Als am Montag bereits zum dritten Mal ein Aufzug gegen eine geplante Asylunterkunft im Berliner Ortsteil Marzahn von rechten Gruppen initiiert wurde, wollte die örtliche Zivilgesellschaft ein Zeichen gegen die zunehmende rassistische Stimmungsmache im Kiez setzen. Der Verein „Hellersdorf hilft“, für seine Aktivitäten bereits mit Zivilcouragepreisen bedacht, organisierte eine Demonstration unter dem Motto „Solidarität statt Ausgrenzung“ mit mehreren hundert Teilnehmern. Jedoch sind die Organisatoren nach der Demo verärgert. Nicht darüber, ungefähr genauso viele Teilnehmer wie die rechte Versammlung auf die Straße gebracht zu haben, sondern über die Rolle der Polizei: Stephan Jung, Sprecher der Initiative sagte zu ZEIT Online, der Einsatz war „total überzogen“ und „völlig unverhältnismäßig“. Die Auftaktkundgebung war durch Polizeifahrzeuge komplett umringt: „Man konnte nichts von unseren Transparenten sehen“, nach außen sei die Veranstaltung kaum als solche erkennbar gewesen. „Es ist unverantwortlich, dass 600 Menschen auf engstem Raum eingepfercht und kriminalisiert wurden, während sich gewaltbereite und polizeibekannte Neonazis ohne großes Polizeiaufgebot versammeln konnten“, so Jung. Als der Aufzug losging, bildeten hunderte Bereitschaftspolizisten ein so enges Spalier um die Versammlung, dass wieder kein Banner lesbar gewesen sei. Teilnehmer wurden zudem daran gehindert, den Aufzug zu verlassen bzw. später hinzuzukommen. Nach Ansicht der Initiative sei durch das Auftreten der Polizei der friedliche Protest „kriminalisiert worden“. Das war „ein starker Eingriff in die öffentliche Meinungsbildung“, für Außenstehende musste der Aufzug mit einem so martialischen Polizeiaufgebot erschreckend wirken. Bei dem rechten Marsch sei hingegen nur ein lockeres Spalier vor und hinter dem Aufzug sowie mit einzelnen Beamten an der Seite gewesen.
Die Berliner Polizei nahm gegenüber ZEIT Online bislang keine Stellung zu den Vorwürfen und über die Aufteilung der rund 300 eingesetzten Einsatzkräfte. Fotos und Videos vom rechten Aufmarsch scheinen allerdings die durch den Verein geschilderte ungleiche Verteilung der Beamten zu belegen.
„Wir sind wieder einmal verarscht worden“, resümiert Jung. Denn die Erlebnisse vom Montag erinnern ihn an die Geschehnisse eine Woche zuvor, als ein ähnliches Szenario in Marzahn vorherrschte. 600 Anwohner und Neonazis gegen die Asylunterkunft, hunderte auf einer Gegenkundgebung. Auch dort galt die Aufmerksamkeit der Polizei überwiegend den Gegendemonstranten, obwohl mehrere Medien gleichlautend von einem aggressiven und gewalttätigen Auftreten bei dem rechten Aufmarsch berichteten. Ähnliche Erfahrungen mit einer zweifelhaften Polizeistrategie scheinen auch die Veranstalter in anderen Berliner Ortsteilen gemacht zu haben. In Buch wurde am Montag die Gegendemonstration eine Stunde lang am Losgehen gehindert. Auch das „Bündnis für Demokratie und Toleranz Treptow-Köpenick“, dessen Schirmherr der Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) ist, kritisierte im Nachgang einer solchen Kundgebung am Samstag die Rolle der Polizei. Dem Protest gegen einen rassistischen Aufmarsch in Köpenick seien „durch die Polizei Steine in den Weg gelegt“ worden, heißt es in einer Mitteilung. Die Kundgebung verfehlte ihr Ziel, da die zugesicherte Hör- und Sichtweite der Gegenaktion durch die Polizei nicht eingehalten wurde. Der Protest lief mit seiner Position direkt am Wald ins Leere. Spontane Änderungen seien ausgebremst worden. „Wir verurteilen“, so das Bündnis, „diesen Umgang mit uns aufs Schärfste“. Die einseitige Fokussierung auf den Gegenprotest, während sich „der rassistische Aufmarsch frei durchs Allende-Viertel bewegen konnte, macht deutlich, dass die Polizeiführung hier klar Partei ergriffen hat“, schreibt das Bündnis und resümiert, dass dieses Vorgehen „eine Kooperation mit der Polizei in Zukunft ernsthaft in Frage“ stellt.
Die lauter werdende Kritik der örtlichen Zivilgesellschaftsinitiativen über die Bezirksgrenzen hinaus erreicht jetzt auch die Berliner Landespolitik. Vertreter aller Oppositionsparteien im Abgeordnetenhaus kritisieren den Umgang der Polizei mit den Gegenprotesten und den laxen Umgang mit strafbaren Parolen auf den rechten Aufmärschen. Hakan Taş von der Linksfraktion äußerte sein Unverständnis darüber, dass Neonazis „unbehelligt und ungestört durch die Bezirke laufen können, während die Gegendemonstrationen stets streng von der Polizei begleitet werden“. Es „vermittelt das Gefühl einer Kriminalisierung der Proteste gegen jene, die wir alle am liebsten auf dem Müllhaufen der Geschichte sehen würden“, so Taş. Diverse Augenzeugen berichteten ihm, dass „immer wieder ausländerfeindliche und zum Teil auch volksverhetzende Parolen, die seitens der Polizei nicht unterbunden wurden“, skandiert worden seien. Auch Oliver Höfinghoff von den Piraten kritisierte die Ungleichbehandlung der Veranstaltungen gegenüber ZEIT Online: „Es wird zur Zeit durch die Polizei wesentlich mehr Aufwand betrieben, diese rassistischen Aufzüge zu ermöglichen als wir das in den letzten Jahren gewöhnt waren. Innensenator Henkel muss sich endlich einmal erklären, warum seiner Behörde soviel daran zu liegen scheint, überall in Berlin mehrmals in der Woche rassistische Demonstrationen laufen zu lassen.“ Auch Clara Herrmann von den Grünen kritisierte den Innensenator und die Rolle der Polizei:Es ist wichtig, dass man Gegenproteste in Hör- und Sichtweise zulässt. Das richtet sich jetzt erstmal an den Innensenator Frank Henkel (CDU). Das ist ja auch von höchsten Gerichten in diesem Sinn so entschieden worden.“ Sie erwartet „von der Berliner Polizei, dass sie sehr strikt auf Hetzparolen reagiert und entsprechend einschreitet.“ Alle Parteien wollen das Thema kommenden Montag im Innenausschuss thematisieren. Piraten und Linke planen zudem gemeinsam eine Anhörung im Abgeordnetenhaus zu den Aufmärschen der letzten Wochen.
Zu alledem kommt auch Kritik von einer anderen Seite: Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di (dju) sieht Pressevertreter am Rande der rechten Aufzüge nicht ausreichend geschützt und berichtet von Übergriffen auf ihre Kollegen vor den Augen der Polizei. Die Bundesgeschäftsführerin Cornelia Haß sagte ZEIT Online: „Es kann und darf nicht sein, dass die Polizei tatenlos zuschaut, wenn Journalistinnen und Journalisten an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert werden. Aber genau so wenig darf es sein, dass die Polizei offenbar tatenlos zu sieht, wenn Menschen, gleich welcher Profession bedroht oder bedrängt werden. Die Arbeit der Presse ist für eine Demokratie unverzichtbar und daher ja auch grundgesetzlich geschützt. Diesem hohen Stellenwert muss der Staat Rechnung tragen und die praktische Umsetzung der Pressefreiheit ermöglichen.“
Tatsächlich war am Montag in Marzahn ziemlich deutlich zu beobachten, dass sich eine Gruppe von acht bis zehn Neonazis aus dem Spektrum des NW-Berlin und der Berliner JN um ihren Landesvorsitzenden Björn Wild an dem Abend ausschließlich damit beschäftigte, anwesende Journalisten zu bedrängen und an ihrer Arbeit zu behindern. Ein Video von dem Tag dokumentiert eindringlich, wie ein Kameramann von dem einschlägig bekannten und vorbestraften Rechtsextremisten Christian Bentz bedrängt, angebrüllt und schließlich verjagt wird. Einsatzkräfte der Polizei verhielten sich auch nach mehrfachen Hinweisen durch die betroffenen Journalisten passiv. Medienberichten zufolge, kam es zu ähnlichen Szenen auch am Rande der anderen Aufzüge in Buch, Marzahn und Köpenick.
Auch hier sehen die Berliner Abgeordneten Klärungsbedarf bei der Polizei. Dem Piraten Höfinghoff hätten Journalisten von dem spontan angemeldeten rechten Aufmarsch am 17. November berichtet, dass sie von Polizisten zum Gehen aufgefordert wurden, da ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne. „Die Polizei verbietet also einen Spontanaufzug nicht, den sie untersagen könnte, obwohl sie nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung um diesen Aufzug herum sicherstellen kann. Eine solche Situation ist unfassbar.“ Auch Hakan Taş (LINKE) kommt zu dem Schluss: „Dafür müssen sich Innensenator Henkel und Polizeipräsident Kandt rechtfertigen. Das Vorgehen und die Organisation der Berliner Polizei in Zusammenhang der rechtsextremen und neonazistischen Demonstrationen ist scharf zu kritisieren. Dies erfordert eine Debatte im Innenausschuss, aber auch im Parlament.“
Ob ein Umdenken bei den Einsatzleitern der Polizei nach der zunehmenden Kritik stattfinden wird, dürfte sich vermutlich bereits am kommenden Samstag zeigen. Für diesen Tag mobilisiert die rechte Szene zu einem überregionalen Aufmarsch gegen Asylunterkünfte nach Marzahn. Heute veröffentlichten die Vorsitzenden der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, Jan Stöß (SPD), Bettina Jarasch (Grüne), Daniel Wesener (Grüne), Klaus Lederer (DIE LINKE) und Bruno Kramm (PIRATEN) und auch der für die Polizei zuständige Innensenator Frank Henkel (CDU) eine gemeinsame Erklärung, in der die Unterzeichner für Samstag dazu aufrufen, „sich der menschenfeindlichen Hetze von Rechtspopulisten und Neonazis entgegenzustellen und friedlich dagegen zu protestieren.“
Dieser Artikel erschien zuerst am 19. November auf dem Störungsmelder-Blog.