„Frau rutscht aus, Männer treten zu.“ Was ist passiert?

Motiviert durch den Start des allge­meinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 hat das Land Berlin mit der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung eine dringend benötigte Beratungsstruktur für Diskriminierungen auf Grund der sexuellen und geschlechtlichen Identität geschaffen und damit Pionierarbeit geleistet. Schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen, die in Berlin wohnen, erhalten seit 2008 Beratung und Unterstützung.

 

Eine Frau, ca. 60 Jahre alt, rutscht im Winter bei Glätte aus, zwei Männer eilen zu Hilfe, wollen ihr aufhelfen. Sie schau­en sie an, treten zu, und laufen weg. Das ist einer der Fälle aus der Antidiskriminierungsberatung der Schwulenberatung Berlin, die seit 2008 im Projekt StandUp Beratung und Unterstüt­zung im Diskriminierungsfall bietet. Zielgruppen sind schwule und bisexuelle Männer, transge­schlechtliche Menschen sowie Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), sich aber nicht als schwul oder bisexuell identifizieren. Die oben genannte Passantin wurde körperlich misshandelt, weil die herbeieilenden Männer sie als transgeschlechtlich „befanden“ und transphobe Gewalt anwendeten. Sie stellte Strafanzeige gegen Unbekannt und machte eine Gewalterfahrung, von der besonders transgeschlechtliche Menschen be­troffen sind – weltweit – auch in Deutschland und Berlin. Zahlen, die jährlich vom europäischen Dach­verband „Transgender Europe“ (TGEU) und seinem Projekt „Transrespect vs. Transphobia“ erhoben werden, sprechen eine genauso deutliche Sprache wie andere Erhebungen; allein in Berlin wurden in den vergangenen zwei Jahren über 150 Diskrimi­nierungsfälle von transgeschlechtlichen Menschen in den Beratungsstellen der Schwulenberatung, des Sonntags-Clubs, der Lesbenberatung und des LSVD bearbeitet, die gemeinsam das Berliner Netzwerk Lesben, Schwule, Transgender für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung bilden. Die Fälle handeln von Menschen, die körperliche Gewalt wie im obigen Beispiel erfahren haben, regelmäßig Beschimpfungen und Bedrohungen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind oder im Gesundheitswesen oft so abschätzig behandelt werden, dass sie auf die nötige medizinische Versorgung lieber verzich­ten. Solche und andere Gewalt trifft viele, die vermeintlichen Normen scheinbar nicht entsprechen, aufgrund ihres Geschlechtsausdrucks, ihrer Haut­farbe, ihrer sexuellen Identität, körperlichen Befähi­gungen, Religion oder politischer Weltanschauung und anderer Merkmale abgewertet werden.

Mit größten Beschwerden kommt ein Mann in eine Zahnarztpraxis, eine Ent­zündung verlangt sofortige Behandlung; er füllt den Anmeldebogen aus, nimmt kurz darauf im Zahnarztstuhl Platz, der Arzt erscheint und weist ihm die Tür, man sei ein Ausbildungsbetrieb und seine Behandlung sei potentiell gefährdend – auf Grund seiner HIV-Infektion. HiV-positive Menschen erfahren die Infektion immer noch als Diskriminierungsgrund, selbst im zahnmedizinischen Notfall. im Jahr 2012 wurden von StandUp 81 Diskriminierungsfälle beraten, be­gleitet und dokumentiert; darunter über ein halbes Dutzend auf Grund einer HiV-Infektion. Wie funkti­oniert die Beratung? Ein_e Klient_in wendet sich mit einem Fall an das Projekt, im Gespräch mit dem Berater klärt er_sie die jeweiligen Bedürfnisse, z.B. nach Rechtsinformation, Begleitung zur Polizei, konfliktvermittelnden Gesprächen, sich auszuspre­chen, Stellungnahmen von diskriminierenden Ein­richtungen anzufragen, etwa von Arztpraxen, Haus­verwaltungen, Arbeitgeber_innen, Behörden u.a. Die Beratung ist parteilich, kostenfrei und empowernd, es können sich ihr mehrere Folgekontakte an­schließen. Das Berliner Netzwerk Lesben, Schwule, Transgender für Gleichbehandlung – gegen Diskri­minierung beriet in insgesamt 146 Fällen. Davon wurden ca. 45 Fälle von den Berater_innen als unmittelbar relevant für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) eingestuft. Die anderen Fälle betrafen Diskriminierungen, die nicht unter das AGG fallen, weil sie z.B. einen Straftatbestand erfüllten bzw. gegen das TSG (Transsexuellengesetz) verstießen. Darunter Fälle häuslicher Gewalt oder die Missachtung der Geschlechtsidentität einer Person, z.B. am Arbeitsplatz, beim JobCenter oder in der Gesundheitsversorgung.
Über zehn Jahre lebt eine junge Frau in wechselnden WG-Konstellationen; als sie dem JobCenter eine nur zweitägige Honorartätigkeit bei einer Einrichtung für LSBtI (d.h. lesbische, schwule, bi­sexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen) übermittelt, wird sie rüde aufgefordert, ihre „familiäre Bindung“ zu ihrer aktuellen Mitbewohnerin dar­zulegen. Die Argumentation des Job­Centers: Gemeinsame WG-Konten seien höchst ungewöhnlich. Wie kann sie sich vor einer solchen stereotypen Kategorisierung schützen, wie dem JobCenter ange­messen gegenübertreten, ohne auf dem Eindruck sitzenzubleiben, abwertend als lesbisch gelabelt zu werden und deshalb Eingriffe in ihre Privatsphäre angedroht zu bekommen? So die Frage der Klien­tin, der eine unmissverständliche Stellungnahme an das JobCenter folgte. Wie in diesem Fall themati­sieren Klient_innen in den Beratungen ihre Ängste vor drohender und erlebter Diskriminierung. Nach wie vor gehen zahlreiche Beratungsgespräche über Diskriminierungsberatung im Sinne von Rechtsin­formation und strategischer Planung hinaus. Die Beratungen zielen auf Stärkung (im Sinne von Empowerment) ihrer Handlungsstrategien gegen Diskriminierung ab und informieren über psycho-soziale Begleitung und andere Formen der Unter­stützung.

Die Initiative Sexuelle Vielfalt des Landes Berlin fördert seit 2010 u.a. Fortbildungsangebote für die Öffentliche Verwaltung, durchgeführt von der Schwulenberatung und ihren Kooperationspart-ner_innen Lesbenberatung, LSVD, Sonntags-Club und iViM (internationale Vereinigung intergeschlechtlicher Menschen). Ziel ist es, Wissen über LSBTi-Lebensrealitäten zu vermitteln, eigene und die Diskriminierungserfahrungen von anderen zu reflektieren und gutes Rüstzeug für die tägliche Berufspraxis zu geben, für einen kompetenten, zugewandten Kontakt mit den Bürger_innen. Fälle wie der oben genannte im JobCenter sind damit nicht gänzlich aus der Welt zu schaffen, doch Teilnehmende übernehmen als Multiplikator_innen und Unterstützer_innen für Gleichstellungsbestrebungen eine wichtige Rolle für mehr Akzeptanz. Nach einem Abend unter Kolleg_innen will eine Kollegin es ganz genau wissen und greift alkoholisiert einem Kollegen, den sie für transmännlich hält, an den Oberkörper. Sie fordert die Mitanwesenden auf, ihr endlich „die Wahrheit“ über den Kollegen zu sagen. Er habe „so zarte Hände“ und überhaupt die „ganze Art“ – „so sind Männer doch nicht“. Ein Fall aus der Beratungspraxis, der als Neugierde und menschliches Interesse verpackt daherkommt – doch in Wirklichkeit nur ein weiteres Beispiel für die Missachtung der Geschlechtsidentität eines Menschen ist – ob durch falsche Anrede, die Verweigerung, mit der Geschlechtsidentität übereinstimmende Dokumente auszustellen oder eben der Infragestellung des individuellen Geschlechtsausdruckes einer Person.

Als Beispiele guter Praxis seien an dieser Stelle noch einige Neuentwicklungen aus der Berliner Antidiskriminierungsarbeit für LSBTI genannt. Mit der Homepage www.lsbti-berlin.de hat das Antidiskriminierungsnetzwerk seit 2012 einen gemeinsamen Web-Auftritt in sieben Sprachen: Arabisch, Deutsch, Englisch, Farsi, Französisch, Polnisch, Spanisch und Türkisch. Das zugehörige Informationsvideo, dessen Schlüsselbotschaft ebenfalls mehrsprachig ist, zielt ausdrücklich auf Mehrzugehörigkeit ab und benennt weitere Merkmale, wie „chronisch krank“, „Migrant_in“, „Mutter“, „arbeitslos“, „religiös“. Um die Bedürfnisse von trans- und intergeschlechtlichen Menschen, die mehrfachzugehörig sind, besser in bestehende Beratungsangebote einzubinden, engagieren sich mehrere beratende und empowernde LSBTI-Organisationen wie Abqueer, Gladt, Lesbenberatung, Schwulenberatung und TransInterQueer seit 2012 im Netzwerk Trans*Inter*Sektionalität (TIS), gefördert von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Mit der Plakat- und Postkartenkampagne „Ich bin mehr als du denkst“ thematisiert auch TIS Vielfalt unter LSBTI, ob hinsichtlich der ethnischen Herkunft, Hautfarbe, des Alters, Geschlechts, der sexuellen Identität, Religion oder politischer Weltanschauung, einer Beeinträchtigung oder des sozialen Status – eine von zahlreichen Unternehmungen, um Mehrfachzugehörigkeit stärker ins Zentrum zu stellen. Ein anderes Beispiel dafür ist z.B. das „Netzwerk Anders Altern“ der Schwulenberatung, dessen Mehrgenerationen-Hausprojekt „Lebensort Vielfalt“ seit 2012 schwule und bisexuelle Männer beherbergt, deren sexuelle Identität über Jahrzehnte durch den §175 kriminalisiert wurde und die inzwischen – begleitet von einer Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und dementieller Erkrankung – ein gemeinsames Leben im Alter ausgestalten.

Ebenfalls seit 2012 gibt es bei der Berliner Staatsanwaltschaft zwei Ansprechpartner_innen für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (die wie die Ansprechpartner_innen bei der Berliner Polizei auch in Fällen transphober Gewalt tätig werden), bei denen Gewaltfälle zur Anzeige gebracht werden können. Ein Ziel hinter den ausdifferenzierten Beratungs- und Unterstützungsangeboten für LSBTI im Diskriminierungsfall ist, der Dunkelziffer beizukommen; diejenigen zu erreichen, für die Übergriffe so alltäglich oder traumatisierend sind, dass sie auf Beratung, Unterstützung und Strafanzeigen verzichten, sie erst spät in Anspruch nehmen oder von den bestehenden Beratungsstrukturen noch nicht erfahren haben.

StandUp – Das Antidiskriminierungsprojekt der Schwulenberatung Berlin bietet Beratung und Unterstützung in Fällen von Diskriminierung, gefürchteter Diskriminierung, für schwule Männer, mit und ohne Transgeschlechtlichkeit, mit und ohne Migrationshintergrund, Menschen mit HIV und Aids, schwule und bisexuelle Männer Of Colour, MSM.

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