Mit dem Blick auf diese Geschehen stellt sich für die Beratungsprojekte die Frage, wie wir uns vor der Definitionsgewalt der Ermittlungsbehörden schützen können. Wieder einmal hat sich bestätigt, dass die Darstellung der Geschehnisse durch die Betroffenen extrem wichtig ist.
Wir schreiben hier über einige wenige »ganz normale« Fälle, keine Morde zum Glück. Die Schilderungen der Betroffenen geben uns Einblicke in ein System, dessen Abgründe im Zusammenhang mit den Taten des NSU nun auch einer größeren Öffentlichkeit deutlich werden.
Die Behörden sagen, dass sie alte nicht zweifelsfrei ermittelte »Fälle« noch einmal prüfen wollen. Das tun auch wir.
Nicht Freund, nicht Helfer, aber definitionsmächtig
Wir schildern einen alltäglichen rassistisch motivierten Angriff, der mittlerweile zehn Jahre zurückliegt. Der Fall hatte nach Ansicht der Ermittlungsbehörden nicht stattgefunden. An einem weiteren Beispiel zeigen wir, welche Verletzungen Polizeibeamte bei ihrem ersten Auftritt an einem Tatort bei Geschädigten hinterlassen können. Welche Folgen die Anwesenheit zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort mit der falschen Hautfarbe haben kann, wird das dritte Beispiel aus der Beratungspraxis zeigen. In den Beispielen, zu denen wir viele andere hinzufügen könnten, wird deutlich, dass Polizeibeamt_innen zuerst jedes andere Motiv für eine Tat in Betracht ziehen, bevor sie von Rassismus sprechen. Es wird auch deutlich, dass alleine Hautfarbe und seine vermeintliche Herkunft einen Menschen in Verdacht bringen, straffällig geworden zu sein.
Ein Überfall, der nie stattfand
2. Februar 2002 Berlin-Lichtenberg
Ein schwarzer Portugiese wird nachts auf der Straße von drei Männern rassistisch angepöbelt. Einer der Männer greift an und schlägt und würgt den Portugiesen. Als drei weitere Männer sich nähern, kann er sich befreien. Er sucht ohne Erfolg Hilfe, indem er an einem Wohnhaus klingelt und um Hilfe ruft. er kann flüchten. Die Täter werden nicht gefasst.
Berliner Zeitung, 5.02.2002 | Morgenpost, 5.02.2002 | ReachOut
Der Chronikeintrag sagt nichts über die Tragödie aus, die sich nach diesem Angriff abspielte. Zur besseren Nachvollziehbarkeit der Erschütterung des Betroffenen schildern wir im Folgenden etwas genauer, was geschehen war.
Herr R. verließ nach einem Streit mit seiner Lebensgefährtin die gemeinsame Wohnung. Kurz darauf wurde er angegriffen. Er trug Kleidung und Werkzeuge für den nächsten Arbeitstag mit sich. Da er keine andere Möglichkeit sah, nach dem Angriff Hilfe zu organisieren, ging er zurück zur gemeinsamen Wohnung. Auf seinem Weg konnte Herr R. die Täter noch von weitem sehen. Sie unterhielten sich laut, lachten und schleppten seine Koffer mit sich. Zuhause angekommen, rief er die Polizei. Sie nahm Herrn R. und seine Lebensgefährtin mit zur Wache. Herr R. erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Da die Polizei sich nicht für den Tatort interessiert hatte, suchten Herr R. und die Partnerin selbst auf ihrem Nachhauseweg nach Spuren und fanden den bis dahin vermissten Ohrring und die Armbanduhr. Herr R. wurde am nächsten Tag von zu Hause abgeholt und zum Landeskriminalamt gebracht. Er meinte, einen der Schläger bei der Lichtbildvorlage erkannt zu haben.
Mehrmals wurde Herrn R. bei seiner Befragung gesagt, dass man ihm den geschilderten Angriff nicht glauben würde. Die Polizei versuchte mit großem Aufwand, ihre Version der Geschehnisse zu belegen. Ein Beamter, der sich als »Chef« der ganzen Abteilung vorstellte, sagte zu Herrn R., dass ja nun die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin vorbei sei und dass, wenn Herr R. jetzt die Wahrheit sagen würde, sie vielleicht doch nicht vorbei sein könnte. Herr R. fühlte sich wie ein Kind behandelt.
Einen Tag später waren sowohl Herr R. als auch die Lebensgefährtin vorgeladen. Sie wurden getrennt durch unterschiedliche Beamt_innen befragt. Die Beamtin, die die Lebensgefährtin befragt hatte, forderte von Herrn R. den Schlüssel zur gemeinsamen Wohnung. Während der »Wohnungsbegehung« befand sich Herr R. zur Befragung beim LKA. Die Polizisten unterstellten ihm, dass Herr R. den Überfall vorgetäuscht habe und die Werkzeuge in der Wohnung oder im Keller versteckt haben könnte. In der Woche nach dem Überfall hatte Herr R. täglich Termine bei der Polizei. Er war krank geschrieben, musste jedoch trotzdem von morgens bis abends für Aussagen zur Verfügung stehen. Insgesamt fühlte er sich wie ein Verbrecher behandelt und keineswegs wie eine geschädigte Person, die einen Überfall anzeigt.
Erst als Herr R. klarmachte, dass er sich unter diesen Umständen einen Anwalt besorgen wolle, verlief die Befragung durch einen Beamten, der bisher nicht beteiligt war, korrekt.
Sowohl die Lebensgefährtin als auch Herr R. hatten den Eindruck, dass sich die Polizeibeamt_innen insgesamt mehr für die Familienverhältnisse als für den eigentlichen Überfall interessierten. Einen großen Teil ihrer Kraft mussten beide aufwenden, um die Unterstellung, die Lebensgefährtin habe Herrn R. verletzt, zu entkräften.
Von unterschiedlichen Arten der Verletzung
19. August 2010 Berlin-Lichtenberg
Gegen 17.30 uhr wird eine 43-jährige Frau von einer 36-jährigen Frau rassistisch beleidigt, als sie mit dem Auto in die Herzbergstraße einbiegt. Die 36-Jährige tritt gegen das Auto, zerrt die Fahrerin aus dem Wagen und entreißt ihr das Handy, mit dem diese die Polizei anrufen will. Die 43-jährige Frau muss im Krankenhaus behandelt werden.
Pressemeldung der Polizei, 20.08.2010 | taz, 21.08.2010 ND, 21.08.2010 | Antifa Hohenschönhausen | ReachOut
So lautet die Meldung in unserer Chronik. Sie klingt, als sei es ein Fall, der schnell wieder in Vergessenheit gerät, idealerweise auch für die angegriffenen Frau. Leider war dem nicht so. Und zwar nicht, weil die Täterin sie verletzt hätte. Das wurde schnell nebensächlich:
Die Polizei kam zum Tatort und sprach zuerst mit allen anderen Personen, auch mit der Täterin. Sie sprach nicht Frau V. an, die sie zur Hilfe gerufen hatte. Sie fragte nicht nach ihren Verletzungen und interessierte sich nicht für den materiellen Schaden am Auto und am Mobiltelefon. Frau V. war sicher, dass sie aufgrund ihrer Herkunft attackiert worden war. Die Ermittler (Polizei und Staatsanwaltschaft) definierten eine Auseinandersetzung zwischen zwei Frauen ohne die rassistische Motivation zur Kenntnis zu nehmen. Sehr viel später, während eines Interviews mit einer Journalistin, stand die Frau immer noch unter dem Eindruck der damaligen Polizeiarbeit. Noch immer musste sie die Tränen unterdrücken bei dem Gedanken an das entwürdigende Verhalten der Polizei. Das Verfahren wurde aus unerklärlichen Gründen von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Falscher Ort, falsche Zeit, falsche Hautfarbe
Herr B. hatte einen Termin, um sich eine Wohnung anzusehen. Da er zu früh am verabredeten Treffpunkt war, ging er spazieren und telefonierte dabei mit dem Makler. Plötzlich wurde er von hinten von vier Polizisten in Zivil angegriffen. Sie rissen seine Hände hinter den Kopf und brachten ihn zu Boden. Einer der Beamten drückte ihm sein Knie in den Nacken, so dass sein Gesicht fest auf den Boden gepresst wurde und er kaum Luft bekam. Sie legten ihm Handschellen an. Danach brachten sie ihn zu einem Wagen. Vier weitere uniformierte Polizisten kamen hinzu. Die Beamten prüften seinen Ausweis und inspizierten sein Handy. Sie stellten fest, dass sie den Falschen festgenommen hatten und ließen ihn gehen. Herr B. fragte den Polizeibeamten, den er als Vorgesetzten wahrgenommen hatte, ob eine solche Behandlung normal sei. Der Beamte bejahte die Frage und forderte ihn auf zu gehen.
Herr B. ging nach dem Vorfall ins Krankenhaus. Das Ergebnis der »Verwechslung«: Prellung des Brustkorbes, Verstauchung des Handgelenkes, Druckschmerzen an Augen und im Gesicht und eine erhebliche Traumatisierung.
Herr B. erstattete Anzeige wegen Körperverletzung im Amt. Bei seiner Vernehmung bestand der Beamte darauf, dass Herr B. aus einem Land in Afrika komme. Herr B. ist ein schwarzer deutscher Staatsangehöriger. Der Beamte hatte während der Behauptung der anderen Staatsangehörigkeit den deutschen Personalausweis von Herrn B. in der Hand. Herr B. macht sich seither Sorgen um seine Kinder und fragt sich, wie sie hier unter diesen Bedingungen aufwachsen sollen. Er überlegt, ob er das Land verlassen sollte, weil ihm und den Kindern der deutsche Pass gegen rassistische Vorwegannahmen nicht helfen wird.
Unterschiedliche Angriffe, ein Thema: Rassismus und seine Folgen
Herr R. kam zur Beratungsstelle, weil er den berechtigten Verdacht hatte, dass er für die Durchsetzung seiner Rechte und gegen die absurden Annahmen der Polizei Unterstützung benötigt. Im Mittelpunkt stand für ihn nicht der Angriff, sondern das Verhal-ten der Polizei. Herr R. ist sehr bald nach dem Angriff ausgewandert – enttäuscht und gedemütigt. Er war nicht enttäuscht, weil die Täter nicht gefunden wurden. Das ist nachvollziehbar, wenn Täter flüchtig sind. Aber dass eine Ermittlungsbehörde die Tatsache, dass Menschen sich streiten, benutzt, um aus einem sehr überzeugend geschilderten rassistischen Überfall auf einen Schwarzen einen familiären Konflikt zu konstruieren, ist unerträglich für ihn. Das Verfahren wurde eingestellt. Dem zweifelhaften Alibi eines Verdächtigen, den Herr R. in der Lichtbilddatei erkannt zu haben meinte, wurde Glauben geschenkt. Die Freundin des Verdächtigten hatte ausgesagt, der Verdächtige sei »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« bei ihr gewesen.
Frau V. musste nicht nur das rassistische Vorgehen der Polizei am Tatort über sich ergehen lassen. Dass der Angriff auf sie die Staatsanwaltschaft nicht zu einer Anklage veranlasst und damit ein Prozess nicht stattfand, empfindet sie als eine zusätzliche Demütigung. Sie bewertet dies als »gewöhnlichen Rassismus«, wie er täglich gegen Vietnames_innen stattfindet. In diesem Fall sehen wir unsere Funktion in erster Linie darin zu verdeutlichen, dass es Einrichtungen gibt, die überzeugt davon sind, dass die rassistische Tat stattgefunden hat und dass sie gravierend war.
Der Angriff auf Herrn B. durch die Polizisten führte ebenfalls zunächst nicht zu einem Gerichtsverfahren. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Herr B. war psychisch sehr angeschlagen. Durch die Intervention der Beratungsstelle gelang es Herrn B. auch in den Medien die Geschehnisse darzustellen und letztlich ein Urteil gegen die Polizisten zu erreichen.
Mutmaßungen der Ermittler_innen über ein Motiv sind immer nur eine – zuweilen gewagte und unsinnige – Arbeitsthese der Polizei für die Richtung ihrer Ermittlungen. Im Zweifel haben sie nichts mit der Realität zu tun – das haben die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Opfern des NSU erschreckend deutlich gezeigt. Die Opfer des sogenannten NSU waren, außer der Polizeibeamtin in Heilbronn, alle Rassismusopfer. Sie wurden ermordet, weil sie als Türken oder Grieche identifiziert wurden. Die Ermittlungen wurden durch eine rassistische Sichtweise auf die Taten und auf die Opfer geleitet. Die Beschäftigung mit Geheimdiensten lenkt dabei von dem gesellschaftlichen Problem Rassismus ab, der auch Teil der Institutionen ist. Sie zeigt einmal mehr die Verleugnungsstrategie von Behörden und Politik, um Rassismus als ein institutionelles Phänomen nicht wahrnehmen zu müssen.
Besonders »phantasievolle« Polizist_innen sind in jedem Fall gefährlicher, als Beamt_innen, die Aussagen und Hinweise der Geschädigten zur Grundlage ihrer Arbeit nehmen. Was wäre geschehen, wenn es uns damals auch bei den an uns herangetragenen Fällen gelungen wäre, die Öffentlichkeit für diese Geschichten auch nach der ersten Meldung interessieren zu können? Dass die Polizei – bewusst oder aus Unfähigkeit – in die falsche Richtung ermittelt, war uns schon damals klar. Wir waren jedoch nicht etabliert und die Möglichkeiten, den Betroffenen Gehör zu verschaffen, waren noch nicht ausgeprägt. Heute könnten wir Herrn R. Besser zu seinem Recht verhelfen,weil wir in der Lage wären, die Ermittlungen auch mit dem Druck der Öffentlichkeit zu begleiten.
Die Schilderungen der Betroffenen ermöglichen uns einen Einblick in die Tragweite von Rassismus im Polizeiapparat, von der wir ohne diese Darstellungen keine Kenntnis hätten. Beratungsstellen unterstützen die Betroffenen, die Definitionshoheit der Ermittlungsbehörden in Frage stellen zu können und ihrer Version der Ereignisse Geltung zu verschaffen. Die Opfer von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt erlangen so wieder Handlungsautonomie. Das bedeutet für uns Empowerment.
Die Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt – KOP wurde 2002 durch die Opferberatungsstelle ReachOut, das Antidiskriminierungsbüro (ADB e.V.), den Ermittlungsausschuss EA) und das Netzwerk Selbsthilfe e.V. gegründet. Alle Projekte engagieren sich seit Jahren in antirassistischer und antifaschistischer Arbeit. Motiviert durch die fehlende finanzielle Unterstützung der Opfer hat KOP einen Rechtshilfefond organisiert, der es den Betroffenen ermöglicht sich gegen das ihnen zugefügte Unrecht auf juristischem Weg zu wehren.