Dieses Zitat war ein oft genutzter Spruch eines Genossen in den Geflüchtetenprotesten in Berlin. Dieser Artikel handelt konkret von der politischen Selbstorganisierung auf dem Geflüchteten Protestcamp am Oranienplatz und der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg. Das Zitat des Genossen klingt simpel, drückt aber die Komplexität der Fragen nach den Auswirkungen des rassistischen europäischen Migrationsregimes auf uns und nach „unserer“ politischen Selbstorganisierung im Protestcamp der „Geflüchteten“ auf dem Oranienplatz aus.
Im Folgenden werde ich die Kategorien „Unterstützer_innen“ und „Gefüchtete_r herausarbeiten, um die Rolle dieser Kategorien in der Selbstorganisierung der Kerngruppe, die das Refugee-Protestcamp gemeinsam ins Leben gerufen hatte, zu beleuchten Mit dem Pronomen „unserer/wir“ meine ich eben jene Kerngruppe, die sich seit Beginn des Protestcamps aus „Geflüchteten“ und „Unterstützer_innen“ zusammensetzt und bis heute aktiv ist. Ich möchte also die verschiedenen Ebenen der Erfahrungen zeigen, die ich als Aktivistin und Woman of Color in der Bewegung machen konnte. Mit der Selbstbezeichnung „Woman of Color“ möchte ich mich als Frau, die von Rassismus betroffen ist, positionieren – somit soll die Perspektive aus der die Erfahrungen stammen, deutlicher werden. Die Kategorien „Unterstützer_in“ und „Geflüchtete_r“ sollen unsere (de-)privilegierten Positionen und Status in der Gesellschaft markieren und zeigen, wie wir vom kapitalistischen System mit seiner Festung Europa und seinen imperialistischen Kriegen entweder profitieren oder von ihm unterdrückt werden. Diese Kategorien sollen also darauf hinweisen, dass Menschen mit deutschem Pass die meisten gesellschaftlichen Privilegien haben, während Geflüchtete in Deutschland und Europa an den Rand gedrängt, entrechtet und kriminalisiert werden. Durch das Anwenden der Kategorie „Unterstützer_in“ und „Geflüchtete_r“ wurde angenommen, dass die Rollen und Perspektiven, die aus dem Protesten heraus sprechen viel klarer verteilt werden. Es sollte dadurch auch vermieden werden, dass Menschen mit deutschem oder europäischem Pass im Namen von Geflüchteten sprechen und Politik machen.
Die Kategorien beziehen sich demnach auf die angenommenen Machtbeziehungen und die daraus folgenden Rollen aller Individuen, die sich am Kampf der „Geflüchteten“ beteiligen und damit auch die Entwicklung der Bewegung prägen. Meiner Ansicht nach versteckt sich die äußerst notwendige Selbstkritik von Macht, Gewalt und Diskriminierung in der Bewegung irgendwo hinter den Bezeichnungen „Geflüchtete“ und „Unterstützer_innen“. Aber es gibt viele weitere Ungleichheiten, die die Selbstorganisierung der Bewegung hemmen. Wenn wir diese Ungleichheiten weiter ignorieren, werden wir auch weiterhin Solidarität und Kraft für die Bewegung verlieren.
„We are here and we will fight, freedom of movement is everybody’s right!” Gefüchtetenprotestcamp am O-Platz
Im Sommer 2012 startete ein 600 km langer Protestmarsch von Würzburg nach Berlin. Mehrere Geflüchtete aus Lagern (Sammelunterkünfte) in ganz Deutschland hatten sich auf dem Break Isolation Sommercamp in Jena zusammengefunden, um über diese Idee zu diskutieren. Der konkrete Anlass dazu war der Suizid von Mohammad Rahsepar im Januar 2012. Der Geflüchtete aus dem Iran nahm sich im Lager in Würzburg das Leben, aufgrund der rassistischen Asylpolitik und Isolation in Deutschland. Der Protestmarsch der „Geflüchteten“ von Würzburg bis Berlin war nach Jahren der erste Akt zivilen Ungehorsams von Geflüchteten beziehungsweise ausgegrenzten Personen, der in der deutschen Gesellschaft große öffentliche Aufmerksamkeit erlangte. Während des Marschs fanden viele Aktionen statt unter anderem Mobilisierungsbesuche in Lagern auf der Marschstrecke und das Zerreißen der Asylbewerber_innenausweise. Die Bewegung brachte auch neue Impulse in bereits existierende „Geflüchteten“-Kämpfe sowie in linke Aktivist_innen-Kreise, die weiß- beziehungsweise deutsch dominiert sind.
Gefüchtete wurden als politische Aktivist_innen statt lediglich als
hilfsbedürftige Menschen wahrgenommen.
Nach Ankunft des Protestmarschs in Berlin besetzten die „Geflüchteten“ den Oranienplatz in Kreuzberg und errichteten ein selbstorganisiertes Protestcamp der „Geflüchteten“, das den politischen Protest aufrecht erhielt. Daraufhin fand ein Perspektivwechsel in der Wahrnehmung von „Geflüchteten“ – als politische Subjekte – in der weißen, deutschen, linken Szene statt. Geflüchtete wurden als politische Aktivist_innen statt lediglich hilfsbedürftige Menschen wahrgenommen. Diese veränderte Wahrnehmung steht im Kontrast zu etablierten „Geflüchteten“-Vertretungen – Kirchenorganisationen, Politiker_innen, NROs etc. – die an ihren Privilegien, Monopolen und Vorteilen festhalten und im Namen der „Geflüchteten“ sprechen.
Im Protestcamp definieren die Kategorien „Geflüchtete_r“ und „Unterstützer_in“ die politischen Rollen der Menschen, die im Rahmen der Selbstorganisierung der „Geflüchteten“-Bewegung interagieren – linke Aktivist_innen, Menschen, die mit der Idee von mehr Rechten für Migrant_innen sympathisieren, „Geflüchtete“ oder Menschen, die vom rassistischen Migrationsregime betroffen sind. Das Problem ist allerdings, dass diese Kategorien zu einfach sind und in der Bewegung zu schnell angewandt werden. Ich glaube, dass die vorherrschenden Kategorien „Geflüchtete“ und „Unterstützer_innen“ die intersektionalen Machtstrukturen – die Überschneidung von verschiedenen Unterdrückungsformen durch Klasse, „race“, Gender und anderen Machtbeziehungen – in der Bewegung nicht reflektieren und uns davon abhalten, mit ihnen umzugehen.
Solidarität und die vorherrschenden Kategorien in der Gefüchtetenbewegung in Berlin
Wir sind eine komplexe Gruppe und diese Kategorien scheinen nicht hilfreich zu sein. Einige „Geflüchtete“ lehnen ihren (Nicht-)Status ab, da sie es als ein Werkzeug europäischer Staaten ansehen, die ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und Migration einzuschränken. Einige „Unterstützer_innen“ haben das europäische Asylsystem selbst durchlaufen und sind in der Gesellschaft als People of Color immer noch mit Rassismus konfrontiert. In diesen Fällen beziehen sich die vorherrschenden Kategorien beispielsweise nicht auf die verschiedenen Realitäten der Menschen, die vom Migrations- und Grenzregime beeinträchtigt werden. Im Gegensatz dazu glauben einige „Unterstützer_innen“ mit weißen Privilegien und dem dazugehörigen ignoranten Dominanzverhalten, dass solche Labels „unsere“ Bewegung an ihrer Vorstellung von Einheit hindern! Andere sagen, der Kampf gegen rassistische Asylpolitik, das Grenzregime und Kriege sei ein kollektiver Kampf und betonen die politische Verantwortung eines_r jeden. Jene, die es ablehnen, in Schubladen gesteckt zu werden – so wie in den letzten beiden Fällen – sollten nicht ihre strukturelle Macht und ihre Privilegien in der Gesellschaft vergessen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass wir – die O-Platz-Kerngruppe – uns auf diese Labels verlassen ohne ihre Hintergründe wirklich zu verstehen. Diese Kategorien sind dazu da, Positionen und Rollen in der Bewegung zu markieren; aber was ist, wenn die, die diese Labels tragen, sich dieser Funktion nicht bewusst sind? Oder einfach nicht in die Kategorie passen? Ich denke oft, dass es für viele „Unterstützer_innen“ einfacher ist, sich auf diese Kategorien zu stützen als sich mit ihren Privilegien und politischen Verantwortungen auseinander zu setzen: „Ich bin nur ein_e Unterstützer_in“. Unsere Privilegien und Positionen in der Gesellschaft müssen in der Bewegung eine Rolle spielen, aber alle möglichen Menschen in zwei Schubladen zu stecken, um ihre Rolle zu verhandeln, ist nicht der richtige Weg, uns und unsere politischen Ziele zu reflektieren. Was sollte
unser kleinster gemeinsamer Nenner sein? Die Farbe unserer Haut? Einen Ausweis zu haben oder nicht? Die Emanzipation von kapitalistischer Unterdrückung?
What about Freedom of Movement for everyone?!
Was sexistische Strukturen in der Bewegung anbelangt, glaube ich, dass diese Kategorien patriarchale und rassistische Allianzen zwischen den Männern in der Bewegung unterstützen. Die „Geflüchteten“-Bewegung um den Oranienplatz herum ist eine männerdominierte Bewegung, da viele FLSTIQ* (Frauen, Lesben, Schwule, Trans, Inter, Queere)-„Geflüchtete“ – im Allgemeinen – struktureller Gewalt in ihren eigenen Leben so viel stärker ausgesetzt sind, dass es sie daran hindert, Teil der Bewegung zu werden. Damit meine ich, dass FLSTIQ*- Geflüchtete es viel schwerer haben auf der Flucht nach Europa, weil sie durch patriarchale informelle Netzwerke zur Grenzüberschreitung oder illegale Arbeitsverhältnisse besonders ausgebeutet werden. Darüber hinaus fliehen Frauen mit ihren Kindern oft gemeinsam. Mit ihrer Ankunft im deutschen Asylsystem wird es nicht leichter für sie. Bei Behörden und im Lager müssen sie viel mehr Durchsetzungsvermögen zeigen, da ihre Bedürfnisse hier oft ausgeblendet werden. Der „männliche Geflüchtete“ ist dadurch zur einzigen relevanten Referenz des Geflüchtetenprotests am Oranienplatz geworden; dies bedeutet auf der anderen Seite, dass andere unterdrückte Positionen in der Bewegung übersehen werden oder „nicht so wichtig“ sind – vorhersehbar, wenn die Entscheidungsfindung von Männern dominiert wird. Darum spiegelt die Art und Weise, wie diese Kategorien unsere Interaktionen beeinflussen, nicht die tatsächlichen Subjektivitäten sowie Machtstrukturen im Protestcamp am Oranienplatz wider. Die Art, uns gegenseitig politisch anzusprechen, muss stärker mit unserer Analyse von den Machtbeziehungen und der Unterdrückung, die vom kapitalistischen, patriarchalen System und den internen Machtbeziehungen der Bewegung reproduziert wird, verknüpf sein.
Was sollte unser kleinster gemeinsamer Nenner sein? Die Farbe unserer Haut? Einen Ausweis zu haben oder nicht? Die Emanzipation von kapitalistischer Unterdrückung?
Meistens kümmern sich FLSTIQ*- „Unterstützer_innen“ um die unsichtbaren Aufgaben wie kochen, sauber machen, Infrastruktur, Übersetzung, emotionale und rechtliche Unterstützung, Konfliktbewältigung, Anträge für finanzielle Förderungen, Organisation und Koordination von Aktionen und Veranstaltungen, besonders Spendenveranstaltungen, und vieles mehr. Nicht nur eine Aufgabe also, sondern viele, und das gleichzeitig! Männliche „Unterstützer“ mit weißen Privilegien hingegen neigen stattdessen dazu, an Demonstrationen und Aktionen teilzunehmen, Pressekonferenzen zu leiten, bei öffentlichen Auftritten für die gesamte Bewegung zu sprechen, oder anderweitig machtvolle Kontaktpersonen für Politiker_innen und Rechtsanwält_innen darzustellen. Sie reißen somit mächtiges Wissen und Netzwerke an sich und beanspruchen diese für sich. Dies funktioniert, da die Mehrheit der „Geflüchteten“ in unserer Protestbewegung Männer sind. Zusammen bauen sie patriarchale Allianzen innerhalb der Bewegung auf. Sie vertrauen einander, teilen Wissen miteinander, finden gegenseitige Anerkennung und nehmen stellvertretende Funktionen in der Gruppe ein, während das Engagement der FLSTIQ*- „Geflüchteten“ und – „Unterstützer_innen“ in der Entscheidungsfindung oder in repräsentativen Aufgaben keinen Platz findet oder nur unzureichend anerkannt wird. Schlimmer noch ist, dass männliche „Unterstützer“ oft dazu tendieren – aus Angst vor dem Verlust eigener männlicher Privilegien – innerhalb der Bewegung gegenüber männlichen „Geflüchteten“ blinde Loyalität zu zeigen, statt Sexismus direkt anzusprechen, wenn es notwendig ist. Die männlichen „Unterstützer“ mit weißer Positionierung in der Gesellschaft tragen nicht nur eine privilegierte Position in „Race“-, sondern auch in Gender-Beziehungen. Die meisten von ihnen fürchten sich nämlich viel mehr davor, als Rassist denn als Sexist bezeichnet zu werden.
Die meisten von ihnen fürchten sich nämlich viel mehr davor, als Rassist denn als Sexist bezeichnet zu werden.
Wir brauchen Solidarität, Vertrauen und Respekt, um unsere Stärke und Motivation zu fühlen und zusammen gegen das europäische Grenzregime zu kämpfen und den sozialen Wandel, den wir uns wünschen, herbeiführen zu können. Meine Motivation für einen Kampf kann nicht entstehen, wenn meine Genoss_innen meine Probleme nicht sehen und nicht bereit sind, die Umstände zu ändern. Ebenso wenig können es weitere FLSTIQ*- „Geflüchtete“ und – „Unterstützer_innen“, so dass diese die Bewegung verlassen. Gemeinsam mit ihnen gehen auch ihre Talente und Erfahrungen, ihre politischen und sozialen Ansätze und Strategien. Niemand erwartet, dass weiße männliche „Unterstützer“ und männliche „Geflüchtete“ die Waffen in die Hand nehmen, um uns zu verteidigen; jedoch sollten sie wenigstens in der Lage sein, den Angreifer nicht noch weiter zu bestärken. Die Ignoranz gegenüber intersektionalen Positionierungen in der Kerngruppe des O-Platzes hat und wird weiterhin die Unterdrückung von vielen weiteren Akteur_innen der Bewegung verursachen, die nicht Teil der männlichen Dominanz sind, aber dennoch eine wichtige Rolle spielen.
Grenzen der Selbstorganisierung
Seitdem ich den ersten Entwurf dieses Artikels geschrieben habe, ist vieles in der Bewegung passiert. So gab es zwei Ereignisse mit drei Frauen of Color, die von großer Bedeutung für die Bewegung und das Thema intersektionale Machtbeziehungen waren und mich natürlich stark beeinflusst haben. Am 10. Dezember 2014 verstarb unsere hoch geschätzte Genossin und Wahrzeichen all der Bemühungen um die besetzte Gerhart-Hauptmann Schule in Kreuzberg, welche 2012 von „Geflüchteten“_aktivist_innen des O-Platz besetzt wurd,e Sista Mimi. Sista Mimi war eine lebende Legende für all die „Freiheitskämpfer_innen“. Sie wandte sich ganz der Gemeinschaft in dem Schulgebäude zu und etablierte das „social center“ im kleinen Pavillon-Gebäude im Innenhof. Sie bekochte uns und die vielen Menschen von der Schule. Sie versuchte, uns alle zusammenzubringen und beschützte die Gemeinschaft vor Attacken von außen. Nun können wir ihre starke Stimme zwar nicht mehr hören, doch hat sie der Bewegung eine empowernde und wahre Botschaft hinterlassen: „Wir sind eins“. Ich hoffe, dass sie in Frieden ruht und ihr Geist in unseren Herzen erhalten bleibt.
Mitte Mai 2015 hat die Bewegung Zuwachs von zwei weiteren starken Frauen erhalten: Gina Dent und Angela Davis, zwei legendäre Kämpferinnen für Antirassismus und Feminismus und gegen Knäste. Ich möchte den Artikel gerne mit einem Zitat aus dem Treffen mit ihnen beenden. Der international women space, der nach der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule im Dezember 2012 von Aktivist_innen des Oranienplatz-Protestcamps gegründet wurde, war natürlich auch ein außerordentlicher Teil des Treffens. Zum Ende des Austauschs erhob sich Angela Davis und dankte all den Frauen für ihre Teilnahme an dem Treffen und für ihren Aktivismus. Danach bat sie alle Männer, feministischer zu denken, „weil die Gewalt des Staates, die Gewalt des Gefängnisses und die Gewalt des Systems dieselbe Gewalt ist, die ihr an Frauen ausübt“.
* Die ausführliche Version des Artikels ist auf Englisch zu finden: www.movements-journal.org. Zu guter Letzt möchte ich mich bei Farzada, Hany und Simon vom Bündnis gegen Rassismus sowohl für deren Unterstützung bei der Kürzung und Übersetzung dieses Artikels als auch für deren endlose Energie bedanken!
Das Bündnis gegen Rassismus hat sich nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie mit dem Bedürfnis gegründet, Menschen, die Rassismus erfahren, eine Plattform zu bieten und gemeinsam mit solidarischen, reflektierten Menschen gegen Rassismus zu kämpfen. Das Bündnis gegen Rassismus setzt sich heute aus unterschiedlich positionierten Menschen zusammen: von verschiedenen Rassismen diskriminierte Personen und Weiße.