Die Überlebenden des Angriffs beschreiben ihn als einen 40 bis 60-jährigen Weißen. Er sei ca. 1,80 Meter groß und mit einem Kapuzenpullover bekleidet gewesen. Nach der Tat flüchtete er zu Fuß. Der an eine Hinrichtung erinnernde Mord auf offener Straße wird von Angehörigen, Freund_innen und Bekannten als große Bedrohung empfunden. Denn der Täter läuft immer noch frei herum und kann mit Waffen umgehen. Niemand weiß, was er als nächstes tut. Unabhängig davon, ob Buraks Mörder ein organisierter Neonazi war, ein Alltagsrassist oder jener „verrückte Einzeltäter“, der die Polizei in „alle Richtungen“ ermitteln lässt, schafft der Mordanschlag auf Burak und seine Freunde eine breite Verunsicherung auf den Straßen Neuköllns, vor allem unter Jugendlichen. Viele fragen sich, wie die Polizei reagieren würde, wenn es sich bei den Angegriffenen nicht um Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund gehandelt hätte.
Rassismus wieder das Motiv?
Da Opfer und Täter keinerlei Verbindung zueinander hatten und auch Burak und seine Freunde ins Feindbild rassistischer Täter passen, ist die Sorge groß, dass Rassismus auch hier das Tatmotiv gewesen sein könnte. Durch einen Zufall waren wenige Monate zuvor neun rassistische Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekannt geworden. Könnten diese als Vorbild für den Mord an Burak und die Mordversuche an Alex und Jamal gedient haben – oder ist es gar eine Fortsetzung? Wie auch hier in Neukölln schossen die NSU-Täter gezielt auf ihnen unbekannte Menschen – deren Dasein dem neonazistischen Konzept einer homogenen weißen Volksgemeinschaft widerspricht. Bei den Morden an Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kılıç Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasık, Halit Yozgat sind die Haupttäter und ihre rassistischen Motive heute bekannt. Doch die Aufklärung dieser Morde kann die Polizei mitnichten als eigenen Fahndungserfolg verbuchen: Nur durch Zufall wurde die Tatwaffe der Mordserie bei den Leichen der Naziterroristen Böhnhardt und Mundlos gefunden. Zuvor hatten sich die von rassistischen Vorannahmen geprägten polizeilichen Ermittlungen ausschließlich gegen die Ermordeten und ihre Angehörigen gerichtet, denen u.a. unterstellt wurde, in Drogengeschäfte verwickelt gewesen zu sein. Auch wenn Angehörige immer wieder darauf hingewiesen hatten, dass sie sich kein anderes Motiv als Rassismus für den Mord an ihren Angehörigen vorstellen können, wurde die Möglichkeit einer neonazistischen
Täterschaft nie ernsthaft in Betracht gezogen. Im „Fall Burak“ hielten sich Verdächtigungen gegen Burak selbst und sein Umfeld in Grenzen, schnell verkündete die Polizei, dass es „weder im Lebensumfeld der Beteiligten noch in der Nacht selbst […] irgendwelche Konflikte gegeben [hat], welche die Tat erklären.“[1] Ein rassistisches Tatmotiv wird explizit nicht ausgeschlossen, auch wenn es immer wieder heißt, dass „in alle Richtungen“ ermittelt werde.
Bezüge zu neonazistischen Kadern in Berlin
Zu einer neonazistischen Täterschaft würde auch das Datum des Mordes an Burak passen: Es ist bekannt, dass sich Nazi-Angriffe gerade an Daten häufen, die einen identitären Bezug zum Nationalsozialismus oder der Bewegungsgeschichte der extremen Rechten haben, wie etwa dem Jahrestag des antisemitischen Novemberpogroms. An solch einem Datum geschah auch der Mord an Burak: Am 04. April 1992 kam Gerhard Kaindl, Funktionär der neonazistischen „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ bei einer Auseinandersetzung mit Antifaschist_innen in Neukölln ums Leben. Kaindl wird in neonazistischen Kreisen als Märtyrer gefeiert. Der 20-jährige Todestag wird in verschiedenen rechten Publikationen thematisiert.[2] In einem Internetforum wurde dazu aufgerufen, Kaindl zu rächen.
Eine Gruppierung, die in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist, ist die „Neue Ordnung“. Im März 2012 wurde der ehemalige Söldner Jörg Lange, ein rechtsextremer Kader der „Neuen Ordnung“ tot aufgefunden. Bei ihm fanden die Ermittler_innen Munition, die keiner der beschlagnahmten Waffen zugeordnet werden konnte. Wegen „Bildung einer bewaffneten Gruppe“ wird nun gegen Neonazis aus deren Umfeld ermittelt. Einer der Beschuldigten ist der Berliner Jan G. Dieser ist, wie auch der verstorbene Lange, ehemaliger Aktivist der „nationalistischen Front“, die die Bildung terroristischer „nationaler Einsatzkommandos“ propagierte. Ob die Polizei einen Zusammenhang zum Mord an Burak in Betracht zieht, wissen wir nicht.
Allerdings wissen wir, dass am Abend des Mordes an Burak bekannte Neonazis in Südneukölln unterwegs waren. Am 4. April fand in Gropiusstadt eine antifischistische Diskussionsveranstaltung statt. Teilnehmende berichteten, dass bekannte Neonazis in der Nähe des Veranstaltungsortes gesehen wurden. Neukölln ist der Berliner Stadtteil mit den meisten neonazistischen Gewalttaten. Gerade im Süden des Bezirks kommt es immer wieder zu Angriffen. Traurige Beispiele sind die Brandanschläge auf die Wohnhäuser migrantischer Familien und das Anton-Schmaus-Haus der Falken in Rudow sowie die wiederholten Attacken gegen eine Familie in der Hufeisensiedlung, die es abgelehnt hatte, Propagandamaterial der NPD anzunehmen.[3]
Anlässlich eines Beitrags zum Mord an Burak in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ im Februar 2013 feierte eine neuköllner Neonazistin, die bis vor Kurzem in unmittelbarer nähe des Tatorts wohnte, in einem sozialen Netzwerk den Mord und verhöhnte das Opfer. Kurz nach dem Mord wurde dieser auch seitens der antimuslimisch-rassistischen Bloggerszene verächtlich und hasserfüllt kommentiert. Der Ermordete, seine Angehörigen und die Trauergemeinde wurden in einer infamen Verkehrung von Täter-Opfer-Rollen zu einer Bedrohung erklärt. Der Hetzblog P.I. News mit angeblich täglich bis zu 97.000 Klicks ergoss sich erwartungsgemäß in rassistischen Phantasien, schwadroniert von „Lynchjustiz“ gegen Buraks Mörder und einer allgemeinen Bedrohung durch gewalttätige „moslemische Araber und Libanesen“. Derartige Hetze wird regelmäßig gewaltsam in die Tat umgesetzt. So wurde die Neuköllner Sehitlik Moschee wiederholt Ziel von Brandanschlägen.
Was tut die Polizei?
In einem Zeit-Artikel über den „Fall Burak“ äußert ein Kripobeamter »Die Vorgänge rund um die NSU haben uns hier sensibilisiert«. Man ziehe ein rechtsextremes Motiv in Betracht, obwohl es dafür „keinerlei Anhaltspunkte“ gäbe.[4] Was damit gemeint ist, bleibt jedoch unklar. Die NSU-Mordserie hat wiederholt gezeigt, dass es eine Form rassistischen Terrors in Deutschland gibt, der keine Anhaltspunkte in Form von Bekennerschreiben oder Ähnlichem benötigt. Ob und was die Polizei bislang getan hat, um oben genannte Zusammenhänge zu überprüfen, wissen wir nicht. Fest steht jedenfalls, dass die Überlebenden des Anschlags, die somit direkte Zeugen der Tat waren, nur ein einziges Mal befragt wurden. Dies geschah direkt nach dem Mord, als die Jugendlichen noch unter Schock standen. Nie wurden ihnen Fotos vorgelegt: Weder von in der Gegend aktiven Neonazis noch von untergetauchten Neonazis oder sonstigen Personen, die in der Nazi-Terror-Datei erfasst sind, welche nach dem Bekanntwerden des NSU angelegt wurde. Die Mordkommission teilte mit, dass der Staatsschutz die „durch rechtsextreme Taten aufgefallenen Männer aus der Region überprüft“ habe. Allerdings ohne Ergebnis. Was das genau bedeuten soll und ob eine polizeiliche Befragung von Neonazis stattgefunden hat, wissen wir nicht. Zudem scheint nicht bundesweit ermittelt zu werden, was eigentlich eine Konsequenz aus den NSU–Morden sein müsste. Die Ratlosigkeit der ermittelnden Behörden zeigt sich in dem Versuch, durch die TV-Sendung „Aktenzeichen XY“ nach möglichen Zeug_innen zu suchen. Zu einer heißen Spur hat das aber scheinbar nicht geführt.
Was hat eine weiß-deutsche antifaschistische Linke durch die NSU-Morde nicht gelernt?
Wenige Monate vor dem Mordanschlag auf Burak und seine Freunde wurden mehrheitlich weiß-deutsche antifaschistische Gruppen und Initiativen von der zufälligen Aufklärung neun rassistischer NSU-Morde kalt erwischt. Vor der Enttarnung des NSU hatten auch antifaschistische Gruppen keine Verbindung zwischen den untergetauchten Nazis aus Zwickau und den zehn Morden gezogen. Dagegen haben Betroffene und Freund_innen mehrmals auf die Möglichkeit eines rassistischen Mordmotivs hingewiesen. Schon 2006 äußerten sie dies auf einer Demonstration im Juni 2006 in Kassel unter dem Motto „Kein zehntes Opfer!“. Aber die Hinterbliebenen erfuhren keine Unterstützung und Solidarität. Ähnliches geschah auch nach dem Mord an Burak. Wenige Wochen nach der Tat organisierte das Umfeld von Burak, Jamal und Alex eine Demonstration gegen Intoleranz und Gewalt, die auch in den Medien Erwähnung fand. Sie blieb jedoch sehr klein: Es kamen vor allem Angehörige und Freund_innen. Nur wenige Menschen ohne Migrationshintergrund ließen sich blicken, aus antirassistischen und antifaschistischen Zusammenhängen gab es keine nennenswerten Reaktionen. Auch auf Buraks Beerdigung war das der Fall: Daran nahmen 2000 Menschen teil, was die große Betroffenheit in migrantischen Communities verdeutlicht.
Dieses Versagen antifaschistischer Politik kann als Ergebnis einer tiefen rassistischen Spaltung der deutschen Linken betrachtet werden. Antifa-Gruppen in Deutschland sind oftmals genauso weiß wie ein Brandenburger Fußballverein und versuchen sich lieber in zivilgesellschaftlichen Bündnissen als seriöse Akteur_innen in der politischen Landschaft zu etablieren, als Bündnisse mit Betroffenen zu schließen und antifaschistischen Selbstschutz zu organisieren. Muss nicht die Bedrohung durch den NSU Ausgangspunkt eines politischen Umdenkens sein? Noch ist nicht in Ansätzen geklärt, wie das über 100 Leute umfassende Unterstützer_innennetzwerk agierte. Noch ist nicht geklärt, warum so viele Fehler in staatlichen Behörden, Geheimdiensten und Polizei passierten, die die Mordserie des NSU erst möglich machten. noch ist unklar, ob es weitere Zellen des NSU gibt, welche Bedrohung die über 200 als untergetaucht bekannten Neonazis darstellen oder welche Auswirkungen der mit den Taten des NSU einhergehende Propagandaeffekt auf Nachahmer_innen hat.
Gründung der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak B.
Das Bewusstsein um die fortführbare Liste von Gewalt durch Neonazis, die vor Mord nicht zurückschrecken und die Existenz des NSU, schafft ein Szenario in dem der Mordanschlag auf Burak und seine Freunde als Bedrohung für alle zu begreifen ist, die nicht in das rassistische Weltbild der Neonazis passen. Sei es wegen der Hautfarbe, der Sprache, der Sexualität, der Freund_innen, der politischen Einstellung oder was auch immer. im derzeitigen gesellschaftlichen Klima in Deutschland zeigt sich mit bestürzender Regelmäßigkeit, dass die NSU-Morde nur eine Professionalisierung des rassistischen Mordens darstellen. Wir fragen uns, welche Lehren die ermittelnden Behörden und staatlichen Organe aus ihrem Versagen im Rahmen der Ermittlungen gegen den NSU gezogen haben. Müssten nicht die Ermittlungen in diese Richtung oberste Priorität besitzen, bis ein Mordanschlag aus diesem Spektrum ausgeschlossen werden kann?
Wer hat Burak ermordet? Dies ist die Frage, die uns alle zusammenführt. Diese Frage ist bewusst offen gehalten, denn wir wissen, dass wir keine Beweise haben. Bevor die Familie und Freunde von Burak zu uns gestoßen sind und damit Teil der Initiative wurden, kannte von uns niemand Burak persönlich. Unser Antrieb war zunächst weniger der persönliche Verlust, sondern vielmehr das, was die Jugendlichen, die den Mordanschlag überlebt haben, in einem Fernsehinterview sagten: „Wenn ich mit anderen Freunden draußen bin, schießt mir immer so ein Bild durch den Kopf, dass es auch uns erwischt oder andere.“[5]
Die „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak B.“ gründete sich im Spätsommer 2012. Ziel ist es, Öffentlichkeit für den Mord an Burak herzustellen und auf Rassismus als mögliches Tatmotiv hinzuweisen. Zum Jahrestag des Mordes hat die Initiative eine Demonstration durch Neukölln organisiert, die auf ein sehr großes Medienecho stieß und an der mehr als 500 Menschen teilnahmen. Weitere Informationen zur Initiative gibt es unter www.burak.blogsport.de.
- ↑ Gaserow, Vera: „Die letzte Nacht des Burak B.“, Die Zeit vom 12.07.2012, online unter http://www.zeit.de
- ↑ Pantel, Klaus: Es war ja nur ein „Rechter“. Politische Justiz – Der Mord an Gerhard Kaindl jährt sich heuer zum 20. Mal und ist bis heute ungesühnt; in: Deutsche Stimme, nr. 04/12, April 2012, S.23-24 und Radtke, Bernhard: Ungesühnter Mord. Vor 20 Jahren wurde der Patriot Gerhard Kaindl von einem Antifa-Todeskommando hinterrücks erstochen; in: Zuerst!, Mai 2012, S. 28-30.
- ↑ Siehe Chronik von ReachOut 2012
- ↑ Siehe FN 1.
- ↑ „Er hat direkt in die Gruppe geschossen“, RBB-Fernsehinterview vom 03.04.,2012, online unter http://www.rbb-online.de