Rassismus tötet in Berlin – Rechte Gewalt wächst weiterhin

Das Risiko in Kauf nehmend, dass sich Superlative abnutzen: Insgesamt haben wir im vergangenen Jahr 2016 erneut einen Anstieg rechter Gewalt von 320 auf 380 Angriffe verzeichnet. Wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielt ein Tötungsdelikt: Am Morgen des 17. September 2016 wurde ein 34-jähriger Mann in einem Supermarkt im S-Bahnhof Lichtenberg von dem Filialleiter aus rassistischer und sozialdarwinistischer Motivation geschlagen. Der 34-Jährige starb drei Tage später an den Folgen des Angriffs.

 
Unbekannte haben Plakate an Tatorten rassistischer oder rechter Gewalt in Treptow-Köpenick angebracht, unter anderem in Berlin-Schöneweide. © Theo Schneider

Wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres den Prozess beobachtet: Was war aus der Perspektive des Gerichts und der Zeug_innen passiert? Am Morgen des 17. September 2016 wurde Eugeniu B. beim Stehlen in einer Edeka-Filiale in Berlin-Lichtenberg vom Geschäftsführer beobachtet. Anstatt die Polizei zu verständigen und Anzeige zu erstatten, brachte er Eugeniu B. in einen verschlossenen Raum des Supermarkts. Hier lagen die Quarzsandhandschuhe des Filialleiters griffbereit. Er zog sie an und prügelte mehrmals auf den wehrlosen Eugeniu B. ein, bevor er ihn trat und aus einer Hintertür in den Hof stieß. Der Filialleiter dokumentierte seine Tat und schickte die Aufnahme über soziale Medien an die Mitarbeiter_innen. Dabei kommentierte er die Tat mit rassistischen Bemerkungen.

Eugeniu B. besuchte nach dem Vorfall seine Familie. Den Weinbrand, den er versucht hatte zu stehlen, wollte er als Geschenk mitbringen. Seiner Cousine erzählte er, dass er „wie ein Hund“ zusammengeschlagen worden war und es ihm schlecht ginge. Seine Familienangehörigen rieten ihm, zum Arzt zu gehen. Doch Eugeniu B. musste warten, bis ein Arzt, der ihn ohne Versichertenkarte behandelt, Sprechstunde hatte. Ein oder zwei Tage später besuchte Eugeniu B. einen Freund. Hier klagte er über schwere Kopfschmerzen und konnte die Nacht über nicht schlafen. Als der Freund einen Notarzt rufen wollte, verließ Eugeniu B. dessen Wohnung. Wahrscheinlich am darauf folgenden Tag ging Eugeniu B. zum Arzt, der ihn sofort ins Krankenhaus einwies. Hier starb er kurze Zeit später an einer Hirnblutung.

ReachOut hatte von der Tat aus Medienberichten erfahren und dazu recherchiert. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine Hinweise auf Angehörige von Eugeniu B. gab und auch niemand Kontakt zu uns aufgenommen hatte, konnten wir zunächst nur die Berichterstattung verfolgen. Im Januar 2017 erreichte ReachOut die Nachricht, dass polizeiliche Ermittlungen gegen den Leiter der Edeka-Filiale aufgenommen worden seien und ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden würde. Als Nebenklägerin sollte die Witwe von Eugeniu B. am Prozess teilnehmen. Wir recherchierten die Prozessdaten und konnten das Verfahren beobachten. Gleichzeitig nahmen wir Kontakt mit einer Angehörigen und dem Nebenklagevertreter auf, um unsere Unterstützung anzubieten.

Während der gesamten Verhandlung wurden die rassistischen und sozialdarwinistischen Einstellungen des Angeklagten und einiger Zeug_innen offensichtlich.  Allen Prozessbeobachter_innen wurde klar, dass es ähnliche Taten schon mehrfach gegeben hatte. So benutzte der Filialleiter laut Zeug_innenaussagen seine Quarzsandhandschuhe regelmäßig gegen „Diebe“, jedoch nur gegen jene, die er als „Ausländer“ erkannte. Diese waren meistens obdachlos. Es war die Regel, sie in einen Lagerraum zu bringen, dort zu schlagen und dies  zu filmen. Fast alle Zeug_innen haben die Brutalität gegen Eugeniu B. bestätigt. Der Filialleiter selbst räumte jedoch nur einen Schlag ins Gesicht ein. Er sagte, er habe ihm eine Lektion erteilen wollen. Die Staatsanwaltschaft kündigte in diesem Zusammenhang an, auch gegen jene Mitarbeiter_innen des Supermarkts Strafverfahren einzuleiten, die bei der Tat zugeschaut oder geholfen hatten.

Im Gerichtssaal ging es um die Frage, ob die Schläge des Filialleiters zum Tod des jungen Mannes aus Moldawien geführt hatten. Insbesondere die Verteidigung des Angeklagten mutmaßte, es sei nicht auszuschließen, dass Eugeniu B. nach dem Verlassen des Supermarkts ein weiteres Mal verprügelt worden und daran verstorben sei. Sie forderte deshalb für ihren Mandanten eine Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung. Dem widersprach der Staatsanwalt. Er beurteilte die Schläge als menschenverachtende Tat und betonte die „fremdenfeindlichen“ Kommentare zu den Aufnahmen. Gleichzeitig berücksichtigte er bei der Bemessung des Strafmaßes, dass keine Vorstrafen vorlagen. Er forderte eine Verurteilung zu vier Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Die Nebenklagevertretung wiederum forderte eine 7-jährige Haftstrafe für den Angeklagten und hob dessen Menschenverachtung und „Ausländerfeindlichkeit“ hervor, die zu der Tat geführt hätten.

Das Gericht sprach den Angeklagten am 27. März 2017 der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig und verurteilte ihn zu 3 Jahren und 3 Monaten Haft. In der mündlichen Urteilsbegründung verwies der vorsitzende Richter auf die Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und den Zynismus, die der Angeklagte bei der Tatausübung gezeigt habe. Auch war das Gericht davon überzeugt, dass mindestens ein Schlag des Filialleiters mitursächlich für den Tod von Eugeniu B. war. Der Angeklagte hat Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Weder das Gericht noch die Nebenklagevertretung thematisierten den gesellschaftlichen Rassismus und Sozialdarwinismus, in dessen Kontext die Tat möglich wurde. Durch die begriffliche Kennzeichnung der Tat als „ausländerfeindlich“ und „menschenverachtend“ wurde das Geschehen vor Gericht individualisiert und auf individuelle Einstellungen der Tatbeteiligten reduziert.

Der Tod von Eugeniu B. hätte die öffentliche Verurteilung und entschiedene Proteste gegen solche rassistischen und sozialdarwinistischen Taten zur Folge haben müssen. Aber sowohl die Justiz als auch die Medien beharren auf einer Individualisierung der Tatmotive und leugnen den gesellschaftlichen Zusammenhang und ihre Akzeptanz. Einmal mehr zeigt sich, dass Wohnungslose keine Lobby haben.[1]

Die Taten

Seitdem wir Gewalttaten und massive Bedrohungen dokumentieren, die aus extrem rechten, rassistischen und antisemitischen Gründen verübt werden, erfuhren wir noch nie zuvor von so vielen Taten. Rassismus steigt weiterhin an und bleibt das häufigste Tatmotiv. Insgesamt wurden bei 380 Taten 553 Personen verletzt und bedroht, darunter 45 Kinder unter 14 Jahren. Zum Vergleich: Für das Jahr 2015 wurden insgesamt 320 Gewalttaten und massive Bedrohungen von uns dokumentiert. Davon betroffen waren insgesamt 412 Personen. Tendenz 2017: Die Situation hat sich im ersten Halbjahr vielleicht etwas entspannt. Aber auch das denken wir jedes Jahr, bevor wir eines Besseren belehrt werden. Die meisten der Betroffenen erlitten physische Verletzungen. Vor allem angestiegen sind die gefährlichen Körperverletzungen mit 134 (2015: 96) Straftaten. Nötigungen und Bedrohungen haben wir 66 (2015: 62) mal registriert.

Die Motive

Nach unseren Erkenntnissen ist Rassismus seit Jahren das häufigste Tatmotiv. In 233 (2015: 175) Fällen wurden deswegen Menschen gejagt, gedemütigt, bedroht und verletzt. Die Angriffe, die im Zusammenhang mit rassistischen Protesten gegen geflüchtete Menschen und deren Unterkünfte gesehen werden müssen, setzten sich weiter fort. Politische Gegner_innen, vor allem Antifaschist_innen und Unterstützer_innen von Geflüchteten, wurden 32 mal (2015: 59) attackiert. Der Rückgang dieser Angriffe lässt sich damit erklären, dass insgesamt weniger rechte Aufmärsche und Kundgebungen stattgefunden haben. In diesem Zusammenhang wurden vor allem 2015 häufig Gegendemonstrant_innen und Journalist_innen attackiert und bedroht. Gegen LGBTIs richteten sich 70 (2015: 43) Gewalttaten. Die Gründe für diesen Anstieg lassen sich nur vermuten. Die LGBTI-feindlichen Angriffe geschehen häufig nachts, vorwiegend in Kreuzberg, Neukölln, Mitte und Tiergarten. Es sind also die innerstädtischen Stadtteile, in denen es Treffpunkte und Partymöglichkeiten gibt und die Betroffenen davon ausgehen, dass sie sich frei und offen bewegen können. 31 Angriffe (2015: 25) waren antisemitisch motiviert.

Die Orte

Im öffentlichen Raum fanden 135 Angriffe statt (2015: 120). Als „öffentlichen Raum“ bezeichnen wir jene Orte, die sich nicht im unmittelbaren Wohnumfeld oder im Umfeld von Geflüchtetenunterkünften befinden. Insgesamt 87 (2015: 65) Gewalttaten wurden in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Bahnhöfen und Haltestellen verübt. Dadurch kann die Mobilität der Betroffenen erheblich eingeschränkt werden. Denn häufig nehmen die Opfer aus Furcht vor weiteren Angriffen lange Umwege in Kauf. Die meisten Gewalttaten finden also in aller Öffentlichkeit, häufig beobachtet von unbeteiligten Passant_innen, statt. Aus diesem Grund klären wir in Veranstaltungen und Workshops darüber auf, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, um die Opfer zu unterstützen, ohne sich selbst dabei in Gefahr zu bringen.

Eine deutliche Zunahme auf 38 Taten (2015: 16) stellen wir im unmittelbaren Wohnumfeld fest. Wird sogar die Privatsphäre zu einem angstbesetzten Ort, der nicht gemieden werden kann, hat das schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen zur Folge. Die psychische Verarbeitung des Angriffs bzw. der massiven Bedrohung wird durch die allgegenwärtige Gefahr der Wiederholung und einer möglichen räumlichen Nähe zu den Täter_innen massiv behindert. Wenn die Betroffenen keinen Wohnungswechsel vornehmen können oder wollen, stehen ihnen langwierige und zermürbende Auseinandersetzungen mit Hausverwaltungen und den Täter_innen bevor, die tatsächlich wiederholte Angriffe zur Folge haben können. Vor allem betroffen von Angriffen im Wohnumfeld sind Opfer von Rassismus und Personen, die als politische Gegner_innen ausgespäht und deren Wohnadressen in den Fokus von Neonazis geraten. Allein in Neukölln fanden 13 solcher Attacken in 2016 statt, diese setzen sich auch 2017 weiter fort.

Im Umfeld von Geflüchtetenunterkünften geschahen 41 (2015: 43) Angriffe. Sie bleiben auf einem hohen Niveau. So kam es im letzten Jahr zu Anschlägen, Gewalttaten und Bedrohungen auf immer wieder die gleichen Unterkünfte und deren Bewohner_innen. Dazu zählt auch die Unterkunft am Glambecker Ring in Marzahn.

Die Berliner Stadtteile

Im Bezirk Mitte (mit den Stadtteilen Mitte: 27, Tiergarten: 27 und Wedding: 14) fanden insgesamt 68 (2015: 60) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt. Davon sind 33 der Gewalttaten rassistisch motiviert. Außerdem wurden in 21 Fällen Personen aus LGBTI-feindlichen Gründen attackiert. In Neukölln verzeichnete ReachOut 38 Angriffe. Weitere Angriffsschwerpunkte liegen in Marzahn (32), Kreuzberg (24) und Lichtenberg (20).

In den meisten Stadtteilen überwiegen nach wie vor die rassistischen Angriffe. In Neukölln, Tiergarten und Kreuzberg ist die Motivlage dennoch sehr unterschiedlich. Die meisten LGBTI-feindlichen Gewalttaten werden in Tiergarten, Neukölln, Mitte und Kreuzberg verübt. Politische Gegner_innen werden vorwiegend in Neukölln angegriffen und massiv bedroht. Alle Fälle von Bedrohungen, die keinem Bezirk zuzuordnen sind, erhielten die Betroffenen über die sozialen Medien oder per E-Mail. In diesen Fällen war das Motiv immer Antisemitismus.

Im Fokus: Neukölln

Die Zahl der Angriffe in Neukölln hat sich im Vergleich zu 2015 verdoppelt. Unter den 38 Taten, die wir dokumentiert haben, sind auch die massiven Bedrohungen, die eingeworfenen Scheiben und brennenden Autos, die sich gegen Personen richten, die sich gegen Rechtsextremismus und für Geflüchtete engagieren. Dass in Neukölln, auch im Norden des Bezirkes, Antifaschist_innen, deren Treffpunkte und Wohnungen ausgespäht und angegriffen wurden, kam in den vergangenen Jahren wiederholt vor. Erinnert sei an die Brandanschläge auf das Anton-Schmaus-Haus, Angriffe gegen deren Besucher_innen und Mitarbeiter_innen, auf Parteibüros und auf eine Familie in der Hufeisensiedlung. Die Art und Weise dieser Angriffe weist darauf hin, dass es sich bei den Täter_innen um organisierte Neonazis handeln könnte. Um die Betroffenen zu erreichen, haben wir unsere Aktivitäten im Bezirk wieder verstärkt und stehen mit den Initiativen und Bündnissen in engem Kontakt. Sowohl der Mord an Burak Bektaş im Jahr 2012 als auch die Serien von Brandanschlägen auf linke Projekte und Häuser im Jahr 2011 und auch die, die im vergangenen und in diesem Jahr auf Wohnhäuser und Autos von Aktivist_innen in Neukölln verübt wurde, bleiben ungeklärt.

Und die Ermittlungsbehörden?

Aus dem Kurzüberblick zur politisch motivierten Kriminalität des LKA in Berlin 2016 geht hervor, dass auch die Ermittlungsbehörden einen Zuwachs der Gewaltdelikte im Phänomenbereich PMK – rechts verzeichnen. Die offizielle Zahl stieg von 143 auf 158 Fälle an, dabei handelte es sich in 133 Fällen um Körperverletzungen. Während ReachOut für die Angriffszahlen einen Anstieg von 20 Prozent verzeichnet, registriert das LKA 10 Prozent mehr Gewaltdelikte für 2016. Ein unabhängiges Monitoring bleibt wohl auch in Zukunft unverzichtbar.

Bleiberecht für alle!

Wir wissen, dass sich die politischen Diskurse und die gewalttätigen Angriffe gegenseitig bedingen. Je schärfer der Ton gegenüber den Geflüchteten, je rigider die Abschiebepraxis, je größer die Ignoranz gegen den Rassismus, der täglich überall und meistens unwidersprochen präsent ist, desto mehr fühlen sich die Schläger_innen in ihrem Handeln bestätigt. Schließlich geht es in den Parlamenten und auf der Straße um das Gleiche: Vertreibung, Abschiebung, Ausgrenzung, rassistische Rhetorik, Ignoranz.

Nicht die Lösung, aber doch zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung wäre es,  eine Bleiberechtsregelung für alle Opfer rechter, rassistisch motivierter Gewalt zu formulieren, die den Namen auch verdient: Ohne wenn und aber und ohne ein absurdes Misstrauen gegenüber den Opfern. Diese, so die Befürchtung vieler politisch Verantwortlicher, könnten sich einen gesicherten Aufenthalt erschwindeln, in dem sie eine Gewalttat vortäuschten oder gar provozierten! Die Berliner Weisung, die nun seit 1. Juli in Kraft ist und den Betroffenen rechter, rassistischer Gewalt ein Bleiberecht in Aussicht stellen soll, benennt gleich zu Beginn die Ausschlusskriterien. Wer tatsächlich unter diese Regelung fallen könnte, entscheidet allein die Ausländerbehörde. Ob die Folgen einer Tat für die Opfer schwer genug sind, um unter die Regelung zu fallen, entscheiden ausschließlich Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft. Der ernsthafte Wille, den Täter_innen zu signalisieren, dass ihre Strategie der Vertreibung nicht funktioniert, sollte anders aussehen.  Stattdessen scheint es so, als würden die politisch Verantwortlichen in der Innenverwaltung zwar Betroffenheit und formalistische Scheinlösungen, aber keine konsequenten Gegenstrategien präsentieren. Der Verweis auf die gute Arbeit der Projekte und der sogenannten Zivilgesellschaft ist nicht genug.

Institutionellen Rassismus benennen!

Es ist unerträglich und nicht hinnehmbar, dass Geflüchtete sich davor fürchten müssen ihre Unterkünfte zu verlassen und dass Leute, die ihre Nachbar_innen aus rassistischen, antisemitischen, homophoben Gründen schikanieren und bedrohen, nicht mit einer fristlosen Kündigung durch die Hausverwaltung rechnen müssen. Es ist skandalös, dass ein Filialleiter eines Supermarktes, der seit langem bekannt dafür ist, dass er Menschen, die nicht in sein rassistisches Weltbild passen, brutal verprügelt, die Quarzhandschuhe für alle Angestellten sichtbar bereit liegen hat und unwidersprochen und offen agieren kann. Es ist unglaublich und macht uns wütend, dass ein Mann, der mit seiner Familie in einer Geflüchtetenunterkunft lebte, sowohl die Behörde als auch die Heimleitung mehrmals erfolglos darum bat, mit seiner Familie in ein Zimmer im Erdgeschoss umziehen zu dürfen, weil die Ehefrau psychisch krank und suizidgefährdet ist. Niemand hilft, niemand hört zu, ein anderes Zimmer wird nicht bereitgestellt. Die Frau stürzt sich am 25. Mai 2016 aus dem Fenster und stirbt. Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Am 27. September 2016 wurde Hussam Fadl, mit seiner Familie aus dem Irak geflüchtet, bei einem Polizeieinsatz auf dem Gelände einer Flüchtlingsunterkunft von hinten erschossen. Die Aussagen der Polizeibeamt_innen vor Ort sind widersprüchlich. Es ist unfassbar, dass das Ermittlungsverfahren gegen die verantwortlichen Polizisten Ende Mai 2017 mit dem Verweis auf Notwehr von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Dies kommt einem Freispruch der Polizisten gleich, die gezielt und von hinten auf Hussam Fadl geschossen haben.

Dies alles geschieht in Berlin sechs Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU. Die Bedeutung von strukturellem und institutionellem Rassismus wird nach wie vor geleugnet oder doch zumindest nicht thematisiert. Ganz zu schweigen davon, dass es in Berlin bis heute keinen NSU-Untersuchungsausschuss gibt und das, obwohl die Verbindungen und die Verstrickungen der Berliner Sicherheitsbehörden offensichtlich sind. Es bleibt also viel zu tun. Unsere einzige Chance bleibt es, zu skandalisieren, weiter unbequem, fordernd, und laut zu sein – unabhängig von Regierungskoalitionen und nicht nur wegen der höchsten Angriffszahlen seit 2001.

  1.  Quellen zur Chronikmeldung von ReachOut und dem Prozessbericht: Eigene Prozessbeobachtung und Polizei Berlin vom 29.09.2016/ Berliner Zeitung vom 29.09.2016/ spiegel.de vom 02.03.2017/ http://www.berliner-kurier.de/26263374/ https://www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2017/03/supermarkt-berlin-misshandlung-prozess-obdachloser.html
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