„Gegen 19:30 Uhr versammeln sich immer mehr Neonazis direkt vor der Notunterkunft am Glambecker Ring. Als gegen 20:00 Uhr die ersten Busse mit Geflüchteten ankommen, versuchen die Neonazis sich in den Weg zu stellen, schreien „Asylanten raus“ und andere rassistische Sprechchöre. Sie versuchen immer wieder gegen die Geflüchteten und solidarische Anwohner_innen vor der Notunterkunft vorzugehen. Die Polizei hat die Situation zeitweise nicht unter Kontrolle und kann die Neonazis nur knapp davon abhalten, Menschen anzugreifen. Die rechte Gruppe auf dem Gehweg bleibt dort und wächst im Laufe des Abends auf knapp 40 Personen, wobei ein Teil stark alkoholisiert ist.“
Die kurze Notiz über den Abend des 9. September 2015 ist dem Register Marzahn-Hellersdorf zu entnehmen, das rechte und rassistische Vorfälle im Bezirk dokumentiert. Es ist die Hochzeit der flüchtlingsfeindlichen Mobilisierungen, als im Bezirk die ersten Flüchtlinge eine neue Notunterkunft beziehen. Die Ausschreitungen im sächsischen Heidenau sind keinen Monat her.
Vor der Unterkunft am Glambecker Ring in Marzahn versammeln sich schon am Nachmittag des 9. September 2015 einige Dutzend Personen rund um den Neonazi René Uttke zu einer Kundgebung. Auf einem Transparent ist in großen Lettern zu lesen: „Wegducken ist nicht. Stoppt mit uns den Genozid am deutschen Volk.“ In der Unterkunft helfen etliche Unterstützer dabei, die Ankunft der Geflüchteten vorzubereiten. Als drei von ihnen, davon zwei noch minderjährig, an diesem Abend gegen 21:30 Uhr die Unterkunft verlassen, werden sie von einer Gruppe Neonazis verfolgt und bedroht. Nun, zwei Jahre später, steht ein lokaler Neonazi deswegen vor Gericht. Er habe den Betroffenen mit einer Handbewegung den „Tod durch Erschießen“ angedroht. Für Engagierte aus dem Bezirk ist Patrick Krüger kein Unbekannter. Als im Herbst 2014 in Marzahn bis zu tausend Neonazis, Hooligans und politisch unorganisierte Anwohner gegen die Unterbringung von Geflüchteten auf die Straße gingen, war der heute 41-jährige Krüger stellvertretender Landesvorsitzender der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“ und einer der zentralen Akteure gegen die Aufnahme von Geflüchteten im Bezirk. Auch vor Gericht macht Krüger aus seinen politischen Ansichten keinen Hehl. Auf seinem in schwarz, weiß, rot gehaltenen T-Shirt prangt vorne der Slogan „Ein System, das Zeichen und Worte verbietet, ist eine Diktatur“ und „Der Freiheitskampf ist national“. Eine Faust zerschlägt die Paragraphen 130 (Volksverhetzung) und 86a (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen). Krüger ist der einzige Angeklagte. Weitere Teilnehmer der Neonazikundgebung, darunter auch der Anmelder Uttke, sind hingegen als Entlastungszeugen geladen.
Während der Angeklagte am ersten Verhandlungstag am 7. August schweigt, gibt sich ein weiterer Teilnehmer der neonazistischen Kundgebung von jenem Nachmittag im Zeugenstand äußerst wortkarg. Er habe Krüger, den er vom Wandern kenne, an diesem Tag zufällig vor der Unterkunft getroffen. Sie hätten nicht gewusst, dass die Unterkunft an diesem Tag bezogen würde. Auf die Nachfrage des Richters, wie er dazu stehe, dass dort Flüchtlinge einzogen, äußert der Zeuge: „Das möchte ich jetzt nicht kommentieren.“ Der Richter hakt nach. „Neutral“, lautet schließlich die wenig glaubwürdige Antwort. Dass der Zeuge am gleichen Tag an der Kundgebung gegen die Unterkunft teilgenommen hat, kommt nicht zur Sprache.
Die drei, die von der Neonazigruppe verfolgt wurden, schildern die Ereignisse vor Gericht so: Auf dem Nachhauseweg hätten sie eine johlende Gruppe von sechs bis sieben Männern hinter sich bemerkt. Darunter habe sich neben Krüger auch der Anmelder der Kundgebung vom Nachmittag, René Uttke, befunden. Die Verfolger hätten ihr Tempo bedrohlich beschleunigt, mehrere sich ihre Pullover vor‘s Gesicht gezogen. Die drei hätten ebenfalls beschleunigt. Letztlich seien sie gerannt. Als sie mit der Polizei telefonierten, seien die zwei Frauen aus der Gruppe umstellt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei ein Bus mit Flüchtlingen an der Kreuzung erschienen. Die Verfolger um Krüger hätten daraufhin von der Gruppe abgelassen und den Bus unter „Scheiß Ausländer“-Rufen mit Flaschen beworfen. Die drei seien indessen in ein Wohnhaus geflüchtet. Als Krüger die drei im Hausflur nach dem Angriff auf den Bus bemerkte habe, habe er vor der gläsernen Tür eine Geste gemacht, als würde er die Kehle durchschneiden. Daran anschließend habe er mit der Hand auf die Gruppe gezielt, wie mit einer Pistole. „Ich dachte, er will uns erschießen“, erinnert sich eine der Betroffenen vor Gericht. Dann seien die Angreifer abgezogen.
Sowohl der Richter als auch der Rechtsanwalt des Angeklagten zeigen sich während der Schilderungen irritiert, da aus den bisherigen Unterlagen kein Angriff auf einen Bus hervorgeht. Immer wieder kommen sie in ihren Fragen darauf zurück. Warum haben die Zeugen den Angriff auf den Bus im Gespräch mit der Polizei unmittelbar nach der Situation verschwiegen? Das wäre ja schon ein schwerwiegender Vorfall. Insbesondere die Verteidigung Krügers bohrt nach: „Haben Sie in der Zeitung gelesen, dass ein Bus mit Flüchtlingen angegriffen worden sein soll?“ Die unterschwellige Unterstellung, die Geschichte sei erfunden, schwingt allzu deutlich mit. Alle drei erklären, dass sie nicht gewollt hätten, dass es zum Prozess kommt, um die Situation, hier vor Gericht aussagen zu müssen, zu vermeiden. Ihre Aussage an dem Abend sei deswegen nur wenig detailliert gewesen. Aus dem gleichen Grund hätten sie auch keine Anzeige erstattet. Aus Angst. Bis heute. Der Rechtsanwalt des Angeklagten hakt nach: „Warum haben sie solche Angst vor Krüger?“ „Weil ich Angst habe“, kommt als prompte Antwort.
Es ist nicht der einzige Vorfall rund um den 9. September. Erst in der Nacht zuvor hatten Unbekannte eine brennende Fackel auf das Gelände der Flüchtlingsunterkunft am Glambecker Ring geworfen. Am 13. September versuchte sich eine Gruppe mitten in der Nacht Zugang zur Unterkunft zu verschaffen. Aus der Gruppe heraus wurde eine Flasche in Richtung des Sicherheitspersonals geworfen.[1] Bereits Anfang Juli 2015 fanden Engagierte der Initiative „Hellersdorf hilft“ vor ihren Räumlichkeiten, dem LaLoka, fünf scharfe Patronenhülsen. Wenige Tage zuvor hatte René Uttke am Rande einer Kundgebung mit seinen Fingern symbolische Pistolenschüsse auf Vertreter der Initiative abgegeben. Im Prozess spielt diese Gesamtsituation in jenen Tagen jedoch keine Rolle. Angst lässt sich nicht rationalisieren. Die Aussagen der Betroffenen sind eindrucksvolle Beispiele dafür, wie die neonazistische Stimmungsmache zu dieser Zeit die Situation von Geflüchteten und ihren Unterstützern geprägt hat und teilweise auch noch bis heute prägt. Hört man sich im Bezirk um, zum Beispiel beim Antirassistischen Register der Alice-Salomon-Hochschule, heißt es, es habe noch weitere Vorfälle gegeben, auch Vorfälle, bei denen Neonazis Personen mit Waffen bedrohten. Angezeigt wurde allerdings kaum etwas. „Die Angst, selbst in den Fokus der Neonazis zu geraten, ist zu groß, die öffentliche Aufmerksamkeit und der juristische Verfolgungsdruck zu gering“, sagt Elyas Maron von der Registerstelle.
Mittlerweile ist die Unterkunft geschlossen. Nach der Schließung wurde das Gebäude erneut beschädigt. Anwohner machen Neonazis dafür verantwortlich, die eine Neubelegung dadurch verhindern wollten. Der Prozess wird in der kommenden Woche mit der Anhörung von fünf weiteren Entlastungszeugen fortgesetzt.
[1]Die Vorfälle sind entnommen: www.berliner-register.de bzw. Abgeordnetenhaus Berlin, Schriftliche Anfrage von Hakan Tas vom 19.August 2016, „Politisch motivierte Gewalt von rechts und ihre Dokumentation im Jahr 2015“ Drucksache 17/19004