Als Turgay Ulu vor zwei Jahren nach einer abenteuerlichen Flucht aus Istanbul Deutschland erreichte, versprach er sich als politisch Verfolgter Schutz und ein würdiges Leben. Aber der 39-Jährige landete in Sammelunterkünften, in denen Flüchtlinge isoliert sind und perspektivlos vegetieren. Weil er dies nicht mehr aushielt, verließ er im September 2012 sein Heim in Hannover und schloss sich in Würzburg dem Flüchtlingsmarsch an, der 600 Kilometer zu Fuß nach Berlin lief.
In der Türkei verbrachte Turgay Ulu 15 Jahre im Gefängnis. angeblich soll er als marxistisch orientierter Student an dem Fluchtversuch eines mutmaßlichen Mitglieds einer militanten Gruppe beteiligt gewesen sein. Dafür erhielt er die Todesstrafe, später wurde das Strafmaß in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Nachdem Amnesty International sich für ihn einsetzte, weil das Verfahren gegen ihn von Fehlern und Rechtsbrüchen begleitet war, wurde die Haft unterbrochen. Er nutzte die Gelegenheit und setzte sich 2011 nach Griechenland ab. Auch dort landete er wieder im Gefängnis. Nach einem Hungerstreik mit mehreren anderen Häftlingen kam er jedoch nach drei Monaten Haft frei und flüchtete nach Deutschland.
Ungeachtet eines Reiseverbotes habt Ihr im September 2012 den Flüchtlingsmarsch gestartet. Warum seid ihr losgegangen?
Wir begannen in Würzburg mit dem Marsch, weil dort der Iraner Mohammad Rahsepar in einem Flüchtlingslager im Januar 2012 Selbstmord begangen hatte. Er hielt die isolierte Situation in dem Heim und seinen unsicheren Aufenthaltsstatus als Flüchtling nicht mehr aus. Mit seinem Selbstmord wollte er gegen die Zustände in Deutschland demonstrieren. Freunde trugen seinen Protest weiter und errichteten in der Würzburger Innenstadt ein Camp. Auch in anderen Städten gab es immer wieder Demonstrationen. Bis wir uns dazu entschlossen, gemeinsam nach Berlin aufzubrechen, um unseren Widerstand zu zentralisieren.
Für Euch war der Marsch nicht ganz ungefährlich. Schließlich gilt für Flüchtlinge in Deutschland die Residenzpflicht, die Eure Bewegungsfreiheit einschränkt.
Ja, wir setzten uns ganz bewusst darüber hinweg. Zu Beginn unseres Marsches waren wir manchmal nur 15 Leute, und einige von uns waren verunsichert, weil nicht klar war, ob sie uns laufen lassen würden. Aber niemand hielt uns auf. Mit der Zeit sind wir mutiger geworden. Auf unserem langen Weg durch Deutschland besuchten wir viele Lager, und weil die Medien über uns berichteten, konnten wir unmögliche Zustände an die Öffentlichkeit bringen. Jetzt im Rückblick erscheint mir der Marsch zwar sehr beschwerlich, aber es war auch romantisch.
Warum das?
Nun, die Natur war großartig. Es gab überall Bäume, auch viele Obstbäume, die Vögel sangen. ich war ja 15 Jahre in der Türkei im Gefängnis. Da hatte ich es vermisst, einen so langen Marsch zu machen. Wir schliefen draußen, abends schlugen wir Zelte auf, machten ein Lagerfeuer und kochten essen. Natürlich war es auch sehr anstrengend. Ich hatte viele Blasen an den Füßen. Einmal musste sogar ein Arzt kommen, um meine Wunden zu behandeln. aber dann ging es weiter. 600 Kilometer liefen wir, ohne einmal in ein Fahrzeug zu steigen. Für mich war es eine Reise in die Freiheit. Mein Kopf, der war frei. Nur hatten wir leider auch mit Nazis zu tun. In Erfurt, Leipzig und Potsdam demonstrierte die NPD gegen uns.
Was ist dort passiert?
Es waren immer nur wenige Nazis, die provozierten. Sie konnten nichts ausrichten, weil wir von einer Mehrheit unterstützt wurden. In Erfurt liefen 700 Menschen mit uns, in Leipzig 1000. Bei der ersten Demonstration nach unserer Ankunft in Berlin kamen sogar 8000 Menschen. Hier machte die Partei Pro Deutschland auch eine Aktion gegen uns am Brandenburger Tor.
Hattet Ihr Angst vor übergriffen?
Nein. Überhaupt nicht. Wir erfuhren viel Unterstützung von antifaschistischen und antirassistischen Gruppen. Immer wenn wir bedroht waren, wie in Potsdam, als vielleicht 20 Nazis uns aufhalten wollten, gab es Initiativen, die uns beschützt hatten.
Warum seid ihr nach Berlin gelaufen?
Berlin ist die Hauptstadt. Und wir richten uns schließlich gegen Gesetze, die hier verabschiedet werden. Wir wollen, dass die Lager für Flüchtlinge geschlossen werden, dass die Residenzpflicht abgeschafft wird, und dass die Abschiebungen gestoppt werden. Deshalb war klar, unser Marsch kann nur hier enden. Wenn man in die Geschichte schaut, dann werden alle Konflikte im Zentrum der Macht, in den Hauptstädten ausgefochten. Im Moment leben in dem Camp auf dem Oranienplatz und in der leerstehenden Schule, die wir im Dezember 2012 in der Reichenberger Straße besetzten, 125 Menschen, manchmal sind wir auch mehr als 200 Flüchtlinge, die aus ganz Deutschland nach Kreuzberg gekommen sind. Berlin ist das Zentrum unseres Streiks.
Noch nie gab es in Deutschland einen so entschlossenen Protest von Flüchtlingen. Wie hat Eure Bewegung 2012 an Dynamik gewonnen?
Wir haben es geschafft, viele Menschen darüber zu informieren, wie miserabel in Deutschland mit Flüchtlingen umgegangen wird. Es hat darüber eine breite Diskussion gegeben, die für uns erfolgreich war: In einigen Bundesländern haben wir es geschafft, dass die Residenzpflicht gelockert wurde und wir mehr Bewegungsfreiheit bekommen. einige Orte haben auch das Gutscheinsystem aufgehoben.
Also habt Ihr schon einiges erreicht?
Schon. Es es ist das Ergebnis unserer ständigen Aktionen. Aber das reicht natürlich nicht aus.
Was für Aktionen sind das?
Wir haben beispielsweise im Oktober die nigerianische Botschaft besetzt. Weil Deutschland die nigerianischen Flüchtlinge abschieben wollte. in Nigeria ist aber die Lage sehr angespannt, weil es bewaffnete Konflikte mit der islamistischen Bewegung Boko Haram gibt. Es gab bei der Besetzung massive Polizeigewalt mit 26 Festnahmen, fünf Personen von uns waren verletzt und mussten teilweise sogar im Krankenhaus behandelt werden. Dagegen haben wir wiederum protestiert. es kam immer wieder zu Übergriffen seitens der Polizei.
Zwischenzeitlich schien es, als würde sich Euer Protest spalten. War die Gruppe der Hungerstreikenden anderen zu radikal?
Ich glaube nicht, dass eine Spaltung drohte. Wir hatten zwei Strategien. Die einen zogen ihren Hungerstreik durch, die anderen blieben im Camp. Wir leben alle gemeinsam auf der Straße und haben viele Aktionsformen.
War es angebracht, einen Hungerstreik als Protestform zu wählen?
Ein Hungerstreik ist natürlich drastisch, weil es genau zwei Möglichkeiten gibt, die eintreffen können: Entweder werden die Forderungen erfüllt, und es bewegt sich was, oder das Leben ist vorbei. Die Hungerstreikenden vor dem Brandenburger Tor übten Druck auf die Politik aus, und nicht zuletzt deshalb kam es zu einem treffen mit Politikern aus dem Innenausschuss des Bundestags.
Hat das Eure Situation verbessert?
Ich weiß nicht. Die Grünen, die Linke und die Piraten haben unsere Ziele unterstützt, die anderen Parteien haben sich gegen uns gestellt. Zum Beispiel verließ ein Abgeordneter der CDU bei dem Treffen den Raum. Wir haben lediglich einen Flyer verteilt, auf dem stand, dass die Residenzpflicht eine rassistische Auflage ist. Darüber waren einige Abgeordnete erbost. Es scheint sie zu stören, dass wir politisch argumentieren und uns als politische Bewegung verstehen.
Wie verlief das Treffen?
Wir führten eine hitzige Diskussion. Die CDU-Parlamentarier wollten unbedingt, dass wir einzeln unsere Probleme schildern. Wir sagten ihnen aber, dass wir eine politische Gruppe sind, und es nicht nur um die Schicksale einzelner geht. Sondern wir wollen mit aller Entschlossenheit dafür einstehen, dass die Gesetze geändert werden. Unsere Haltung hat sie sehr verwundert. Damit konnten sie nicht umgehen.
Als der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan im Oktober Kanzlerin Angela Merkel in Berlin besuchte, war das für Dich ein besonderes Ereignis?
Ja, natürlich. Wir zogen natürlich mit unseren Bannern zum Brandenburger Tor und demonstrierten dort lautstark. In der Türkei gibt es noch immer 10.000 politische Gefangene, von denen ich ja auch einer war. Erdogan hat Merkel auf
dem Treffen eine Liste gegeben, auf der 70 Personen türkischer Staatsangehörigkeit standen, um deren Auslieferung er bittet. Ich erfuhr, dass nach diesem Staatsbesuch drei Personen, die auf der Liste standen, in Griechenland verhaftet wurden. Dieses Vorgehen gegen Flüchtlinge und die Isolation in den Lagern in Deutschland und anderswo in der EU das ist natürlich nur eine Ebene. Man muss diese Situation im Zusammenhang mit dem kapitalistischen System betrachten, das eine Individualisierung und eine Vereinzelung forciert. Unsere Proteste gegen die Isolierung sind somit nicht nur ein Flüchtlingsproblem.
Nein?
Man muss den Gesamtzusammenhang sehen. Wenn man sich anschaut, warum Menschen flüchten, warum Afghanistan bombardiert wird und im Irak Bomben hochfliegen. Dann lautet die Antwort, dass Kriege auch wegen geostrategischen Aspekten geführt werden und wegen Rohstoffressourcen, die es in den Ländern gibt. Die Bevölkerung wiederum flüchtet, weil sie nicht im Bombenhagel sterben will. Das ist nach der Genfer Konvention legitim.
Wenn nun hier in den Zielländern der Flüchtlinge eine Wirtschaftskrise herrscht und sich die Situation zuspitzt, dann erhöht sich in diesen Ländern der Rassismus erheblich. Die Aggression trifft zuerst die Flüchtlinge, weil sie arm und weil sie Außenseiter sind. Flüchtlinge gehören zu den Schwächsten in der Gesellschaft.
Ja sicherlich. Es gibt viele Ungerechtigkeiten. So existiert etwa für die EU-Bürger eine komfortable Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaftsstaaten. Aber wir Flüchtlinge sind davon ausgeschlossen. Ich darf zum Beispiel nicht von Hannover hierher ins Camp kommen. Aber wir brechen mit diesen Beschränkungen, Tag für Tag, bis sie abgeschafft werden.