Ufuk Şahin wird im Märkischen Viertel von einem Rassisten erstochen
Unmittelbar nach dem Mord organisieren Angehörige, Freund*innen und Nachbar*innen verschiedene Demonstrationen im Gedenken an Ufuk Şahin. Am 19. Mai 1989 ziehen 1500 Menschen durch das Märkische Viertel. | Foto: © Umbruch Bildarchiv
Ufuk Şahin wird im Märkischen Viertel von einem Rassisten erstochen
Unmittelbar nach dem Mord organisieren Angehörige, Freund*innen und Nachbar*innen verschiedene Demonstrationen im Gedenken an Ufuk Şahin. Am 19. Mai 1989 ziehen 1500 Menschen durch das Märkische Viertel. | Foto: © Umbruch Bildarchiv
Ufuk Şahin wird im Märkischen Viertel von einem Rassisten erstochen
Unmittelbar nach dem Mord organisieren Angehörige, Freund*innen und Nachbar*innen verschiedene Demonstrationen im Gedenken an Ufuk Şahin. Am 20. Mai 1989 demonstrieren 8000 Menschen in Berlin-Schöneberg. | Foto: © Umbruch Bildarchiv
Şahin zog als Fünfjähriger mit seinen Eltern aus der Türkei nach West-Berlin, wo er erfolgreich die Realschule absolvierte und Schlosser lernte. Er hatte mehrere Geschwister. Ufuk Şahin heiratete und bekam mit seiner gleichaltrigen Frau zwei Jahre vor seinem Tod einen Sohn. Zuletzt arbeitete er bei der Berliner Firma Waggon-Union und betrieb nebenher einen kleinen Imbiss. Die junge Familie wohnte mit seinen Eltern im Märkischen Viertel. „Er war ein höflicher junger Mann“, wird ein Mann aus dem Viertel zitiert, eine „alte Dame“ sagt, er sei „anständig und vernünftig gewesen, habe sachlich auf Jüngere eingewirkt, wenn die mal Quatsch machten“.[1]
Am 12. Mai 1989 ging Ufuk Şahin am Abend mit seinem Freund Murat P. im Viertel spazieren, sie sollen fröhlich gewesen sein, gelacht und gescherzt haben. In der Nähe seines Wohnhauses trafen sie auf den Maurer Andreas Sch. und seine Verlobte Sabine L., die sie angingen, rassistische Äußerungen fallen ließen. „Ich bin ein Mensch, du bist ein Mensch. Also was soll das?“ entgegnete Şahin darauf hin, Andreas Sch. zog ein Messer und stach es in Şahins Leiste, verletzte eine Hauptschlagader und Ufuk Şahin verblutete noch am Tatort. Der Täter rief von seinem Zuhause im benachbarten Wohnblock aus dann selbst die Polizei.
Das Märkische Viertel war zu jener Zeit die zweitstärkste Hochburg der extrem rechten Partei Die Republikaner, deren Einzug ins Berliner Parlament im Januar des selben Jahres den erstarkenden Rassismus in West-Berlin greifbar machte und Linke wie von Rassismus betroffene Bürger*innen gleichermaßen beunruhigte. Die Republikaner hatten im Wahlkampf einen Werbespot veröffentlicht, in dem Bilder vom Kottbusser Tor und insbesondere von muslimischen Frauen mit Kopftuch mit der Musik „Spiel mir das Lied vom Tod“ unterlegt waren. Diese politischen Ereignisse wurden schon bei der ersten Trauerkundgebung am folgenden Freitag, den 19. Mai, als Vorboten erkannt, mit dem Mord „trägt diese Gesinnung traurige Frucht“, so zitiert die Zeitung Die Wahrheit einen „türkischen Vertreter des Solidaritätsbündnisses“. Zu der ersten Trauerkundgebung am S-Bahnhof Nord-Wittenau am 19. Mai sollten 1.500 Menschen kommen. „Solidarität der Menschen muß Ausländerfeindlichkeit überwinden […] Ich möchte nicht, daß meine Trauer noch vergrößert wird, wenn auch noch anderen Menschen Schmerz zugefügt wird“, sagte die Mutter des Ermordeten in ihrer Rede. Am Folgetag musste sie den Leichnam ihres Sohnes in die Türkei überführen. Am Samstag, den 20. Mai, folgten schließlich ca. 8.000 Menschen dem Aufruf eines breiten Bündnisses diverser antifaschistischer, kurdischer, türkischer, autonomer und teilweise gewerkschaftlicher Gruppen, Parteien und Einzelpersonen zu einer Demonstration unter dem Motto „Wut und Trauer über den rassistischen Mord an Ufuk Şahin – gemeinsam gegen Rassismus!“. An der Spitze der Demonstration vom Breitscheidplatz zum Rathaus Schöneberg gingen Angehörige und Freund*innen des Ermordeten. Viele Teilnehmende hatten sich ein Foto des Getöteten angeheftet.
Sowohl am Freitag als auch am Samstag kam es zu Angriffen von Rassist*innen und Neonazis auf die Trauernden und Demonstrierenden: So wurden vor einer Kneipe in Schöneberg Hitlergrüße gezeigt, die zu Rangeleien mit den Teilnehmenden und einer zerbrochenen Scheibe führten, mehrfach wurden Menschen auf der Demonstration rassistisch beschimpft, aus einem Wohnhaus wurden Eier auf den Demozug geworfen.
Die Polizei ließ schnell verlautbaren, sie sehe „rassistische Tatmotive ‚durch nichts belegt’“[2]. Der Täter Andreas Sch. war hingegen zum einen wegen Körperverletzung vorbestraft, zum anderen wussten Nachbar*innen und Zeug*innen seine politische Motivation klar zu benennen: Er habe auf seinem Balkon „militärisch salutiert“[3] , er sei im Viertel als „Ausländerhasser“ bekannt gewesen, Leute wussten, dass er im Wald Wehrsportübungen durchführte – so berichten einige linken Zeitungen zu jener Zeit. Zu Silvester habe er „junge Ausländer“ mit einem Luftdruckgewehr bedroht.[4] Eine neonazistische Organisierung gab es offensichtlich jedoch nicht. Sch. wird Ende Oktober des selben Jahres wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft verurteilt. Weder Gericht noch Staatsanwaltschaft wollten den offensichtlichen Rassismus als Grund für die Tat erkennen. „Ausländerfeindlichkeit war nicht ausschlaggebend für die Tat“ heißt es im Urteil, obwohl diverse Zeug*innenaussagen das Gegenteil nahelegten und Andreas Sch. bei seiner Festnahme sagte: „Ich lasse doch meine Verlobte nicht von zwei Ausländern belästigen, da habe ich einfach zugestochen.“ Das Gericht glaubte ihm trotz diverser widersprüchlicher Aussagen, dass er sich und seine Freundin durch die lachenden Männer bedroht gesehen habe und seine verletzte Männlichkeit wieder herstellen wollte, wertete letzteren Punkt allerdings strafverschärfend, ohne die rassistische Projektion zu problematisieren.[5]
Die Berliner Politik und der Senat konnten oder wollten sich nach der Tat – der Parteitag der Republikaner und eine breite Mobilisierung dagegen stehen auch kurz bevor – nicht weiter in Schweigen hüllen. Während bei einer Debatte im Abgeordnetenhaus am 25.5.1989 die Alternative Liste und die SPD „die Ermordung von Ufuk Şahin vor dem Hintergrund der steigenden Ausländerfeindlichkeit in Berlin“ interpretierten und die AL als politische Maßnahme „die Einführung des kommunalen Wahlrechts und die Einrichtung eines Ressorts für Antirassismus, ethnische Minderheiten, Flüchtlinge und Immigranten“ forderte, widersprach die CDU: Wer Ausländerhass als Tatmotiv bezeichne, der rufe die Gespenster “die wir alle nicht wollen“, zitiert die taz die CDUlerin Hanna Renate Laurien. „Gewalt müsse statt dessen das Thema sein, ‚gleichgültig, ob von rechts oder links‘ und verwies auf die Auseinandersetzung am 1. Mai.“[6]
Trotz der kurzzeitigen hohen Bedeutung des Falles in der Auseinandersetzung mit dem wachsenden Rassismus in Berlin und den offensichtlichen Parallelen auch zu den heutigen Entwicklungen ist der Tod von Ufuk Şahin und seine Folgen noch eine weitestgehende Leerstelle in der Geschichte der antirassistischen und antifaschistischen Kämpfe dieser Stadt. Das Jahr 1989 begann mit dem Einzug der rassistischen Partei Die Republikaner in das Berliner Abgeordnetenhaus und ‚endete‘ am 9. November mit dem Mauerfall, der diese Geschichte und die Erinnerung an den Todesfall überdeckte.
Am Sonntag, den 12.5.2019, fand zum ersten Mal seit langem wieder eine Gedenkveranstaltung in Berlin-Reinickendorf statt, die an den 30. Todestag Ufuk Şahins erinnerte.
Die Original-Flugblätter sowie weitere Presseartikel zum Tod von Ufuk Şahin können im antifaschistischen pressearchiv und bildungszentrum berlin (apabiz e.V.) eingesehen werden.