Mit 70 Angriffen ist Rassismus das mit Abstand häufigste Tatmotiv (2010: 57). Jeweils 32 Angriffe richteten sich gegen Linke (2010: 20) beziehungsweise Homosexuelle (2010: 10). Neun Angriffe richteten sich gegen nicht-rechte, alternative Jugendliche und Erwachsene (2010: 10), fünf Angriffen lag Antisemitismus als Motiv zugrunde (2010: 8).
Während rassistisch motivierte Angriffe häufig von Täter_innen ausgeübt werden, die äußerst brutal ihrem Alltagsrassismus Ausdruck verleihen und nicht der Nazi-Szene angehören, sind die Angriffe gegen Linke in den meisten Fällen der organisierten Neonaziszene zuzurechnen.
Der Großteil der Angriffe fand im öffentlichen Raum (2011: 80, 2010: 58) und in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen (2011: 40, 2010: 27) statt. Verhältnismäßig stark gestiegen ist die Zahl der Angriffe am Arbeitsplatz (2011: 9, 2010: 1); während im unmittelbaren Wohnumfeld 13 Gewalttaten verübt wurden (2010: 14). Dennoch fordern die Angriffe im unmittelbaren Wohnumfeld besondere Aufmerksamkeit, da diese für die Betroffenen schwerwiegende Auswirkungen haben können, weil ihnen dadurch jede Rückzugsmöglichkeit genommen wird (vgl. »Berliner Zustände 2010«).
Die regionale Verteilung in Berlin
80 der 158 Angriffe fanden in Westberlin statt. Damit ist die Zahl der registrierten Gewalttaten in den Westbezirken erstmals seit Gründung der Opferberatungsstelle ReachOut vor mehr als zehn Jahren höher als in den Ostberliner Bezirken, wobei davon ausgegangen werden muss, dass die Dunkelziffer wesentlich höher liegt.
Angriffsschwerpunkte in den Westberliner Bezirken liegen in Kreuzberg (17), Neukölln (15) und im Wedding (13). Während in Neukölln und im Wedding die meisten Angriffe rassistisch motiviert waren (Neukölln: 8, Wedding: 11), wurden in Kreuzberg die meisten Gewalttaten aus homophoben Gründen (7) verübt. Weitere Angriffe erfolgten in Kreuzberg vor allem aus rassistischen Motiven (4) oder zielten auf politische Gegner_innen (3). In den Ostbezirken registrierten wir die meisten Angriffe in Lichtenberg (16), Friedrichshain (15), Mitte (12) und Prenzlauer Berg (10). In Lichtenberg richteten sich die meisten Gewalttaten gegen politische Gegner_innen oder hatten rassistische Gründe (jeweils 7).
Betont werden muss noch einmal, dass erstmalig mehr Angriffe aus dem Westen der Stadt bekannt wurden. Dieser Fakt ist besonders brisant, da es hier weniger Kooperationspartner_innen gibt, die rechte, rassistische, antisemitische, homo- und transphobe Aktivitäten kontinuierlich recherchieren und dokumentieren. Deswegen muss davon ausgegangen werden, dass lediglich ein Bruchteil der tatsächlichen Gewalttaten bekannt wird und die Dunkelziffer in den Westbezirken erheblich höher liegt. Wir vermuten auch, dass die bestehenden Angebote im Westen noch immer weniger bekannt sind als im Ostteil der Stadt.
Generell fehlt es den Ermittlungsbehörden, insbesondere der Polizei, noch immer an Einsicht und Willen, die zugrunde liegenden ideologischen Beweggründe der Täter_innen im Zusammenhang mit Straftaten zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Deswegen ist eine beständige, kritische und wenn nötig skandalisierende Öffentlichkeitsarbeit nötig. Die Einrichtung von Registerstellen nach dem Vorbild der Ostbezirke ist dringend geboten. Gut ausgestattete Registerstellen haben durch die lokale Verankerung präzisere Kenntnisse über problematische Entwicklungen in den Stadtteilen. Sie dokumentieren auch Propagandadelikte, verfügen über ein Netz von Anlaufstellen und kooperieren mit lokalen Projekten. In Zusammenarbeit mit den überregionalen Beratungsprojekten ist es so möglich Tendenzen frühzeitig aufzuzeigen und öffentlich zu diskutieren.
Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Diskursen
Inwiefern eine Zunahme der Gewalttaten mit den Debatten um »Deutschland schafft sich ab«, einer insgesamt antimuslimischen Stimmung, den aggressiv rassistischen Wahlkampfkampagnen von NPD und den rechtspopulistischen Parteien und der »Ausländer Raus«-Kampagne der »Autonomen Nationalisten« in einen mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden können, ist nicht eindeutig nachzuweisen. Sicher kann davon ausgegangen werden, dass politische und gesellschaftliche Diskurse dazu beitragen, dass sich die Täter_innen in ihrem Handeln ermutigt und bestätigt fühlen. Ein Fallbeispiel soll dies veranschaulichen:
»Ihr Ausländer macht auch immer Probleme«
Aysan E. war in einem Supermarkt, um dort einzukaufen. Nachdem sie die Waren bezahlt hatte, wurde sie von einem Hausdetektiv am Arm ergriffen und aufgefordert, ihm in ein Hinterzimmer zu folgen. Obwohl bei der anschließenden Durchsuchung keinerlei Diebesgut gefunden wurde, bestand der Detektiv darauf, Frau E. habe Produkte in die Tasche gesteckt, die sie nicht bezahlen wolle. Eine hinzugezogene Kollegin des Detektivs behauptete ebenfalls gesehen zu haben, dass sich die Beschuldigte auffällig umgesehen habe und Produkte in ihre Tasche gleiten ließ. Einen Beweis für diese Beschuldigungen konnte zu keinem Zeitpunkt gebracht werden. Im Verlauf des Gesprächs beleidigte der Detektiv Aysan E. unter anderem mit den Worten: »Ihr Ausländer macht auch immer Probleme«. Nahezu zwei Stunden vergingen bis die alarmierte Polizei im Supermarkt eintraf. Bis dahin sah sich Frau E. diversen Schikanen ausgesetzt. Als sie beispielsweise einen unmittelbar bevorstehenden Arzttermin telefonisch absagen wollte, drohte der Detektiv, ihr das Handy gewaltsam zu entwenden und ihr Handschellen anzulegen. Weiterhin wurde ihr verboten, den Raum zu jedwedem Zweck zu verlassen. Als schließlich die Polizei eintraf und auch diese keinerlei Diebesgut fand, konnte Frau E. endlich den Supermarkt verlassen. Trotz allem wurde gegen Aysan E. ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Ladendiebstahls eingeleitet, auf der Grundlage eines angeblich »sichernden Umschauens«. Aysan E. hat ihrerseits Anzeige wegen Nötigung und Freiheitsberaubung erstattet.
Dieses Beispiel beschreibt die anmaßende Art und Weise, in der Menschen Rassismus im Rahmen ihrer Berufstätigkeit Ausdruck verleihen können. Obwohl alle Fakten dagegen sprechen, Aysan E. zu verdächtigen, fühlen sich die Detektiv_innen im Recht – allein aufgrund der Tatsache, dass »Ausländer« doch »immer Probleme« machen. Sie sind sich sicher, dass selbst weitreichende Vergehen wie Freiheitsberaubung keine strafrechtlichen Folgen für sie haben werden. Ein solches Verhalten lässt sich allein in einem gesellschaftlichen Umfeld denken, das Menschen aufgrund der ihnen unterstellten Herkunft systematisch stigmatisiert und herab würdigt. Sowohl die Angriffszahlen als auch Fälle wie dieser lassen erahnen, wie sehr ein rassistisches Klima den Alltag vieler Menschen bestimmt und welche Folgen diese physische und psychische Gewalt beinhalten kann.
ReachOut ist eine Beratungsstelle für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter
Gewalt. Außerdem berät ReachOut Angehörige von Opfern oder Zeug_innen eines Angriffs. Das Projekt recherchiert Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik. Daneben bietet ReachOut antirassistische Bildung an.