Alle reden von Harmonisierung. Wir nicht.

Die »Harmonisierung« des Asylrechts in Europa sowie der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik ist ein Euphemismus für »Wir wollen Euch hier nicht!« Wenn von Angleichung oder Harmonisierung geredet wird, ist Regulierung, Kontrolle und Abwehr von Migrationsbewegungen gemeint.

 

Seit Sommer 2012 gewannen Proteste gegen die deutsche und europäische Migrations- und Asylpolitik an Intensität und Radikalität. Der Marsch von Geflüchteten, Asylsuchenden und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus von Würzburg nach Berlin mündete in das Zeltcamp am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg, das nun seit eineinhalb Jahren besteht. Mit zahlreichen Aktionen wie Demonstrationen, Besetzungen und Hungerstreiks kämpfen sie gegen ihre Rechtlosigkeit und Kriminalisierung, fordern die Abschaffung von Abschiebungen, Arbeitsverboten, Lagerunterbringung und Residenzpflicht. Sie kämpfen für ihre Würde und die Durchsetzung gleicher sozialer und politischer Rechte. Europaweit ist ein wachsender Widerstand gegen die Abschottung und Kontrolle von Flucht- und Migrationsbewegungen zu beobachten. So planen Geflüchtete und Menschen ohne Aufenthaltspapiere verschiedener europäischer Länder für Mai und Juni 2014 einen gemeinsamen Protestmarsch nach Brüssel.

»Harmonisierung« europäischer Flüchtlingspolitik heißt: »Wir wollen euch hier nicht!«

Die Europäische Union weitet hingegen kontinuierlich die Regulierung und Kontrolle von Flucht- und Migrationsbewegungen aus. Mit den Schengener Abkommen (1985, 1990) und dem Amsterdamer Vertrag (1999) wurden die innereuropäischen Grenzkontrollen abgeschafft und an die Außengrenzen der Europäischen Union verlegt. Durch Visaregelungen und die »Harmonisierung« der nationalen Asyl- und Einreisepolitiken wurde ein europäisches Migrationsregime etabliert, das auf die Kontrolle und Abwehr von Migrationsbewegungen zielt. Das Ziel der Abwehr sogenannter »irregulärer Migration« wurde zur Hauptaufgabe der 2005 geschaffenen Grenzschutzagentur »Frontex«, die seitdem mit einem stetig steigenden Budget, modernen Technologien und zunehmender Militarisierung die Außengrenzen überwacht und Abschiebungen koordiniert. Die Maßnahmen zur Abwehr von Migrant_innen greifen jedoch nicht nur an den Außengrenzen, sondern erstrecken sich weit über das Gebiet der Europäischen Union hinaus, was sich mitunter in der Etablierung von Flüchtlingslagern in Transit- oder Herkunftsländern zeigt. Wesentlich für diese Exterritorialisierung europäischer Migrationspolitik sind des weiteren bilaterale und multilaterale Abkommen der EU mit Nicht-EU-Staaten, die diese verpflichten, eigene Staatsangehörige zurückzunehmen, wenn sie ohne legale Aufenthaltspapiere aufgegriffen wurden. In der Konsequenz werden Geflüchtete zurück geschickt und landen nicht selten per Kettenabschiebungen wieder in ihren Herkunftsländern. Das 2013 geschaffene »Europäische Grenzkontrollsystem« (Eurosur –European external border surveillance system) zielt darauf, die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, die Zahl der »irregulär« eingereisten Menschen aus sogenannten Drittstaaten zu reduzieren. Das Prinzip der sicheren Drittstaaten und Herkunftsstaaten, das 2003 mit der Dublin-II-Verordnung innerhalb der EU eingeführt wurde, verpflichtet Asylsuchende, ihren Asylantrag in dem ersten Mitgliedstaat zu stellen, in den sie einreisen. Außerdem dürfen sie keinen Asylantrag stellen, wenn sie aus einem als

»Durch Visaregelungen und die »Harmonisierung« der nationalen Asyl- und Einreisepolitiken wurde ein europäisches Migrationsregime etabliert, das auf die Kontrolle und Abwehr von Migrationsbewegungen zielt.«

sicher definierten Land kommen. In Deutschland wurde die Drittstaatenregelung bereits 1993 mit dem so genannten Asylkompromiss eingeführt. Europa brauchte dafür noch zehn Jahre. Was real mit dem positiv klingenden Wort »Harmonisierung« des europäischen Flüchtlings- und Asylrechts gemeint ist, wird auch an diesem Beispiel der Angleichung des europäischen Flüchtlings- und Asylrechts an die restriktive deutsche Lesart sichtbar: Drittstaatenregelung nicht nur für Deutschland, sondern seit Dublin-II »harmonisiert« für alle Staaten der EU. Diese Gesetzgebung verlagert die Verantwortung für ankommende Flüchtlinge auf EU-Staaten mit europäischen Außengrenzen, ungeachtet dessen, ob dort funktionierende Asylsysteme bestehen.

Deutsche und europäische Flüchtlingspolitik heißt »Hin- und Her- und Abschieberei«

Vor diesem Hintergrund manifestiert sich der Protest der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« – eine Gruppe Geflüchteter aus verschiedenen afrikanischen Ländern, die zeitweise in Libyen lebten und aufgrund des Krieges dort nach Italien fliehen mussten. Sie überlebten die Fahrt über das Mittelmeer, bei der immer wieder aufgrund der europäischen Abschottungspolitik unzählige Menschen verunglücken. In Italien erhielten sie im Rahmen des EU-Programms »Notstand Nordafrika« (emergenza nordafrica) einen temporären Aufenthalt, allerdings ohne ausreichende soziale Absicherung. Nach dessen Ende signalisierten die italienischen Behörden, dass es keine Lebensperspektive für sie in Italien gebe und forderten sie auf, in andere Länder der EU zu gehen. Vor diesem Hintergrund und wegen der massiven wirtschaftlichen Krise in den Ländern im Süden Europas flohen viele in andere europäische Länder – in Deutschland u.a. nach Hamburg, Berlin und München. Die Dublin-II (bzw. seit Januar 2014 Dublin-III)-Regelung ermöglicht jedoch Ländern wie Deutschland die Zuständigkeit zu verweigern. So ist die »Hin- und Her- und Abschieberei (…) Hauptinhalt des EU-Flüchtlingsrechts«. Diese Politik führt dazu, dass Geflüchteten nirgends eine Lebensperspektive eröffnet wird. Selbst wenn sie in den Ländern an den südlichen Außengrenzen der EU einen Aufenthalt erhalten, sind sie aufgrund nicht existierender oder funktionierender Asyl- und Sozialsysteme gezwungen, weiter zu fliehen. In Deutschland dürfen sie sich mit einem Aufenthaltsstatus in einem anderen europäischen Land zwar drei Monate legal als Tourist_innen aufhalten, aber keine Sozialleistungen beziehen. Im Anschluss werden sie in die Illegalität gedrängt. Eine politisch produzierte Sackgasse, die sich durch die ökonomische Krise der letzten Jahre noch verengt und das Ungleichgewicht in Bezug auf die politische Verantwortung und Zuständigkeit zwischen den Staaten an den EU-Außengrenzen und ihren nördlichen Nachbarn noch verstärkt hat.

Trotz Abschreckung und forcierter Entrechtung kann die europäische und internationale Flüchtlings- und Migrationspolitik Migrationsbewegungen nicht per se unterbinden. Dies zeigt auch der Blick auf die Politik der International Organization of Migration (IOM): Die IOM betreibt eine systematische Kontrolle und Steuerung von Migrationsbewegungen nach Kriterien der Verwertbarkeit. Die Illegalisierung von Migration und die korrespondierende Kriminalisierung von Migrant_innen legitimiert die Verwehrung von politischen und sozialen Rechten und bestärkt auch ein feindliches oder rassistisches gesellschaftliches Klima gegenüber Migrant_innen. Die Zunahme von Gewalt durch rassistische Stimmungsmache gegen Geflüchtete und der deutliche Anstieg von Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2013 sind kein Zufall. Wenn Medien und Politiker_innen mit Blick auf die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien und anderen Kriegs- und Krisenregionen immer wieder eine »Grenze der Belastbarkeit« behaupten, verwundert es nicht, dass solcherlei rassistische Hetze auf fruchtbaren Boden fällt und von »ganz normalen« Bürgerinnen und Bürgern tatkräftig und lautstark umgesetzt wird. Schließlich zeigt das Beispiel Berlin-Hellersdorf, wie organisierte Rechtsextreme an das gesellschaftliche Klima anknüpfen können: Sie nutzen das Thema »Flüchtlinge« und die mitunter auch bei Anwohner_innen damit einhergehenden Ängste, Unsicherheiten und Ressentiments für eine rassistische Mobilisierung und inszenieren sich selbst dabei in altbekannter extrem rechter Strategie als »volksnahe Kümmerer«. (1) Der Wahlkampf für die bevorstehenden Wahlen für das Europaparlament im Mai 2014 sowie für die Kommunalwahlen in elf Bundesländern wird bereits jetzt massiv auf dem Rücken von Flüchtlingen und Migrant_innen betrieben.

Hier sind kulturelle und vor allem ökonomische Kriterien wirksam, durch die eine Gruppe von »erwünschten« Migrant_innen gegenüber der Gruppe »unerwünschter« Migrant_innen konstruiert und privilegiert behandelt wird. So wird im öffentlichen Diskurs permanent vom »Missbrauch der europäischen Freizügigkeit« durch »Armutszuwanderung« aus Osteuropa sowie »Sozialleistungsbetrug« gesprochen, wodurch Migrant_innen degradiert und Migrationsgründe delegitimiert werden.

Die Arbeit des Medibüros…

Vor dem Hintergrund des Asylkompromisses 1993 und der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) mit zahlreichen Sondergesetzen für Asylsuchende hat sich das Berliner Medibüro 1996 gegründet, um der Abschottungspolitik auf europäischer Ebene und dem Rassismus in der Gesellschaft etwas entgegen zu setzen sowie gleichzeitig praktisch-solidarische Unterstützung zu leisten. Mit der »Harmonisierung« der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik und den veränderten inner- und außereuropäischen Migrationsbewegungen hat sich auch die Arbeit des Medibüros in den letzten Jahren verändert. Die Gruppe der Menschen, die das Medibüro aufsuchen, ist vielfältiger geworden: Neben den »klassisch« Illegalisierten sind es seit einigen Jahren auch osteuropäische EU-Bürger_innen aus den neuen EU-Ländern, die weder in Deutschland noch in ihren Herkunftsländern krankenversichert sind, seit 2013 auch die so genannten »Lampedusa-Flüchtlinge« sowie weitere Menschen in laufenden Asylverfahren, denen eine angemessene medizinische Versorgung oftmals durch restriktive Auslegung des AsylbLG verwehrt wird.

… zwischen unterstützender Sozialarbeit und politischer Öffentlichkeitsarbeit

Ziel des Medibüros war immer eine möglichst weitgehende Eingliederung in das reguläre Gesundheitssystem. Eine Parallelstruktur sollte so gering wie möglich gehalten werden und auch nur von vorübergehender Natur sein. Die staatliche Verantwortung für die medizinische Versorgung aller in Deutschland lebenden Menschen einzufordern, um schließlich die eigene Arbeit überflüssig zu machen, war von Beginn an zentrale politische Leitlinie. So bewegt sich die Arbeit des Medibüros seither in dem Spannungsfeld zwischen Forderungen an den Staat und gleichzeitiger Nischenpolitik, welche die Probleme so gut wie möglich pragmatisch und autonom zu lösen versucht, indem eine medizinische Versorgung auf Umwegen organisiert wird. Dabei leistet das Medibüro selbst keine medizinische Hilfe. Die Mitarbeiter_innen verstehen sich als Vermittler_innen: Sie erfragen die Beschwerden der Ratsuchenden und vermitteln sie während der Bürozeiten an eine geeignete Fachpraxis oder in kooperierende

»Eine politisch produzierte Sackgasse, die sich durch die ökonomische Krise der letzten Jahre noch verengt und das Ungleichgewicht in Bezug auf die politische Verantwortung und Zuständigkeit zwischen den Staaten an den EU-Außengrenzen und ihren nördlichen Nachbarn noch verstärkt hat.«

Krankenhäuser. Zum Medibüro-Netzwerk gehören rund 120 Ärzt_innen, Hebammen, Krankengymnast_ innen und medizinische Einrichtungen. Alle arbeiten unentgeltlich und versuchen – im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten – die Menschen nach gleichen medizinischen Standards wie reguläre Krankenkassenpatient_innen zu behandeln. Dass dies strukturell bedingt nicht immer möglich ist, gehört leider zur Versorgungsrealität in solchen Parallelstrukturen genauso dazu wie lange Wartezeiten im eher ungemütlichen Flur des Kreuzberger Mehringhofs, wo das Medibüro sein Vermittlungsbüro hat. Die Aktiven im Medibüro bewegen sich dabei in ihrem Alltag stets zwischen solidarischer sozialarbeiterischer Unterstützung Einzelner und politischer Öffentlichkeitsarbeit. Beides erfordert eine gewisse Professionalisierung. Um überzeugend in der Öffentlichkeit für die Thematik sensibilisieren und politische Forderungen erheben zu können, müssen die gesetzlichen Grundlagen ebenso bekannt sein wie Wissen um die praktischen Problemlagen. Die Unterstützung (kranker) Menschen ohne Aufenthaltsstatus erfordert medizinische Kenntnisse genauso wie Wissen über Krankenversicherungssysteme, Paragrafen des Asylbewerberleistungsgesetzes, Kenntnisse im Sozialrecht sowie vertrauensvolle Kontakte zu Netzwerken im Gesundheitsbereich, Rechtsberatungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Unterstützungsgruppen.

Gegen eine Professionalisierung mit (teilweise) finanzierten Personalstellen spricht allerdings, dass der Ausbau von Parallelstrukturen mit reduziertem Leistungsumfang zementiert würde, ohne die politischen und gesetzlichen Voraussetzungen für die Integration in die medizinische Regelversorgung mit einklagbarem Rechtsanspruch für Illegalisierte zu schaffen. Es liegt auf der Hand, dass langfristig ein spendenfinanziertes, selbstorganisiertes Projekt wie das Medibüro nicht für die Gesundheitsversorgung von Migrant_innen aufkommen kann: Die Einlösung des Rechts auf Gesundheitsversorgung kann und darf nicht Aufgabe und Verantwortung zivilgesellschaftlicher Initiativen sein. Parallelstrukturen können keine ausreichende gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Politisch muss es darum gehen, endlich den regulären Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle zu ermöglichen und soziale Rechte durchzusetzen – sei es für Illegalisierte, Geflüchtete aus Lampedusa, neue EU-Bürger_innen oder Asylsuchende.

Mit der 2013 initiierten »Kampagne gegen Abschottung und Illegalisierung, für gleiche soziale Rechte und medizinische Versorgung für alle!« thematisiert das Medibüro die soziale und rechtliche Situation der angesprochenen Personengruppen und kritisiert die deutsche und europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik. Den wiederholten Hungerstreik von Geflüchteten im Herbst 2013 vor dem Brandenburger Tor nahm das Medibüro zum Anlass, den Aufruf »Für eine reguläre Gesundheitsversorgung aller Menschen – unabhängig vom Aufenthaltsstatus!« zu initiieren. Die restriktive Angleichung der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik ist keine »Harmonisierung«, sondern verstärkt durch Abwehr und Regulierung von Migrationsbewegungen die Ausschlüsse und Diskriminierung von Geflüchteten – auf Kosten von Gesundheit und Leben der betroffenen Menschen.

Das Medibüro – Büro für medizinische Flüchtlingshilfe vermittelt seit 18 Jahren illegalisierten Menschen und Migrant_ innen ohne Krankenversicherung in Berlin Gesundheitsversorgung durch medizinisches Fachpersonal – anonym und kostenlos für die Betroffenen. Das Medibüro ist ein selbstorganisiertes, nichtstaatliches, antirassistisches Projekt, das seit seinem Bestehen für gleiche soziale und politische Rechte aller Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eintritt.

(1) Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in Berlin-Hellersdorf vom Sommer 2013 hat die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) im März 2014 gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAGKR) und der Evangelischen Akademie zu Berlin (EA) die Online- Handreichung »Was tun, damit‹s nicht brennt« herausgegeben. Die Herausgeber_innen reagieren damit »auf die steigende Anzahl von rassistischen und neonazistischen Straf- und Gewalttaten gegen Sammelunterkünfte für Geflüchtete in Ost- und Westdeutschland«. Die Broschüre gibt es hier.

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