Samstag, der 5. Januar 1980. Am Kottbusser Tor ist es ein Tag des türkischen Flugblatts. Vertreter aller möglichen politischen Gruppierungen sind unterwegs. Die Stimmung ist angespannt. In den Tagen und Wochen zuvor ist es in Berlin mehrfach zu Schlägereien zwischen Linken einerseits, Islamisten und Faschisten andererseits gekommen. Die Vorgänge gleichen denen in der Türkei, wo die Auseinandersetzungen zwischen der zerstrittenen, aber starken Linken und den staatlich gedeckten faschistischen Mordkommandos immer mehr einem Bürgerkrieg ähneln. Kaum ein Tag vergeht ohne Tote.
An diesem kalten Morgen machen sich etwa 20 Linke zum Kottbusser Tor auf, um Flugblätter gegen den drohenden Militärputsch in der Türkei zu verteilen und für den Nachmittag zu einer Protestkundgebung vor dem Konsulat aufzurufen. Es ist nicht die einzige Aktion türkischer Gruppen an diesem Tag in der Stadt. Ein weiteres weltpolitisches Ereignis bewegt die Gemüter. Keine zehn Tage zuvor, am 27. Dezember 1979, ist die Rote Armee in Afghanistan einmarschiert. Faschistische Graue Wölfe, Anhänger Süleyman Demirels konservativer Gerechtigkeitspartei sowie die islamistische Milli Görüs demonstrieren »gegen den Mord an Muslimen in Afghanistan«. Im Aufruf der Islamisten steht: »Deine Aufgabe ist es, jeden, der sich gegen Deine Religion und gegen Deine Glaubensgenossen richtet, zum Schweigen zu bringen, auch wenn Du Dein Leben dafür opfern musst.«
Die einzige Strömung, die neben der DKP offen das Engagement der Sowjetunion verteidigt, ist die Kommunistische Partei der Türkei (TKP). Zu ihr gehören der Türkische Demokratische Arbeiterverein in Kreuzberg und das Türkenzentrum in Neukölln. Natürlich inoffiziell, schließlich arbeitet die Partei konspirativ. Offiziell sind beide der Föderation der Arbeitervereine in der Bundesrepublik Deutschland (Fidef) angegliedert, dem hierzulande lange Zeit stärksten linken und insgesamt zweitstärksten migrantischen Dachverband.
Schon bald stößt eine Gruppe von Islamisten und Faschisten auf die Aktivisten aus dem TKP-Umfeld. Vor einem Supermarkt stehen sich beide Seiten gegenüber. Man skandiert Parolen, die um das Thema Afghanistan kreisen. »Die Sowjets sind die Freunde der Völker«, rufen die Linken. »Russen raus aus Afghanistan«, schallt es ihnen entgegen. Und: »Wer Allah liebt, schlage zu!«
Die Rechten erhalten Zulauf aus der benachbarten Mevlana-Moschee am Neuen Kreuzberger Zentrum. Die 1976 gegründete Moschee ist bis heute die wichtigste Einrichtung von Milli Görüs in Berlin. Auch Anhänger der Grauen Wölfe sind dort anzutreffen. Die Differenzen zwischen Islamisten, Faschisten und Konservativen sind in jenen Tagen zweitrangig. Es gilt, den Kommunismus zu bekämpfen, in der Türkei, in Afghanistan, in Berlin. Etwa 70 Personen kommen zusammen.
Die weiteren Ereignisse schildert Murat Alp so: »Wir gingen in Richtung unseres Vereinslokals los, machten aber den Fehler, uns nicht geordnet zurückzuziehen. Einige hatten schon die Skalitzer Straße überquert, als die Ampel auf rot schaltete. Der Rest, darunter Celalettin Kesim, blieb stehen. Plötzlich stürmte die Menge, mit Knüppeln, Messern und Ketten bewaffnet und ‚Allah, Allah‘ rufend, auf uns zu.«
Es kommt zu Jagdszenen auf dem Platz und im U-Bahnhof. »Wir haben uns zwar gewehrt, aber wir hatten uns zersplittert und waren nur wenige, chancenlos«, berichtet Alp, der mit leichten Verletzungen davonkommt. Celalettin Kesim, 36, der Sekretär des Türkenzentrums, wird von einem Messerstich in den Oberschenkel verletzt, eine Schlagader ist getroffen. Einige seiner Genossen schleppen ihn bis zur Kottbusser Brücke. Er liegt blutend im Schnee. Erst eine halbe Stunde nach dem Beginn des Angriffs treffen Sicherheitskräfte ein. Ein Feuerwehrwagen bringt Kesim ins Urban-Krankenhaus, wo nur noch sein Tod festgestellt werden kann.
Celalettin Kesim kam 1973 nach Westberlin, er war bei Borsig als Dreher beschäftigt und Vertrauensmann der IG Metall. Zuletzt arbeitete er als Lehrer in einer Berufsschule. Er hinterlässt eine schwangere Frau und ein Kind.
Eine Woche darauf nehmen 15 000 Menschen an einer antifaschistischen Gedenkdemonstration teil. »Bald nach dem Mord haben sich die Islamisten nicht mehr auf die Straße begeben«, sagt Alp, »in Berlin haben wir den Kampf gewonnen. Unsere einzige Niederlage war dieser Januartag. Aber wir haben einen Toten.«
Bald wird bekannt, dass die Polizei, entgegen der amtlichen Darstellung, rechtzeitig von der bedrohlichen Lage informiert war. Der abgehörte Polizeifunk beweist, dass Beamte in Zivil das Wortgefecht beobachteten. Aber die Zentrale beorderte erst Einsatzkräfte zum Tatort, als alles vorbei war und die Täter in die Moschee geflüchtet waren.
Wegen der schlampigen Ermittlungen werden später im Hauptverfahren nur zwei Personen angeklagt. Trotz zahlreicher belastender Zeugenaussagen wird einer von ihnen freigesprochen, der andere, Abdul Saticioglu, der sich im Prozess selbst als »geistiger Führer« von Milli Görüs in Berlin bezeichnet, wird zu vier Jahren Haft wegen »Landfriedensbruchs und Beteiligung an einer Schlägerei« verurteilt. Das Gericht hält ihm strafmildernd zugute, dass er »nach seiner ganzen Ideenwelt an eine gute Sache geglaubt« habe, auch wenn »diese dem hiesigen Denken fremd« sei. Fast so eloquent hat Bild nach dem Mord getitelt: »Türken-Krieg mit Fleischermesser: ein Toter«. Alle nachfolgenden Verfahren enden mit Freisprüchen.
Genauso wie sich bisweilen rechte deutsche und türkische Staatsmänner blendend verstanden – der Verehrer Hitlers und langjährige Führer der Grauen Wölfe, Alparslan Türkes, beriet sich seinerzeit gemeinsam mit Franz Josef Strauß über die Bekämpfung des Kommunismus -, gaben nicht nur türkische, sondern auch deutsche Linke und Gewerkschafter Kesim das letzte Geleit. Anders als es der Spiegel oder manche »Postkoloniale« wahrhaben wollen, verlief die entscheidende Grenze nicht entlang ethnischer, sondern politischer Linien.Die Angehörigen der ersten Einwanderergeneration waren nicht nur Opfer von Rassismus, von miserablen Arbeits- und Wohnverhältnissen, sondern sie agierten auch als politische Subjekte.
Seit einigen Jahren erinnert ein Mahnmal an der Ecke Reichenberger und Kottbusser Straße an Celalettin Kesim. Auf dem Stein steht eine Zeile von Nazim Hikmet: »Sie sind die Feinde der Hoffnung, Geliebte.« (…)
Update vom 8.1.2013:
Weit mehr als einhundert Menschen gedachten am 5. Januar 2013 am Kottbusser Tor dem vor 33 Jahren ermordeten Celalettin Kesim. Damit war die jährlich stattfindende Gedenkkundgebung größer als in den vergangenen Jahren. Nach einigen Redebeiträgen auf deutscher und auf türkischer Sprache wurde während der Kundgebung der kleine Platz an der Reichenberger Straße / Ecke Kottbusser Damm inoffiziell in Celalettin-Kesim-Platz umbenannt. Hier steht auch seit vielen Jahren die Gedenkstele für den von türkischen Faschisten und religiösen Fanatikern Ermordeten.
Fotos von der Gedenkveranstaltung findet ihr -> hier.