Jüdisches Leben als Teil der Diversität, aber auch die Diversität jüdischen Lebens selbst
Berlin ist seit jeher eine Stadt der Vielfalt. Der Gendarmenmarkt etwa ist eine Architektur für Migranten und Migrantinnen. Diese gebaute Diversität entstand für die französisch-reformierte Gemeinde, die im 18. Jahrhundert nach Berlin kam. Die Internationalität zieht sich durch die gesamte Architektur der Innenstadt: Die im 19. Jahrhundert errichtete Neue Synagoge in der Oranienburger Straße wurde im orientalisierenden Stil errichtet, die Museumsinsel mit der Alten Nationalgalerie soll an die griechische Antike erinnern, am Columbiadamm entstand die erste muslimische Begräbnisstätte Deutschlands, wo heute die im osmanischen Stil errichtete Sehitlik-Moschee steht.
Die lebendige Stadt war seither international und Jüdinnen und Juden prägten die Vielfalt Berlins über Jahrhunderte: Von den kinderreichen Frommen, den Chassidim, die oft aus den östlichen Teilen Europas nach Berlin kamen, denjenigen, die den Gottesdienst des Reformrabbiners Joachim Prinz im wohlhabenden Westen der Stadt besuchten oder den assimilierten, den armen und den reichen, den bekannten und unbekannten Jüdinnen und Juden und allen, die sich irgendwo dazwischen verorten würden. Ihnen allen bot Berlin eine Heimat.
Die lebendige Stadt war seither international und Jüdinnen und Juden prägten die Vielfalt Berlins über Jahrhunderte
Dieser Alltag, diese lebendige Realität, wurde mit der Shoah zerstört: Von den Geflohenen kehrten nur wenige Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg nach Berlin zurück, noch weniger konnten in der Stadt überleben. Die meisten waren ermordet worden. Heute ist Berlin Heimat der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland, möglich vor allem durch die noch von der DDR angeregten Kontingente für jüdische Zuwanderung aus der Sowjetunion. Zehntausende konnten so in den 1990er Jahren nach Deutschland kommen und viele jüdische Gemeinden vor ihrem demographischen Ende bewahren. In den letzten zehn Jahren entwickelte sich Berlin zu einer globalen Stadt, die Kreative aus aller Welt verband und anzog – und damit auch viele Israelis nach Berlin brachte. Wenn man heute an einem Schabbat dutzende orthodoxer Jüdinnen und Juden zum Gottesdienst eilen sieht, ist das ebenso Teil der neuen Realität, wie interreligiöse christlich-jüdische Hochzeiten schwuler Deutscher und Israelis.
Die Vielfalt aber, die heute eine andere ist als damals, wird wieder bedroht. Rassismus, Hass und Intoleranz sind Teil der Lebenswirklichkeit für viele Menschen in Berlin, darunter auch für Jüdinnen und Juden. Diese Vielfalt jüdischen Lebens, so wie ihre Zerstörung während der Shoah ist heute wenig bekannt. Oft wird Judentum über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg nur begrenzt wahrgenommen: historisiert im Schulunterricht oder Museum, als moralische Instanzen, verkörpert durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Shoah, als jüdischer Staat im Konflikt, als Institution, die polizeilich gesichert wenig einladend im Stadtbild Berlins präsent ist.
So wurden auch im Jubiläums- und Gedenkjahr 2015 viel zu selten die Diversität der Gesellschaft, die vielfältigen Bezüge zu diesen Ereignissen und die unterschiedlichen Formen des Umgangs damit thematisiert. Das öffentliche Bekenntnis gegen Antisemitismus, für den Staat Israel, die Bedeutung der deutsch-israelischen Beziehungen und einer lebendigen Erinnerungskultur, wie im Gedenk- und Jubiläumsjahr 2015 geschehen, steht oft weiterhin – vielleicht auch zunehmend – im Widerspruch zu gesellschaftlichen Einstellungen. Rund 20 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben – und zwar über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg – haben antijüdische Ressentiments und antisemitische Einstellungen, wie beispielsweise Studien des Bundesinnenministeriums belegen. Insbesondere bei sekundärem Antisemitismus, der sich in Deutschland nach 1945 als Schuldabwehr herausbildete, sowie beim israelbezogenem Antisemitismus liegt die Zustimmung bei teilweise über 50 Prozent; antisemitische Straftaten sind 2014 um 25% gestiegen. Dabei konnte bisher nicht nachgewiesen werden, dass Antisemitismus oder die Ablehnung offizieller erinnerungskultureller Praktiken in Deutschland besonders ein Problem bei Menschen mit familiärem oder eigenem Migrationshintergrund ist. Ein Widerspruch zwischen staatlichem Anspruch und gesellschaftlicher Anerkennung kann, ja muss in einer zivilisierten, demokratischen und Menschenrechte achtenden Gesellschaft bestehen, wenn Antisemitismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder aufarbeitungskritische Einstellungen vertreten sind. 70 Jahre nach der Befreiung und 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland müssen wir uns aber mehr denn je die Frage stellen, wie diese beiden die kollektive Identität Deutschlands prägenden Ereignisse einer immer vielfältigeren Gesellschaft bewusst gemacht werden können und die daraus resultierenden Erkenntnisse mitgetragen werden.
Biographische Bezüge herstellen
Die biographischen Bezüge der jüngeren Generationen zur kollektiven Identität stiftenden Vergangenheit fehlen zunehmend: der zeitliche Abstand ist die eine Dimension, eine andere die von Diversität geprägte Gesellschaft mit ihren vielfältigen Geschichts- und Gesellschaftsbezügen. Diese zunehmende Distanz spiegelt sich in dem Bild Deutscher zu Israel wider, das kritischer und ablehnender wird, aber auch zu Juden und Judentum, das von viel Unwissenheit geprägt ist. Die Herausforderung liegt also darin, neue Brücken zu bauen, die den Bezug zur historischen Verantwortung nicht verlieren, die aber auch andere Wege zulassen. So kann die Shoah zwar nicht aus ihrem historischen Kontext gelöst, aber die Lehren aus dieser Vergangenheit durchaus universalisiert werden, wie es auch Überlebende der Shoah in ihrem Vermächtnis 2009 forderten, das über das internationales Auschwitz-Komitee, unter dem Titel „Vermächtnis der Überlebenden: Erinnerung bewahren, authentische Orte erhalten, Verantwortung übernehmen“ veröffentlicht wurde.
Bilder prägen Urteile und Vorurteile. Insbesondere dem Bildungsbereich kommt eine besondere Verantwortung zu wenn es gilt, den jüngeren Generationen Wissen über Judentum, Israel, die Shoah oder Zionismus so facettenreich wie möglich darzustellen und in die historischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge einzubetten. Die Ergebnisse der deutsch-israelischen Schulbuchkommission zeigen deutlich: der Eindruck, den viele deutsche Schüler und Schülerinnen von Israel aus dem Unterricht bekommen, darf nicht der letzte bleiben, denn er forciert zumeist den Nahostkonflikt, wie etwa der Artikel „In schlechtem Licht“ in der jüdischen allgemeinen vom 25. Juni 2015 analysiert.
Antisemitismus ist ein Glaubens- und Wertemodell und nicht nur ein Vorurteil. Eine nachhaltige Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus erfordert dementsprechend eine informierte, kritische und den demokratischen Grundwerten verpflichtete Öffentlichkeit in allen gesellschaftlichen Teilen dieses Landes. Anders geprägte biographische Bezüge zur deutschen Geschichte erfordern ein Umdenken in der historischpolitischen Bildung, weg von der reinen Faktenvermittlung, hin zu emotionalen Anknüpfungspunkten, die es Jugendlichen ermöglichen, das vergangene Geschehen in ihre Gegenwart einzuordnen. „Was hat das mit mir zu tun?“ und „Welche Haltung entwickle ich aus der Geschichte?“ sind Fragen, die viel stärker eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung anstoßen, wenn die individuellen Biographien anerkannt und gewürdigt, die eigenen Diskriminierungserfahrungen einbezogen und in einen Wertediskurs eingebettet werden. Die Berücksichtigung verschiedener Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit stärkt das Bewusstsein für die Bedeutung gesellschaftlicher Vielfalt und gemeinsamer demokratischer Werte und sensibilisiert für die Herausforderungen im Zusammenhang mit Antisemitismus – die Auseinandersetzung mit den Schicksalen anderer erfordert die Anerkennung der eigenen Geschichte.
Die Arbeit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) entwickelt seit 2003 Methoden und Ansätze für die politisch-historische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass ein sensibler Umgang mit individuellen oder familienbiographischen Erfahrungen bei Jugendlichen nicht nur wichtig für die pädagogische Arbeit ist, sondern die Beschäftigung mit Antisemitismus, Israel oder der Shoah anregt. Auch die Einbeziehung jugendlicher Pädagogen und Pädagoginnen, wie von der KIgA seit einigen Jahren im Rahmen der Peer-Education erprobt, zeigt positive Wirkung.
Dieser biographische Ansatz stellt emotionale Anknüpfungspunkte her, die eine Verbindung ermöglichen zwischen den individuellen und familienbiographischen Lebenserfahrungen, die nicht selten geprägt sind von Erfahrungen der Flucht und des Ankommens, den Herausforderungen der Integration, der Adaption und Transformation von Identitäten und Lebensvorstellungen einerseits und den vergangenen und gegenwärtigen Schicksalen von Jüdinnen und Juden andererseits.
Seit 2015 hat sich die kiga zu einem bundesweit und international arbeitenden Bildungsträger entwickelt, der pädagogische Konzepte der politisch-historischen Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft, für Geflüchtete und für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren weiterentwickelt und damit die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus insbesondere in migrantisch und/oder muslimisch geprägten Milieus fördert.
Eine Ausstellung zur Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin, die seit 2015 entwickelt wird, will sich diesen Herausforderungen stellen. Die Vielfalt wird dabei nicht künstlich konstruiert. Vielmehr werden die lebensdynamischen Entwicklungen der Identitäten von Menschen berücksichtigt. Die Ausstellung, die dreisprachig auf Deutsch, Englisch und Arabisch zugänglich ist, wird Identifikationspunkte zwischen Betrachtenden und Porträtierten insbesondere über die Frage der Herkunft schaffen, um Identifikationspunkte zu entwickeln. Das aus der Herkunft resultierende Selbstverständnis der Porträtierten, wie etwa Religiösität, Beruf, Lebensalltag sind nachrangige, intime Einblicke, die sich aus diesem Gespräch ergeben. Dadurch wird verhindert, dass Vorstellungen projiziert werden, die in einer Ausstellung mit biographischem Fokus illegitim wären.
Die Vielfalt Berlins, die zu einem wesentlichen Teil von Jüdinnen und Juden geprägt wurde, in der Shoah zerstört und nach dem Krieg sich ganz anders wieder entwickelt hat, soll einer pluralen Gesellschaft vermittelt werden, die den Wert der Vielfältigkeit erkennt und fördert. Die Arbeit der kiga wird von der Hoffnung getragen, dass auch die jüngeren Menschen den Wert offizieller Erinnerungskultur oder der deutsch-israelischen Gegenwart erkennen und jeweils eigene Zugänge dazu entwickeln. Das Jahr 2015 hat gezeigt, dass hier noch große Lücken bestehen.
Lukas Welz leitet das Projekt „Berlin in Vielfalt. Jüdischem Leben begegnen – Vorurteile abbauen“ bei der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). KIgA entwickelt innovative Konzepte für die pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Seit 2003 werden modellhafte und lebensweltlich orientierte pädagogische Ansätze und Materialien für die politische Bildung erarbeitet und in die Praxis umgesetzt. Komplexe, sensible und politisch brisante Inhalte in den Bereichen Antisemitismus, Islam/Islamismus/antimuslimischer Rassismus und historisch-politische Bildung werden zum Thema gemacht. Eine spezifische Zielgruppe ist die Migrationsgesellschaft. Unsere Methoden und Workshops wenden wir bundesweit in Schulen und in der außerschulischen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene an. Qualifizierungsmaßnahmen für Multiplikatoren, Expertise und Beratung für den Bildungsbereich, für Politik und Gesellschaft, auch international, ergänzen die Programme.