Nach unseren Erkenntnissen ist Rassismus in Berlin seit Jahren das häufigste Tatmotiv. In 68 Fällen (2011: 70) wurden deswegen Menschen bedroht und verletzt. Was geschieht da eigentlich? Ein 30-jähriger Mann will mit seinen beiden Kindern einen Fußgängerüberweg überqueren. Dabei wird er von einem unbekannten Autofahrer rassistisch beleidigt, gestoßen, mit der Faust gegen das Jochbein geschlagen und dabei verletzt. Zwei junge Frauen werden von einem 78-Jährigen rassistisch beleidigt, mit der Faust ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen. Ein 18-jähriger Angestellter eines Imbisses wird aus einer Gruppe von vier Männern heraus rassistisch beleidigt und von einem mit beiden Händen gegen die Brust gestoßen. Eine 34-jährige Frau wird in einem Supermarkt von einer unbekannten Frau aufgefordert, mit ihrem Sohn deutsch statt russisch zu sprechen und ins Gesicht geschlagen. Eine Frau wird in Begleitung ihrer beiden Söhne auf dem Bahnsteig von einer unbekannten Frau rassistisch beleidigt. Der sechsjährige Sohn wird von der Unbekannten mit Reizgas ins Gesicht gesprüht und verletzt.
Aus Sicht der Opfer passieren die Angriffe fast immer völlig unvermittelt, ohne jede Vorwarnung. Für sie ist von einem Augenblick zum nächsten nichts mehr so, wie es vorher war. Sie werden ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt, Lebensentwürfe sind zerstört, vor allem die psychischen Folgen sind einschneidend und prägen manchmal ein Leben lang. Die Opfer sind meistens männliche Erwachsene. Aber auch immer häufiger erfahren wir von Frauen und Kinder jeden Alters, die geschlagen, bespuckt, beleidigt und bedroht werden. Die Täter_innen gehören häufig nicht zur organisierten Neonaziszene, sondern es sind Personen, die den Betroffenen zufällig begegnen und bereit sind, ihre zutiefst rassistischen Einstellungen äußerst brutal zum Ausdruck zu bringen. Außerdem wurden im vergangenen Jahr 30 Angriffe (2011: 32) aus homo- bz w. transphoben Gründen verübt. Linke, vor allem Antifaschist_innen, wurden 15 Mal (2011: 32) angegriffen. Gegen alternative Jugendliche und Erwachsene richteten sich 12 Attacken, 6 Angriffe waren antisemitisch motiviert.
Die Angriffszahlen bewegen sich in Neukölln schon seit einigen Jahren auf hohem Niveau. Von den 22 waren 13 Gewalttaten rassistisch motiviert. Die seit November 2009 in Neukölln (u.a. auch in Kreuzberg, Treptow-Köpenick, Reinickendorf) verübten Anschläge, wie eingeschlagene Scheiben und Schmierereien auf alternative, linke Projekte und zerstörte Briefkästen, setzten sich auch 2012 fort. Das ganze Jahr über haben Neonazis vor allem im südlichen Neukölln massiv plakatiert, Parolen und Hakenkreuze geschmiert. Die NPD hat zudem versucht, Veranstaltungen durch Kundgebungen zu stören bzw. durch ihre Anwesenheit die Besucher_innen zu bedrohen und einzuschüchtern. Am 9. Oktober 2012 wird in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr ein privates Wohnhaus in der Hufeisensiedlung in Britz zum wiederholten Male angegriffen. nachdem die Fenster inzwischen vergittert sind, wurde die Scheibe an der Haustür eingeworfen. In dem Wohnhaus befinden sich zur Tatzeit Personen. Die Scheiben wurden schon einmal im November 2011 und im Juli 2012 eingeworfen, weil Bewohner_innen sich geweigert hatten, dass NPD-Wahlwerbung in ihren Briefkasten gesteckt wird. Im Juni 2012 wurde der Briefkasten gesprengt. Die Bewohner_innen entscheiden sich für einen offensiven Umgang mit den massiven Bedrohungen und gehen an die Öffentlichkeit. Mittlerweile haben sich die „Anwohnerinitiative Hufeisern gegen Rechts“ und das „Aktionsbündnis Britz“ gegründet.
Von Opfern und Täter_innen
Die Skandale um die Aufdeckung der vom NSU begangenen Morde hätten zumindest einen sensibleren Umgang der Ermittlungsbehörden mit den Opfern rassistischer Gewalt zur Folge haben müssen. Weit gefehlt. Betroffene berichten uns nach wie vor, dass sie von der Polizei respektlos behandelt und nicht ernst genommen werden. Sie werden häufig auch nicht über den Stand des Ermittlungsverfahrens informiert. So können sie nicht nachvollziehen, wie und ob die Polizei arbeitet. Was bleibt, ist dann die Angst vor wiederholten Angriffen. Opfer rassistisch motivierter Gewalt beklagen sich in der Beratung bei uns auch darüber, dass sie oft zuerst nach Ausweispapieren gefragt oder sogar wie Täter_ innen behandelt werden, obwohl ihre Verletzungen nicht zu übersehen sind. In Neukölln wird am 25. Januar 2012 ein Mann mit einem Kind bei der Überquerung der Straße von einem Autofahrer, der in der zweiten Reihe parkt, rassistisch beleidigt. Weil der Mann keinen Streit will, geht er einfach ohne Kommentar weiter. Dennoch wird er von dem Autofahrer mit einer Eisenstange in der Hand verfolgt, geschlagen und verletzt. Kinder, die das beobachtet haben, benachrichtigen zivile Polizeibeamte, die in der Nähe sind. Ohne auch nur nachzufragen wird das Opfer von einem der Beamten brutal mit dem Kopf gegen eine Hauswand gedrückt, durchsucht und ihm werden weitere Schmerzen zugefügt. Andere Zeug_innen mischen sich ein und helfen dem Mann. In dem Gerichtsverfahren, das im Februar 2013 stattfand, wird der Angreifer verurteilt. Doch die Demütigungen und Schmerzen, die der junge Mann durch einen der Polizisten erleidet und über die er auch aussagt, werden von Seiten des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft nicht aufgegriffen. Weitere Fragen dazu gibt es nicht.
Am 3. März 2012 wird ein Mann im Bus der Linie 171 in Neukölln von einem anderen Fahrgast rassistisch beleidigt und auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen. Als die Polizei kommt, wird der Geschädigte von einem der Polizisten auch hier wie ein Täter behandelt, obwohl er sichtbare Verletzungen im Gesicht hat. Benennen wir solche Beispiele, wird den Betroffenen von Polizeibeamt_innen häufig unterstellt, sie hätten etwas falsch verstanden oder gar kein Verständnis für die Arbeit der Polizei, die am Tatort eine unübersichtliche Situation vorfänden. Aber die Umkehr der Opfer zu Täter_innen oder zumindest die Unterstellung einer Mitschuld der Opfer ist kein neues Phänomen und beruht auf Racial Profiling, dessen Existenz nach wie vor, auch vom Berliner Innensenator vehement bestritten wird. Für die Opfer sind die Verdächtigungen demütigend. Die Tatsache, dass ihnen nicht geglaubt wird, kann zu schwerwiegenden Traumatisierungen und mangelndem Vertrauen in die Arbeit der Ermittlungsbehörden und Gerichten führen. im Endeffekt verhindert diese Praxis, dass die Taten konsequent angezeigt werden. Den Angreifer_innen wird – ob nun beabsichtigt oder nicht – auf perfide Weise signalisiert, dass die Opfer, die sie bedrohen, einschüchtern und verletzten wollen, auch von Vertreter_innen staatlicher Institutionen rassistisch behandelt werden können.
Die Westbezirke im Fokus
Inzwischen werden die meisten Angriffe (2012: 76 von 139) in den Westbezirken verübt. Das ist eine Tendenz, die wir schon 2011 (80 von 158) beobachten mussten. Dabei gehen wir davon aus, dass wir in den Westberliner Bezirken nur einen geringen Teil von dem, was tatsächlich geschieht, erfahren. Staatliche Förderprogramme und die Medien hatten über Jahrzehnte die ostdeutschen Bundesländer im Blick. Das gilt auch für die Ostberliner Bezirke. So sind dort neue Projekte entstanden, Initiativen und Bündnisse sind nach wie vor nicht nur im Bereich der Dokumentation und Recherche besser aufgestellt und seit Jahren gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagiert. Das führt dazu, dass dort häufig schneller und konsequenter auch auf Angriffe reagiert werden kann. Doch auch im Westen verstärken sich die Aktivitäten, Bündnisse haben die Arbeit aufgenommen oder verstärkt und die Engagierten sehen die dringende Notwendigkeit zu handeln.
In aller Öffentlichkeit
Die meisten Angriffe finden in aller Öffentlichkeit statt: 69 Gewalttaten wurden in 2012 (2011: 80) auf Straßen, Plätzen und an Haltestellen und 34 (2011: 40) in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen verübt. Das bedeutet, dass an all diesen Orten immer auch Unbeteiligte sind, die helfen oder doch zumindest Hilfe holen könnten. Das geschieht nur selten. Für die Betroffenen ist aber genau das ganz entscheidend für die Möglichkeiten, die Folgen des Angriffs verarbeiten zu können: Denn sie fühlen sich entweder allein, unerwünscht, nicht wert, dass sie unterstützt werden oder sie erfahren, dass es Menschen gibt , die mit dem, was rechte, rassistische Schläger_innen bezwecken wollen, nicht einverstanden sind und das auch zum Ausdruck bringen. Die Anzahl der Angriffe im Wohnumfeld ist mit insgesamt 17 (2011: 13) im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen. Hierbei müssen wir immer wieder betonen, dass diese Form der Angriffe für die Betroffenen besonders bedrohlich ist, weil sie so ihrer Rückzugsmöglichkeiten beraubt werden.
Was tun?
Grundsätzlich sollten die Ermittlungsbehörden jedem, wenn auch noch so vage geäußerten Anzeichen, dass es einen rassistischen Hintergrund geben könnte, nachgehen. Die Opfer wissen meistens sehr genau, warum sie angegriffen, gejagt und bedroht werden. Für sie ist der Grund, weswegen sie verletzt wurden, meistens so offensichtlich, dass sie das von sich aus gar nicht erwähnen, manchmal auch um die demütigenden, rassistischen Äußerungen nicht wiederholen zu müssen. Häufig geschieht aber nicht einmal das. Grundsätzlich müssen sämtliche Ermittlungsfehler in dieser Hinsicht gründlich aufgearbeitet und die zuständigen Beamt_innen zur Verantwortung gezogen werden. Die Betroffenen sollten, unabhängig davon, ob sie anwaltlich vertreten werden oder nicht, über den Stand des Ermittlungsverfahrens informiert werden. Das gäbe ihnen mehr Handlungssicherheit und würde signalisieren, dass sie mit ihren Ängsten und Erwartungen auch von den Ermittlungsbehörden ernst genommen werden. So würde sich die Bereitschaft, überhaupt Anzeige zu erstatten, erhöhen. Viel zu häufig wird nur dann von Rassismus als Tathintergrund gesprochen, wenn er sich individualisieren, gerne auch pathologisieren lässt – oder eben von organisierten Neonazis ausgeht. Schon deswegen darf die Einschätzung darüber, wie groß das Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Vorfälle ist, in keinem Fall der Definitionsmacht von Behörden und politisch Verantwortlichen überlassen werden. Deswegen brauchen wir in Berlin flächendeckend, auch in den Westberliner Bezirken, Registerstellen, die die Situation vor Ort beobachten, recherchieren und dokumentieren. Nur so wird es möglich, geeignete Handlungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen: Mehr Projekte, die in der Lage sind, die Ermittlungsbehörden für die einschlägigen Tatmotive zu sensibilisieren. Projekte, deren Mitarbeiter_innen jederzeit bereit sind, unbequeme Fragen zu stellen, zu kritisieren, zu skandalisieren und aktionsorientiert zu arbeiten – wenn es nötig ist.
Die Existenz von Racial Profiling ist keine Glaubensfrage, sondern eine Tatsache. Nur wenn das nicht länger vehement bestritten wird, können Maßnahmen dagegen entwickelt werden. Dass der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt, der bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik am 15.04. 2013 im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses behauptet, „Asiaten“ seien weniger gewaltbereit als „Osteuropäer“, ist gefährlich, weil er damit rassistischen Einstellungen und in der Folge auch Handlungen Vorschub leistet. Wir stimmen ausnahmsweise gerne der Bundeskanzlerin zu, die in ihrer Rede bei der „Gedenkveranstaltung für Opfer rechtsextremistischer Gewalt“ am 23. Februar 2012 sagte: „Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.“ In diesem Sinne muss ein Denken in ein konstruiertes „Wir“ und „die Anderen“ endlich aufhören. Das bedeutet, solche Äußerungen, wie die des Polizeipräsidenten und eben auch den institutionellen und strukturellen Rassismus konsequent zu benennen, zu kritisieren und zu bekämpfen. Überall, lautstark, phantasievoll, massiv!
ReachOut ist die „Berliner Beratungsstelle für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt“. Unterstützung finden auch Angehörige der Opfer und die Zeug_innen eines Angriffs. Das Team bietet außerdem Workshops, Veranstaltungen und Fortbildungen an. Das Projekt recherchiert Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik und die Fotoausstellung „Berliner Tatorte“.