Die „Schredder“-Affäre im Zusammenhang mit dem NSU hatte Berlins Innensenator Frank Henkel wochenlang zugesetzt. Vor dem Innenausschuss musste er nun zu Katastrophenmeldungen aus der letzten Woche Stellung nehmen – und darüber hinaus eine neue eingestehen. Seine „Wutrede“ mochte ihm die Opposition nicht so richtig abnehmen.
Sein Auftritt vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses am gestrigen Montag stand Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) mit Sicherheit bevor. Er sollte Stellung nehmen zu einer erneuten Peinlichkeit aus seinem Ressort im Zusammenhang mit dem NSU. Die Mitte vergangener Woche war bekannt geworden, dass das Landeskriminalamt (LKA) Berlin im Oktober 2012 einen unvollständigen Bericht über den V-Mann „VP 620“ an den Untersuchungsausschuss des Bundestages weitergegeben hatte. Die Durchsicht von insgesamt 80 Aktenordnern hatte sieben Treffer zu „VP 620“ ergeben. Durch einen „Kopierfehler“ waren jedoch nur zwei davon in ein entsprechendes Ergebnisdokument übertragen und schließlich übermittelt worden. Doch es kam an diesem Montag noch dicker für Frank Henkel. So musste er vor dem Innenausschuss zusätzliche Fehlleistung des Berliner LKA eingestehen. Bei der erneuten Aktendurchsicht am Wochenende war ein weiterer bisher noch nicht vermerkter Hinweis auf die Person Jan W. gefunden worden. Jan W. wird dem Unterstützungsumfeld des NSU zugerechnet, er sollte Waffen für Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos besorgen.
Henkels zweifelhafte „Wutrede“
Henkel war angesichts dieser beiden katastrophalen Meldungen um Schadensbegrenzung bemüht und versuchte es mit einem Schritt in die Offensive. Er übte scharfe Kritik an der Polizeiarbeit, deren Fehlleistungen ihn „fassungslos“ machen würden. Zwar räumte er ein, dass solche „Fehler“ passieren würden, betonte jedoch, dass diese durch nichts zu rechtfertigen seien. Er zeigte sich erbost und betonte, nicht nur menschlich und fachlich zutiefst enttäuscht zu sein. Auch sein Vertrauen in die Arbeit des Staatsschutz‘ sei „schwer erschüttert“. Henkel behauptete, dass auch der neue Fund zu Jan W. nur eine Randerkenntnis sei und nicht in direktem Zusammenhang mit den NSU-Morden zu sehen sei. Eine Erklärung, wie diese Beurteilung vor allem in der Kürze der Zeit zu begründen ist, blieb Henkel allerdings schuldig.
Berlins Polizeipräsident, Klaus Kandt, und der Leiter des Berliner LKA, Christian Steiof, ließen Henkels „Wutrede“, wie Udo Wolf (Die Linke) sie später bezeichnete, regungslos über sich ergehen. Henkel kündigt zudem an, konsequent und mit Nachdruck die Umstände aufklären zu wollen. Demnach sollen zeitnah alle VP-Akten „Rechts“ zusammengestellt und noch einmal von einer „Expertengruppe“ bestehend aus Polizei, Staatsschutz und Innenverwaltung intensiv und kritisch geprüft werden. Im Hinblick auf die vor allem seitens der Oppositionsparteien eingeforderte Transparenz kündigte Henkel an, den Innenausschuss wie auch die Öffentlichkeit schnell und umfassend über den Auswertungsprozess und dessen Ergebnisse zu informieren. Außerdem werde es nach anstehenden Beratungen in den nächsten Tagen sowohl organisatorische als auch personelle Konsequenzen geben.
LKA-Chef Steiof versucht katastrophale Fehlleistungen zu entschulden
Im Anschluss an Henkels versuchte Christian Steiof, Leiter des Berliner LKA, mittels einer kurzen Powerpoint-Präsentation die „Fehler“ bei der Aktenauswertung zu entschulden und bat um Verständnis. Seinen Ausführungen zufolge sei das Problem in erster Linie der hohen Arbeitsbelastung und Überforderung der Beamt_innen geschuldet. Nur wenige Personen hätten neben ihrer alltäglichen Arbeit die etwa 10.000 Seiten einer „händische[n] Auswertung“ unterziehen müssen, da das Material noch nicht digital vorlag. Für Verwunderung sorgte Steiofs Schilderung, dass die V-Mann-Führer des LKA mit der Durchsicht der Akten zu den von ihnen selbst geführten V-Personen beauftragt worden waren. Die organisatorische und personelle Planung und Durchführung der Datenauswertung war also offenkundig in keinster Weise der Brisanz des Falls angemessen. Dennoch kamen Steiof bei seinen Ausführungen die Worte „Fehlplanungen“, „Fehlverhalten“ oder gar „Versagen“ über die Lippen.
Scharfe Kritik und Entlassungsforderungen der Opposition
Diese aktuellen Katastrophenmeldungen nahmen die Oppositionsparteien in der anschließenden Fragerunde zum Anlass für scharfe Kritik. Einig waren sie sich darin, dass Henkels „Wutrede […] mindestens ein Jahr zu spät“ käme, wie Udo Wolf (Die Linke) es formulierte. Zudem warfen sie dem Innensenator vor, die Rolle des Berliner LKA im Komplex NSU lange Zeit verkannt und außerdem inkonsequent und nachlässig gehandelt zu haben. Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) attestierte Henkel, in dessen „Handeln kein Fünkchen Glaubwürdigkeit mehr“ erkennen zu können. Lux stellte die Forderung auf, Henkel solle Staatssekretär Krömer „endlich entlassen“, denn dieser sei „mit seinen Aufgaben offenkundig vollkommen überfordert“. Die Zeit der „Bauernopfer“ sei vorbei, Henkel müsse nun tatsächlich personelle Konsequenzen ziehen und auch persönlich Verantwortung übernehmen, so Lux weiter. Udo Wolf forderte noch einmal eine genaue Analyse und die Beantwortung der Frage, warum „diese Fehler überhaupt passiert“ seien. Dem schloss sich Thomas Kleineidam (SPD) an und fügte hinzu, ob „diese Fehler Ausnahmesituationen“ seien oder ob man „damit rechnen [müsse], dass auch in anderen Ermittlungen solche Fehler auftauchen“. In seiner Stellungnahme versuchte sich Henkel gegen die im Raum stehenden Vorwürfen zu wehren und betonte, dass er einen „Mangel an Aufklärungswillen […] mit aller Deutlichkeit zurückweisen“ wolle.
Da in der ersten Hälfte der Sitzung sehr ausführlich der Polizeieinsatz am 1.Mai ausgewertet wurde, reichte die Zeit letztlich weder zu einer zufriedenstellenden Beantwortung der Fragen durch Henkel, Kandt und Steiof, noch zu einer ausführlichen Aussprache. Bei der nächsten Innenausschusssitzung soll das Thema als erster Tagesordnungspunkt weiter verhandelt werden. Clara Hermann (Bündnis 90/Die Grünen) fragte Frank Henkel kurz vor Beendigung der Sitzung, ob er gewusst habe, dass die „V-Mann-Führer selbst die Durchsicht der Akten vornehmen“ und somit aufgrund ihrer Zielsetzung Quellenschutz ein Interessenskonflikt und somit Befangenheit im Raum stehe.
Nicht nur hinsichtlich dieser Frage wird die nächste Innenausschusssitzung wie auch die Berichterstattung der nächsten Tage für Frank Henkel und die Polizeioberen alles andere als angenehm.