Schulverwaltung und aus den Sicherheitsbehörden. Auf ein Schreiben der Schulbehörde an alle Berliner Schulen im Sommer 2014 mit der Frage, ob die Schulen etwas in Richtung Radikalisierung beobachten, reagierten nur drei von über 700 Schulen. Auch der Berliner Verfassungsschutz verfügt über keinerlei Erkenntnisse bezüglich salafistischer Propaganda in den Schulen. Auch Sympathisant*innen des politischen Salafismus bzw. radikalen Islamismus finden sich nur äußerst marginal im schulischen Kontext.
Warum Präventionsarbeit nötig ist
Wenn also die Radikalisierungsprozesse außerhalb der Schule stattfinden und der Anteil von islamistisch ideologisierten Schüler*innen quantitativ zu vernachlässigen ist, wie begründet sich dann Präventionsarbeit an Schulen, an wen ist diese zu adressieren?
Bestimmte Diskurse und Deutungen, die dem radikalen Islamismus entstammen und gezielt propagandistisch eingesetzt werden, wirken über die Gruppe der radikalen Islamist*innen hinaus. Solche Sichtweisen können auch unter Jugendlichen reproduziert werden, die mit der islamistischen Szene organisatorisch in keinerlei Kontakt stehen – mehr noch: eigentlich nichts mit ihr am Hut haben wollen. Das kann damit erklärt werden, dass der Salafismus offensichtlich Antworten auf Fragen bietet, die die Jugendlichen beschäftigen. Er setzt zentral an der Erfahrungswelt der jungen Menschen an und liefert vermeintliche Erklärungen. Dabei spielt die Thematisierung der Ausgrenzung von Muslim*innen eine zentrale Rolle. Diese erleben in Deutschland persönlich, aber auch als Kollektiv (»die Muslime«) vielfältig Ausgrenzung und Diskriminierung. Als junge Menschen mit Migrationshintergrund machen sie immer wieder die Erfahrung, dass ihnen die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft abgesprochen und ihnen vermittelt wird, sie seien »keine richtigen Deutschen«. Sie nehmen die ständigen Debatten über den Islam und Muslim*innen als sehr verletzend wahr, wie etwa Sarrazins rassistische Beleidigungen, islamfeindliche Demonstrationen von Pegida und Co., oder die immer wieder aufflammende Debatte darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Dazu kommen ständige Aufforderungen, sich von islamistischer Gewalt und Terror distanzieren zu müssen.
»Das alles passiert in dem Land, das ihre Heimat ist, wo sie geboren und aufgewachsen sind und wo sie gerne leben.«
Ein etwas zurückliegendes, aber immer noch sehr relevantes Fallbeispiel soll verdeutlichen, welche Relevanz islamistische Deutungsangebote für junge Muslim*innen haben können. Wir schauen exemplarisch auf das von Islamist*innen propagierte Deutungsmuster »Krieg gegen Muslime«. Demnach seien Muslim*innen weltweit Opfer und würden vom Westen, von Amerika, von Juden bekämpft und getötet. Dass dieses Deutungsmuster (nicht nur) bei Jugendlichen tatsächlich auf Interesse stößt, hat sicherlich auch mit deren realen Erlebnissen in der Gesellschaft zu tun. Wenn persönliche Erfahrungen in ein großes Narrativ eingebettet werden, sodass eine essentialistische Welterklärung von gesellschaftlichen Problemlagen erkennbar wird, dann können wir von einer ideologisierten Haltung sprechen. Die Präventionsarbeit hat genau dort anzusetzen, wo persönlich erlebte oder kollektiv wahrgenommene Erfahrung Andockmöglichkeiten für islamistische Propaganda bietet.
Als im Juli 2009 Marwa al Sherbini in Dresden aus offensichtlich antimuslimischem Motiv ermordet wurde, blieben die gesellschaftlichen Reaktionen weitgehend aus beziehungsweise kamen erst sehr spät. Eine der ersten öffentlichen Proteste diesbezüglich war die von dem salafistischen Prediger Pierre Vogel organisierte Kundgebung in Berlin vor dem Rathaus Neukölln. In der Propaganda der Salafist*innen wird der Mord an Al Sherbini mit dem Kopftuchverbot in Frankreichs Schulen, den Alltagsrassismen in Deutschland sowie kriegerischen Auseinandersetzungen in Gaza, Afghanistan oder Irak und Syrien in Verbindung gebracht und in das große Narrativ »Krieg gegen Muslime« eingebettet. Dieses Deutungsmuster bietet eine Erklärung, indem die islamfeindliche Stimmung in Deutschland, von der man sich betroffen fühlt, in den Kontext von vermeintlicher »weltweiter Unterdrückung der Muslime« gestellt wird. »Wir« und »die Anderen« werden als feindlich gegenüberstehend konstruiert. So können beispielsweise negativ konnotierte Islamberichterstattung in deutschen Medien oder die zum Teil religionskritischen laizistischen Widerstände gegenüber neuen Moscheebauten zu Elementen einer feindlichen Verschwörung gegen Muslim*innen erklärt werden. Nach salafistischer Propaganda drohe Muslim*innen in Deutschland sogar der Holocaust. Zurück zur salafistischen Kundgebung in Neukölln: Interessant war zu beobachten, dass eine Gruppe von jungen Muslim*innen (Schüler*innen aus den umliegenden Schulen) die Kundgebung mit offensichtlicher Distanz verfolgten und mir im Gespräch erklärten, was sie von Pierre Vogels Auftritt halten: »Er, selbst Deutscher, benennt das Problem von Rassismus gegenüber Muslimen klar und deutlich«. An dieser Stelle wird klar, welche Relevanz die Thematisierung der muslimischen Ausgrenzungserfahrung für die Anziehungskraft des Salafismus hat.
Was Präventionsarbeit leisten kann
Wie die Praxiserfahrung auf dem Feld sowie Erkenntnisse über dschihadistische Radikalisierung aus der Forschung und aus den Sicherheitsbehörden deutlich zeigen, finden die Propaganda und die Anwerbung für den Salafismus nicht in der Schule statt. Genau so wenig erfolgt der Radikalisierungsprozess in der Regel in den traditionellen Gemeinde- und Moscheestrukturen. Die Zahl salafistisch geprägter Moscheen ist verschwindend klein. Und selbst dort findet zunehmend eine Distanzierung vom politischen Salafismus statt. Jugendliche begegnen ihm vor allem im Internet. Bei den dort zu findenden deutschsprachigen Islam-Angeboten dominieren salafistische Varianten. Darüber hinaus starten Salafist*innen öffentlichkeitswirksame Kampagnen, verteilen beispielsweise den Koran oder provozieren durch Aktionen wie eine »Scharia Polizei«. Salafistische Prediger sind auch in Talkshows unverhältnismäßig überrepräsentiert. Alles in allem genießen manche Prediger wie Pierre Vogel mehr Berühmtheit als jede*r andere muslimische Vertreter*in in diesem Land.
»Bereits radikalisierte Jugendliche haben meist andere Sachen im Kopf, als in die Schule zu kommen.«
Wie im Allgemeinen, aber auch exemplarisch am Diskurs über den Mord an Marwa al Sherbini gezeigt wurde, werden die Jugendlichen mit salafistischen Inhalten wohl viel stärker konfrontiert, als bisher angenommen. Es ist paradox, jedoch scheint das salafistische Islamverständnis in der Öffentlichkeit über eine gewisse Deutungshoheit über den Islam insgesamt zu verfügen, was für eine so marginale Gruppe völlig unverhältnismäßig ist. Gerade für Jugendliche strahlt die salafistische Szene eine gewisse Attraktivität aus. Sie gilt als am stärksten wachsende religiös-politische Strömung. Daher ist es zentral, dass die Präventionsarbeit genau dort ansetzen und versuchen muss, radikalislamistische und -salafistische Orientierungen unter Jugendlichen zu verhindern. Schule als Strukturfeld ist der einzige Ort, an dem präventive Bildungsarbeit – theoretisch – alle Jugendlichen erreichen kann. Die Präventionsmaßnahmen richten sich nicht an bereits radikalisierte Jugendliche. Wenn es schon soweit ist, haben die Jugendlichen meist andere Sachen im Kopf, als in die Schule zu kommen. Die Bildungskonzepte können jedoch durchaus Jugendliche erreichen, die mit salafistischen Inhalten konfrontiert werden. Grundsätzlich sollen die Bildungsmaßnahmen aber die gesamte Schüler*innenschaft als Zielgruppe haben und muslimisch sozialisierte Jugendliche nicht separieren. Die Auseinandersetzung mit islamistischen Inhalten ist für alle Jugendlichen relevant. Alle, auch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, müssen ein Verständnis und eine Haltung zu einer Gesellschaft entwickeln, die sich durch die Heimatwerdung des Islams in Deutschland verändert. Es geht letztendlich darum, wie die Vielfalt unser Leben nachhaltig prägt und in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Die Islamdiskurse in Deutschland bieten dazu einen gesellschaftlich relevanten Bezugsrahmen an, der jede*n betrifft.
Wie Präventionsarbeit funktioniert
Unser Ansatz bietet Jugendlichen durch entsprechende »Diskursfelder« eine intensive Auseinandersetzung über Fragen zu Identität sowie Zugehörigkeit und Partizipation in der Migrationsgesellschaft Deutschland an. Zentraler Zugang sind die Forderungen vieler muslimisch sozialisierter Jugendlicher nach Anerkennung sowohl ihrer Religion als auch ihrer Erfahrungen von rassistischer Ausgrenzung. Es geht darum, sich mit den eigenen und den vielfältigen anderen Vorstellungen in Bezug auf das gesellschaftliche Zusammenleben auseinanderzusetzen. Eine offene und wertschätzende Beschäftigung mit den Herausforderungen und Problemen, die mit dem Heimischwerden des Islams in Deutschland zusammenhängen, mit normativen Werten und den Potenzialen einer pluralistischen Demokratie soll alle beteiligten, aber vor allem die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dabei unterstützen, über ihren Platz in der deutschen Migrationsgesellschaft nachzudenken und sich mit menschenfeindlichen Denk- und Deutungsmustern, zu denen auch ein guter Teil der islamistischen Deutungsmuster zu zählen ist, kritisch auseinanderzusetzen.
»Es geht um eine intensive Auseinandersetzung mit Identität, Zugehörigkeit und Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft.«
Unser Präventionsansatz wurde in Kooperation mit Schulen entwickelt, deren Schüler*innen überwiegend aus muslimisch sozialisierten Familien kommen. Zwar richten sich unsere Bildungskonzepte – von Klassenstufe neun bis zwölf – an diese Zielgruppe, sie sind jedoch auch für nichtmuslimische Schüler*innen relevant. Es geht – ausgehend von den Islamdiskursen – um eine intensive Auseinandersetzung mit Identität, Zugehörigkeit und Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft, um das Verhältnis zwischen Minderheiten und Mehrheit. Globalisierung und Migrationsprozesse sind konstitutiv für jede Gesellschaft. Jede*r hat mit Folgen des gesellschaflichen Wandels umzugehen. Führt man sich die weit verbreiteten antimuslimischen Vorurteile vor Augen, die Massen hinter Pegida und Konsorten, wird klar, wie bitter nötig eine kritische Beschäftigung mit Islamdiskursen in Deutschland auch für Nicht-muslim*innen ist.
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.) ist ein Bildungsträger, der Angebote im Kontext der politischen Bildung für die Herausforderungen der deutschen Migrationsgesellschaft entwickelt. KIgA e.V. zeigt Handlungsstrategien in komplexen, sensiblen und politisch brisanten Themenfeldern wie Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, Nahostkonflikt, anti-muslimischer Rassismus sowie Islamismus auf.
Glossar
Islamismus ist eine politische Ideologie, die das private und gesellschaftliche Leben auf Grundlage der religiösen Quellen des Islams organisieren möchte. Entstanden ist er als eine Reaktion auf die säkularen Herausforderungen der Modernisierungsprozesse in islamischen Gesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts, so gesehen ist er eine junge Erscheinung in der 1400-jährigen Geschichte der islamischen Zivilisation. Der Sammelbegriff bezieht sich auf alle geistigen Strömungen sowie politischen Bewegungen, die sich auf einer Bandbreite zwischen gewaltablehnenden Einstellungen und Verhaltensformen bis zu gewalttätigen, gar terroristischen Formen ausdrücken können.
Beim Salafismus handelt es sich um eine Unterkategorie innerhalb des Islamismus. Er geht vom wörtlichen Verständnis religiöser Quellen aus, besteht auf eine strikte Geschlechtertrennung, welche Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschließt, und lehnt in seiner radikalen Auffassung säkulare Rechts- und Staatsformen ab. Als salafistisch kann eine individuelle puristische Lebensführung verstanden werden, aber auch genau so eine fundamentalistische (gewaltablehnende, -befürwortende oder gewalttätig handelnde) missionarische Bewegung, die pluralistische Demokratie als »von Menschen gemacht« gänzlich ablehnt und eine »von Gott gewollte Ordnung« einrichten möchte.
Unter Dschihadismus ist die gewalttätige und terroristische Ausprägung des radikalen Islamismus zu verstehen, die gegenwärtig vor allem von salafistischen Strömungen geprägt ist. Es besteht ein multinationales Terrornetzwerk, das durch die militärischen Erfolge des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Irak und Syrien weltweit Sympathisant*innen anzieht.
Wenn in diesem Text von Radikalisierung die Rede ist, bezieht sich dies auf einen Prozess, in dem sich Menschen – in der Regel junge Leute – vom traditionellen Mainstream-Islam distanzieren und stattdessen an politisch fundamentalistischen Interpretationen des Islams orientieren, und zwar unabhängig davon ob gewaltablehnend, -befürwortend oder -anwendend.