Die meisten Angriffe in Berlin sind rassistisch motiviert

ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, erfuhr von 139 Angriffen für das Jahr 2012. Rassismus steht als Tatmotiv weiterhin im Vordergrund. Trotz leicht gesunkener Angriffszah­len wurden 2012 mehr Menschen verletzt und massiv bedroht als im Jahr 2011. Zum Vergleich: Bis Ende Februar des vergangenen Jahres wurden 158 Angriffe für 2011 registriert. Wir haben also einen leichten Rückgang der An­griffe beobachtet, dennoch stieg die Zahl der Op­fer von 229 auf 234 an.

 

Nach unseren Erkenntnissen ist Rassismus in Berlin seit Jahren das häufigste Tatmotiv. In 68 Fällen (2011: 70) wurden deswegen Menschen bedroht und verletzt. Was geschieht da eigentlich? Ein 30-jähriger Mann will mit seinen beiden Kindern einen Fußgängerüberweg überqueren. Dabei wird er von einem un­bekannten Autofahrer rassistisch beleidigt, gestoßen, mit der Faust gegen das Jochbein geschlagen und dabei verletzt. Zwei junge Frauen werden von einem 78-Jährigen rassistisch beleidigt, mit der Faust ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen. Ein 18-jähriger Angestellter eines Imbisses wird aus einer Gruppe von vier Männern heraus rassistisch beleidigt und von einem mit beiden Händen gegen die Brust gestoßen. Eine 34-jährige Frau wird in einem Super­markt von einer unbekannten Frau aufgefordert, mit ihrem Sohn deutsch statt russisch zu sprechen und ins Gesicht geschlagen. Eine Frau wird in Begleitung ihrer beiden Söhne auf dem Bahnsteig von einer un­bekannten Frau rassistisch beleidigt. Der sechsjährige Sohn wird von der Unbekannten mit Reizgas ins Ge­sicht gesprüht und verletzt.

Aus Sicht der Opfer passieren die Angriffe fast immer völlig unvermittelt, ohne jede Vorwarnung. Für sie ist von einem Augenblick zum nächsten nichts mehr so, wie es vorher war. Sie werden ihrer Hand­lungsmöglichkeiten beraubt, Lebensentwürfe sind zerstört, vor allem die psychischen Folgen sind ein­schneidend und prägen manchmal ein Leben lang. Die Opfer sind meistens männliche Erwachsene. Aber auch immer häufiger erfahren wir von Frauen und Kinder jeden Alters, die geschlagen, bespuckt, beleidigt und bedroht werden. Die Täter_innen ge­hören häufig nicht zur organisierten Neonaziszene, sondern es sind Personen, die den Betroffenen zufällig begegnen und bereit sind, ihre zutiefst ras­sistischen Einstellungen äußerst brutal zum Ausdruck zu bringen. Außerdem wurden im vergangenen Jahr 30 Angriffe (2011: 32) aus homo- bz w. transphoben Gründen verübt. Linke, vor allem Antifaschist_innen, wurden 15 Mal (2011: 32) angegriffen. Gegen alternative Jugendliche und Erwachsene richte­ten sich 12 Attacken, 6 Angriffe waren antisemitisch motiviert.

Die Angriffszahlen bewegen sich in Neukölln schon seit einigen Jahren auf hohem Niveau. Von den 22 waren 13 Gewalttaten rassistisch motiviert. Die seit November 2009 in Neukölln (u.a. auch in Kreuzberg, Treptow-Köpenick, Reinickendorf) verübten Anschläge, wie eingeschlagene Scheiben und Schmierereien auf alternative, linke Projekte und zerstörte Briefkästen, setzten sich auch 2012 fort. Das ganze Jahr über haben Neonazis vor allem im südlichen Neukölln massiv plakatiert, Parolen und Hakenkreuze ge­schmiert. Die NPD hat zudem versucht, Veranstaltun­gen durch Kundgebungen zu stören bzw. durch ihre Anwesenheit die Besucher_innen zu bedrohen und einzuschüchtern. Am 9. Oktober 2012 wird in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr ein privates Wohnhaus in der Hufeisen­siedlung in Britz zum wiederholten Male angegriffen. nachdem die Fenster inzwischen vergittert sind, wur­de die Scheibe an der Haustür eingeworfen. In dem Wohnhaus befinden sich zur Tatzeit Personen. Die Scheiben wurden schon einmal im November 2011 und im Juli 2012 eingeworfen, weil Bewohner_innen sich geweigert hatten, dass NPD-Wahlwerbung in ihren Briefkasten gesteckt wird. Im Juni 2012 wurde der Briefkasten gesprengt. Die Bewohner_innen entscheiden sich für einen offensiven Umgang mit den massiven Bedrohungen und gehen an die Öffentlichkeit. Mittlerweile haben sich die „Anwohnerinitiative Huf­eisern gegen Rechts“ und das „Aktionsbündnis Britz“ gegründet.

Von Opfern und Täter_innen

Die Skandale um die Aufdeckung der vom NSU be­gangenen Morde hätten zumindest einen sensibleren Umgang der Ermittlungsbehörden mit den Opfern rassistischer Gewalt zur Folge haben müssen. Weit gefehlt. Betroffene berichten uns nach wie vor, dass sie von der Polizei respektlos behandelt und nicht ernst genommen werden. Sie werden häufig auch nicht über den Stand des Ermittlungsverfahrens informiert. So können sie nicht nachvollziehen, wie und ob die Polizei arbeitet. Was bleibt, ist dann die Angst vor wiederholten Angriffen. Opfer rassistisch motivierter Gewalt beklagen sich in der Beratung bei uns auch darüber, dass sie oft zuerst nach Ausweispapieren gefragt oder sogar wie Täter_ innen behandelt werden, obwohl ihre Verletzungen nicht zu übersehen sind. In Neukölln wird am 25. Januar 2012 ein Mann mit einem Kind bei der Überquerung der Straße von einem Autofahrer, der in der zweiten Reihe parkt, rassistisch beleidigt. Weil der Mann keinen Streit will, geht er einfach ohne Kommentar weiter. Dennoch wird er von dem Autofahrer mit einer Eisenstange in der Hand verfolgt, geschlagen und verletzt. Kin­der, die das beobachtet haben, benachrichtigen zivile Polizeibeamte, die in der Nähe sind. Ohne auch nur nachzufragen wird das Opfer von einem der Beamten brutal mit dem Kopf gegen eine Hauswand gedrückt, durchsucht und ihm werden weitere Schmerzen zuge­fügt. Andere Zeug_innen mischen sich ein und helfen dem Mann. In dem Gerichtsverfahren, das im Februar 2013 stattfand, wird der Angreifer verurteilt. Doch die Demütigungen und Schmerzen, die der junge Mann durch einen der Polizisten erleidet und über die er auch aussagt, werden von Seiten des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft nicht aufgegriffen. Weitere Fragen dazu gibt es nicht.

Am 3. März 2012 wird ein Mann im Bus der Linie 171 in Neukölln von einem anderen Fahrgast ras­sistisch beleidigt und auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen. Als die Polizei kommt, wird der Geschä­digte von einem der Polizisten auch hier wie ein Tä­ter behandelt, obwohl er sichtbare Verletzungen im Gesicht hat. Benennen wir solche Beispiele, wird den Betroffenen von Polizeibeamt_innen häufig unterstellt, sie hätten etwas falsch verstanden oder gar kein Verständnis für die Arbeit der Polizei, die am Tatort eine unübersicht­liche Situation vorfänden. Aber die Umkehr der Opfer zu Täter_innen oder zumindest die Unterstellung einer Mitschuld der Opfer ist kein neues Phänomen und beruht auf Racial Profiling, dessen Existenz nach wie vor, auch vom Berliner Innensenator vehement bestritten wird. Für die Opfer sind die Verdächtigungen demütigend. Die Tatsache, dass ihnen nicht geglaubt wird, kann zu schwerwiegenden Traumatisierungen und mangeln­dem Vertrauen in die Arbeit der Ermittlungsbehörden und Gerichten führen. im Endeffekt verhindert diese Praxis, dass die Taten konsequent angezeigt werden. Den Angreifer_innen wird – ob nun beabsichtigt oder nicht – auf perfide Weise signalisiert, dass die Opfer, die sie bedrohen, einschüchtern und verletzten wollen, auch von Vertreter_innen staatlicher Institutionen ras­sistisch behandelt werden können.

Die Westbezirke im Fokus

Inzwischen werden die meisten Angriffe (2012: 76 von 139) in den Westbezirken verübt. Das ist eine Tendenz, die wir schon 2011 (80 von 158) beobach­ten mussten. Dabei gehen wir davon aus, dass wir in den Westberliner Bezirken nur einen geringen Teil von dem, was tatsächlich geschieht, erfahren. Staatliche Förderprogramme und die Medien hatten über Jahrzehnte die ostdeutschen Bundesländer im Blick. Das gilt auch für die Ostberliner Bezirke. So sind dort neue Projekte entstanden, Initiativen und Bündnisse sind nach wie vor nicht nur im Bereich der Dokumentation und Recherche besser aufgestellt und seit Jahren gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert. Das führt dazu, dass dort häufig schneller und konsequenter auch auf Angriffe reagiert werden kann. Doch auch im Westen verstärken sich die Ak­tivitäten, Bündnisse haben die Arbeit aufgenommen oder verstärkt und die Engagierten sehen die dringen­de Notwendigkeit zu handeln.

In aller Öffentlichkeit

Die meisten Angriffe finden in aller Öffentlichkeit statt: 69 Gewalttaten wurden in 2012 (2011: 80) auf Straßen, Plätzen und an Haltestellen und 34 (2011: 40) in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen verübt. Das bedeutet, dass an all diesen Orten immer auch Unbeteiligte sind, die helfen oder doch zumindest Hilfe holen könnten. Das geschieht nur selten. Für die Betroffenen ist aber genau das ganz entscheidend für die Möglichkeiten, die Folgen des Angriffs verarbeiten zu können: Denn sie fühlen sich entweder allein, unerwünscht, nicht wert, dass sie unterstützt werden oder sie erfahren, dass es Menschen gibt , die mit dem, was rechte, rassistische Schläger_innen bezwecken wollen, nicht einverstan­den sind und das auch zum Ausdruck bringen. Die Anzahl der Angriffe im Wohnumfeld ist mit insge­samt 17 (2011: 13) im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen. Hierbei müssen wir immer wieder betonen, dass diese Form der Angriffe für die Betroffenen be­sonders bedrohlich ist, weil sie so ihrer Rückzugsmög­lichkeiten beraubt werden.

Was tun?

Grundsätzlich sollten die Ermittlungsbehörden jedem, wenn auch noch so vage geäußerten Anzeichen, dass es einen rassistischen Hintergrund geben könnte, nachgehen. Die Opfer wissen meistens sehr genau, warum sie angegriffen, gejagt und bedroht werden. Für sie ist der Grund, weswegen sie verletzt wurden, meistens so offensichtlich, dass sie das von sich aus gar nicht erwähnen, manchmal auch um die demüti­genden, rassistischen Äußerungen nicht wiederholen zu müssen. Häufig geschieht aber nicht einmal das. Grundsätzlich müssen sämtliche Ermittlungsfehler in dieser Hinsicht gründlich aufgearbeitet und die zu­ständigen Beamt_innen zur Verantwortung gezogen werden. Die Betroffenen sollten, unabhängig davon, ob sie anwaltlich vertreten werden oder nicht, über den Stand des Ermittlungsverfahrens informiert werden. Das gäbe ihnen mehr Handlungssicherheit und wür­de signalisieren, dass sie mit ihren Ängsten und Er­wartungen auch von den Ermittlungsbehörden ernst genommen werden. So würde sich die Bereitschaft, überhaupt Anzeige zu erstatten, erhöhen. Viel zu häufig wird nur dann von Rassismus als Tathin­tergrund gesprochen, wenn er sich individualisieren, gerne auch pathologisieren lässt – oder eben von organisierten Neonazis ausgeht. Schon deswegen darf die Einschätzung darüber, wie groß das Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Vorfälle ist, in keinem Fall der Definitionsmacht von Behörden und politisch Verantwortlichen überlassen werden. Deswegen brauchen wir in Berlin flächendeckend, auch in den Westberliner Bezirken, Registerstellen, die die Situation vor Ort beobachten, recherchieren und dokumentieren. Nur so wird es möglich, geeignete Handlungsstrate­gien zu entwickeln und umzusetzen: Mehr Projekte, die in der Lage sind, die Ermittlungsbehörden für die einschlägigen Tatmotive zu sensibilisieren. Projekte, deren Mitarbeiter_innen jederzeit bereit sind, unbe­queme Fragen zu stellen, zu kritisieren, zu skandalisieren und aktionsorientiert zu arbeiten – wenn es nötig ist.

Die Existenz von Racial Profiling ist keine Glaubens­frage, sondern eine Tatsache. Nur wenn das nicht länger vehement bestritten wird, können Maßnah­men dagegen entwickelt werden. Dass der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt, der bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik am 15.04. 2013 im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses behauptet, „Asiaten“ seien weniger gewaltbereit als „Osteuropäer“, ist gefährlich, weil er damit rassisti­schen Einstellungen und in der Folge auch Handlun­gen Vorschub leistet. Wir stimmen ausnahmsweise gerne der Bundes­kanzlerin zu, die in ihrer Rede bei der „Gedenkver­anstaltung für Opfer rechtsextremistischer Gewalt“ am 23. Februar 2012 sagte: „Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Ab­wertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichen­den Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.“ In diesem Sinne muss ein Denken in ein konstruier­tes „Wir“ und „die Anderen“ endlich aufhören. Das bedeutet, solche Äußerungen, wie die des Polizei­präsidenten und eben auch den institutionellen und strukturellen Rassismus konsequent zu benennen, zu kritisieren und zu bekämpfen. Überall, lautstark, phantasievoll, massiv!

ReachOut ist die „Berliner Beratungsstel­le für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt“. Unterstützung finden auch Angehörige der Opfer und die Zeug_innen eines Angriffs. Das Team bie­tet außerdem Workshops, Veranstaltun­gen und Fortbildungen an. Das Projekt recherchiert Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik und die Fotoausstellung „Berliner Tatorte“.

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