Die Art, wie und worüber wir reden, ist maßgeblich davon beeinflusst, wer wir sind und woher wir kommen. Das politische Bewusstsein entwickelt sich nicht aus Versehen, sondern ist Folge einer Prägung. Wer sich niemals in der Situation einer Minderheit befunden hat, nie mit Menschen in Berührung kam, deren Lebensstil sich gravierend vom eigenen unterscheidet, für den bleibt das Leben der sogenannten Anderen immer etwas abstraktes.
Die Ungeheuerlichkeit des NSU
Gemeinsam mit anderen geduldigen Kollegen (unter anderem von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin und vom apabiz, dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum) verbrachte ich letztes Jahr viele Stunden auf der Tribüne des Bundestags und verfolgte den Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Mordserie des NSU. Ich wurde Zeuge wie im Thema Sicherheit äußerst kundige Parlamentarier aller im Bundestag vertretenen Parteien ihr Staunen, ihre Fassungslosigkeit (manchmal war es pures Entsetzen), über alltägliche Polizeiarbeit und Sicherheitsermittlungen in Deutschland kaum verbergen konnten. Ich erlebte Pressekollegen, die es nicht fassen konnten, mit welcher Nachlässigkeit und Ignoranz über ein Jahrzehnt hinweg, Judikative, Legislative und Exekutive unseres Landes dem Thema Rassismus begegneten und wir deshalb die Mörder bis zum heutigen Tag nicht eindeutig benennen können. Regierungen wechselten, Behördenchefs wurden ausgetauscht, zahlreiche SOKO-Ermittler, ganz gleich aus welchem Bundesland, waren zu keinem Zeitpunkt in der Lage ein so simples Phänomen wie Rassismus als Tatmotiv der Ceská-Mordserie in Erwägung zu ziehen. Die Ungeheuerlichkeit des NSU besteht keinesfalls darin, dass Rechtsradikale zu Mördern wurden, sondern darin, dass Opferangehörige Nazis als Täter stets in Betracht zogen. Zwischen denen, die Rassismus erleben und denen, die für Sicherheit sorgen, scheint es keine gemeinsame Sprache gegeben zu haben. Die bisherigen Erkenntnisse aus 2012 zeigen, dass Rechtsextreme deutschen Ermittlern näher standen und als weniger gefährlich eingestuft wurden, als deutsch-türkische und griechische Opferfamilien, die ausnahmslos alle als Täter gehandelt und wie solche behandelt wurden.
„Wo wart ihr, als ich euch brauchte?“
Dies scheint ein Grundproblem unserer Gesellschaft zu sein. Zwar hat diese Mordserie, aber verschiedentlich auch andere Formen des Rassismus, die Opfer in vielerlei Hinsicht beschädigt haben, Empathie ausgelöst, aber sie hat unsere Diskurse über den NSU im Speziellen und Rassismus im Allgemeinen bis heute nicht verändert. Kein Journalist der überregionalen Medien wagt zuzugeben: „Hätte ein Kollege mit Türkischkenntnissen auf meinem Platz gesessen, wäre er nur einmal in den vergangenen sieben Jahren zur Familie Yozgat gegangen oder zur Witwe Elif Kubasik, die nur bedingt deutsch sprechen, hätte ein dreiminütiges Interview geführt und es veröffentlicht unter der Schlagzeile, „Opfer vermuten Nazis hinter den Morden!“ Elif Kubasik hat Recht mit ihrem wütendem Vorwurf an die Presse: „Wo wart ihr, als ich euch brauchte?“ Die Frage, ob mehr Menschen mit Migrationshintergrund, verschiedenen Herkünften, unterschiedlichen Zweitsprachen in der Öffentlichkeit publizieren sollten, hat nicht nur mit Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu tun, sondern auch damit, dass mehr unterschiedliche Journalisten zu einem sensibleren, gebildeten, differenzierten, kurz: zu einem besseren Journalismus führt. Das gilt auch für Parlamente, das Justizwesen und vor allem für Polizisten. Rassismus kann nur geahndet werden, wenn er erkannt wird. Bloß die, die ihn erkennen, aus dem einfachen Grund, weil sie ihn kennen, sitzen nicht dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Ich sah, wie Politiker während des NSU-Ausschusses Zeuge von rassistisch geprägter Ermittlungsarbeit wurden und sich vor Erschütterung kaum beruhigten. Ich aber saß oben und dachte: Wo lebt ihr eigentlich?
Die „Romaberichterstatter“ der deutschsprachigen Presse
Die politischen Fronten verhärten sich. Zu meiner größten Enttäuschung auch in den Redaktionsstuben. Die Art, wie wir über rumänische und bulgarische Zuwanderer sprechen, sie als „Roma“ markieren und Kollegen in ihre Badezimmer gehen und schamlos Fotos ihrer Not mit Bildunterschriften wie Dreck und Unrat veröffentlichen, ist an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten. Ein politischer Journalismus, der Armut und Unterdrückung dieser Gruppe nicht als Ursache benennt und den Fokus auf die Politik legt, sondern sich damit begnügt Wohnhäuser zu besuchen und genüsslich Details des Elends zu beschreiben, ist ein Journalismus, der nur noch mit pathetischen Begriffen wie Schande markiert werden muss. Ich kenne keinen einzigen Kollegen, der rumänisch oder bulgarisch spricht, geschweige denn Romani. Die „Romaberichterstatter“ der deutschsprachigen Presse fahren herum und irgendwo findet sich immer irgendwer, der dilettantisch übersetzt. So lange bestimmte Bevölkerungsteile, über die polemisch und populistisch kommuniziert wird, die Berichterstattung mangels Sprachkenntnisse nicht kommentieren, korrigieren oder lauthals verurteilen können, so lange wird es keine seriöse Berichterstattung für diese Gruppen geben. Das Problem der publizierenden Öffentlichkeit: wer spricht, wer spricht für wen, wer spricht warum, ist eine Frage, die zur Rezeption eines jeden Textes gehört. So kennen wir jene Kollegen, bei denen wir die Haltung schon wissen, wenn wir nur ihre Namen lesen. Die öffentliche Stellungnahme eines Kollegen, der sich nur äußert, weil er „sich neulich sehr geärgert hat“ als er die Stellungnahme eines anderen Kollegen zu irgendeinem gesellschaftlichen Problem las, nimmt zu. Sie ist Teil des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Wir müssen lernen, aus den publizierten Meinungen Agitationsversuche heraus zu filtern. Das gilt auch für politische Organisationen und Initiativen, die sich die Aufgabe gestellt haben, Rassismus zu bekämpfen. Ein Text ist nicht dazu da, gegen etwas zu kämpfen, sondern allenfalls für etwas: für mehr Aufklärung, mehr Wahrheit, mehr Wissen.
Bitte lesen Sie, lesen Sie genau
Deshalb: Bitte lesen Sie, lesen Sie genau, lesen Sie zwischen den Zeilen, lesen Sie auch Texte, die wenig beleuchtete Perspektiven aufgreifen.
Herzlich willkommen zur 7. Ausgabe der Berliner Zustände, die auch bekannt ist unter dem schönen zweideutigen Begriff „Schattenbericht“.
Mely Kiyak arbeitet und lebt als Publizistin in Berlin.