Die Herausgabe der »Berliner Zustände« ist mittlerweile zur liebgewonnenen jährlichen Aufgabe geworden, gibt es doch immer wieder neue Themen und Herausforderungen für die (Beratungs-)Arbeit. Im sechsten Jahr des Erscheinens sind wir erschüttert angesichts eines »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU), der über Jahre hinweg ungehindert Menschen aus blankem Rassismus hinrichten konnte.
Die Aufdeckung der Taten im November 2011 haben auch in der Berliner Projektelandschaft, den migrantischen Communities sowie bei Engagierten eine große Verunsicherung, aber auch Trauer und Wut, hervorgerufen. Welche langfristigen Folgen die Morde, das Schweigen der Gesellschaft und das staatliche Versagen bei der Verhinderung und Aufklärung der Taten haben, lässt sich heute noch nicht absehen.
Die Entscheidung der Redaktion im Herbst 2011, die Rolle der Polizei in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus als einen Schwerpunkt thematisieren zu wollen, fiel noch ohne das Wissen über den NSU. Denn Polizei und Ermittlungsbehörden sind ein wichtiger Faktor im Kampf gegen die extreme Rechte. Mal sind sie Kooperations- oder Gesprächspartner, mal bieten sie Anlass für Ärgernisse und Kritik. So arbeitet die Polizei zum einen in manchen Bezirken in zivilgesellschaftlichen Bündnissen mit, zum anderen gibt es seit Jahren erhebliche Kritik an der (Nicht-)Erfassung rassistisch oder rechtsextrem motivierter Übergriffe sowie an der fehlenden Sensibilität gegenüber Opfern rassistischer Bedrohung und Gewalt.
Mit einer Nicht-Informationspolitik über Naziaufmärsche wollte die Berliner Polizei 2011 scheinbar breite gesellschaftliche Gegenproteste verhindern, stattdessen hat sie damit den aufmarschierenden Neonazis eine »Spielwiese« bereitet wie der Artikel vom apabiz zeigt.
Im Anschluss beschreibt der Rechtsanwalt Sven Richwin das zögerliche Ermittlungsverhalten der Behörden gegenüber der rechtsextremen Webseite nw-berlin.net, die in einer Anti-Antifa-Chronik alternative Projekte und Antifaschist_innen namentlich auflistet. Der Artikel von Kati Lang macht deutlich, dass polizeiliche Erfassungskriterien oft nur unzureichend die Realität rechtsextremer und rassistischer Bedrohungslagen fassen können. Sie problematisiert Ungleichwertigkeitsvorstellungen in den Behörden und fordert ein grundlegendes Umdenken. Die Opferberatungsstelle ReachOut und die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt berichten von alltäglichen Verletzungen und Demütigungen.
Neben den Schwerpunktartikeln bieten weitere zehn Texte eine Analyse aktueller Entwicklungen, Erscheinungsformen und Diskurse des vergangenen Jahres, die die Arbeit der Autor_innen geprägt und wesentlich beeinflusst haben. Für diese Ausgabe konnten außergewöhnlich viele Projekte und Einzelpersonen für eigene Artikel gewonnen werden, so dass die Berliner Zustände 2011 sehr dicht, umfassend und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und analysiert werden.
Das Antidiskriminierungsnetzwerk des TBB beschreibt die verschiedenen Facetten rassistischer Diskriminierung in der Schule, dem Gesundheitswesen – aber auch bei der Türpolitik von Clubs und Diskotheken. Über die alltägliche Diskriminierung von Sinti und Roma, berichtet das Forum Antiziganismuskritik und betont durch ein Interview mit der Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma Amaro Foro die Wichtigkeit von Engagement. Dass auch die verschiedenen Szenen von Lesben, Schwulen und Trans*Menschen nicht frei von Sexismus, Rassismus und anderen diskriminierenden Ausgrenzungen sind, analysiert Gladt e.V. und beschreibt zudem das Engagement eines lokalen Netzwerkes mit dem Ziel einer diskriminierungsfreien Szene für alle.
Das Zusammenspiel homophober, antimuslimischer, rassistischer und sexistischer Diskurse beschäftigte das Projekt Queerformat. Ihr pädagogischer Materialkoffer zum Thema »vielfältige Lebensweisen« wurde zum »Porno-Koffer« stilisiert und bis hin zu Gewaltandrohungen gegen ein angebliches »Schulfach schwul« gehetzt. Ebenfalls aus der Bildungsarbeit berichtet die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KigA) und beleuchtet die Herausforderungen pädagogischer Arbeit zu Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.
Im Wahlkampf 2011 kam es erneut zu Protesten von Anwohner_innen gegen in Weißensee lebende Flüchtlingsfamilien. Die Netzwerkstelle [moskito] beschreibt an Hand dieses Lokalbeispiels die Verknüpfung von rassistischen Vorurteilen mit institutionalisiertem Rassismus und stellt die Frage nach demokratischen Interventionsmöglichkeiten.
Dass rechtsextreme, rassistische und antisemitische Angriffe keine Ostphänomene sind, betont der Artikel der Opferberatungsstelle ReachOut. Die Chronik im Anhang weist für die westlichen Bezirken mehr Fallzahlen aus.
Abschließend beleuchten die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und das Projekt Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in kommunalen Gremien Berlins – Dokumentation und Analyse das gewaltförmige und raumgreifende Auftreten sowie die Verfasstheit der rechtsextremen Szene Berlins: Von einer zunehmend professionalisierten Anti-Antifa-Arbeit, die sich in Brandanschlägen und Angriffen auf politische Gegner_innen zeigt, bis hin zu den Wahlen im September 2011, aus denen die drei angetretenen Rechtsaußenparteien äußerst geschwächt hervorgingen.
Wir danken ganz herzlich allen Autor_innen und beteiligten Projekten, der Layouterin Laura Maikowski und dem Fotografen Mark Mühlhaus. Hoffentlich beleuchtet auch dieser »Schattenbericht« interessante Aspekte, stellt bisher weniger bekannte Projekte und Initiativen mit ihrer Arbeit vor, befördert eine weitere Vernetzungen und motiviert mehr Menschen zum Engagement.