Antisemitismus, Bildung und Migrationsgesellschaft – Herausforderungen pädagogischer Arbeit in Theorie und Praxis

Wenn es um die Thematik Antisemitismus und Migrationsgesellschaft geht, dreht sich die Diskussion oft um den sogenannten neuen Antisemitismus, also um die Frage, inwieweit es sich bei den aktuellen Erscheinungsformendes Antisemitismus um ein neues Phänomen handelt.

 

Im Zentrum der Debatte steht neben der Frage nach neuen Entwicklungen vor allem die Frage nach neuen Vorurteilsträger/-innen – gemeint sind damit zumeist Personen, denen eine muslimische Identität zugeschrieben wird. Mittlerweile ist sich die Forschung weitgehend einig, dass es keinen neuen im Sinne eines strukturell vom modernen europäischen verschiedenen Antisemitismus unter Muslimen gibt.

Klaus Holz bringt die Funktion antisemitischer Konstruktionen auf den Punkt, wenn er sagt »Antisemitismus ist identitätsstiftende Weltdeutung.« (Holz 2005: 10. Verwendete Quellen siehe »Weiterführende Literatur«) Er definiert Antisemitismus als »eine spezifische Semantik, in der ein nationales, rassisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht« (ebd.). Die Konstruktion des ›Anderen‹ ist nicht von der Konstruktion des ›Eigenen‹ zu trennen. Beides steht in einem dialektischen Verhältnis. Indem ›der Jude‹ immer als Kollektiv konstruiert wird, wird gleichzeitig auch immer ein eigenes Kollektiv, ein ›Wir‹, konstruiert. Wobei dieses ›Wir‹ ganz unterschiedlich gefüllt sein kann. Es liegt also im Wesen des Antisemitismus selbst begründet, dass er problemlos adaptiert und unterschiedlichen gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen angepasst werden kann.

Nicht vergessen: Die Mehrheitsgesellschaft

Es verkehrt die gesellschaftliche Realität, Antisemitismus als »Migrantenproblem« zu deuten. Nach wie vor sind verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet, und zwar quer durch alle Bevölkerungsschichten. So äußerten sich 63 Prozent der Befragten in einer Umfrage des Instituts für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung der Universität Bielefeld zustimmend gegenüber der Aussage »Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgeworfen werden« (Zick/ Küpper 2009). Und 38,3 Prozent waren der Meinung, dass »viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen« (ebd.). Das Grundmotiv dieses sekundären Antisemitismus ist die Abwehr von Erinnerung mit dem Ziel, eine ungebrochene individuelle, familiäre und nationale Identität (wieder-)herzustellen.

Die Forscherinnen und Forscher der Uni Bielefeld beobachten in ihrer Langzeitstudie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« seit einigen Jahren ein Erstarken antisemitischer Stereotype, die den Staat Israel zum Gegenstand haben (vgl. Heyder/Iser/ Schmidt 2005). Die Täter-Opfer-Umkehr ist dabei ein beliebtes Prinzip: 40,5 Prozent der Befragten bejahten die Aussage »Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.« Mit 49 Prozent war fast die Hälfte der Befragten der Ansicht, dass Israel einen »Vernichtungskrieg« gegen die Palästinenser führe (Zick/Küpper 2009).

Zentrale Themenfelder identifizieren und bearbeiten

Kenntnisse über Ursachen, Verlauf und Auswirkungen der Shoa sollten integraler Bestandteil der demokratischen Allgemeinbildung sein, unabhängig von den familiären Herkunftsbezügen der Jugendlichen. Gleichzeitig machen die Erfahrungen der letzten Jahre deutlich, dass Holocaust-Erziehung allein nicht ausreicht, um   antisemitischen   Einstellungsmustern vorzubeugen sie zu bekämpfen. Pädagogische Strategien müssen dementsprechend über eine historisch-politische Bildung hinausgehen und aktuelle Ausprägungen des Antisemitismus thematisieren. Dabei spielt der Nahostkonflikt eine wichtige Rolle, ebenso ein oftmals verkürztes Verständnis globalisierter ökonomischer Prozesse und die Auseinandersetzung mit Religionen. In der Bearbeitung dieser Felder sollte spezifischen Bezügen und Verschränkungen unterschiedlicher Erfahrungen Rechnung getragen werden.

Schulische Sprachlosigkeit

Ein lokaler Schwerpunkt unserer pädagogischen Arbeit liegt in Berlin-Kreuzberg, einem Bezirk mit einem relativ hohen Anteil muslimisch geprägter Bevölkerung. Die meisten der muslimischen Jugendlichen kommen aus Familien mit türkischem oder arabischem Hintergrund. Der Staat Israel und die Problematik des Nahostkonflikts sind für sie oft ein wichtiger Bezugspunkt. Eine der Fragen, mit denen wir unseren Projektschultag zum Nahostkonflikt beginnen, ist die nach ihren Erfahrungen, wenn der Nahostkonflikt in der Familie oder im Freundeskreis thematisiert wird. Ein Teil der Jugendlichen mit arabischem Hintergrund erlebt sich selbst als direkt (Familie) oder indirekt (Bekannte) davon betroffen. Sie antworten häufig mit den Begriffen Wut, Angst oder Hass. Viele Schülern/-innen mit türkischem Hintergrund führen in diesem Zusammenhang die gewalttätigen Ereignisse auf der Marvi Marmara an, die bis heute eine große Rolle in familiären Diskussionen spielen. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen nimmt die deutschen Medien als durchgängig israelfreundlich, parteiisch und antimuslimisch wahr. Oft wird hierbei der Vorwurf der »Fremdsteuerung« laut. Oder aber es wird die Erklärung nachgeliefert, dass die Deutschen sich bis heute für den Nationalsozialismus schämten und sich deshalb nicht trauen würden, sich israelkritisch zu ein äußern. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Schüler/-innen übereinstimmend angeben, der Nahostkonflikt sei im Schulunterricht überhaupt kein Thema. Hier wird ein erstes Missverhältnis deutlich.

Ethnisierungsprozesse

Eine der Herausforderungen für die pädagogische Arbeit mit herkunftsheterogenen Lerngruppen sind die divergierenden historischen, kulturellen und politischen Bezüge der Jugendlichen, sowohl hinsichtlich der Konstruktion der eigenen Identität als auch hinsichtlich individueller Positionierungen.

Waren bestimmte ethnisch-nationale, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten für die Jugendllchen über einen längeren Zeitraum nicht oder nur marginal von Bedeutung, kann sich dies vor dem Hintergrund bestimmter politischer Diskussionen und Ausein-andersetzungen plötzlich und mit Vehemenz ändern. Ausschlaggebend dafür sind die spezifischen persönlichen Bezüge der Jugendlichen zu den jeweiligen Ereignissen oder Debatten. Eigene Flüchtlingserfahrungen können dabei ebenso eine Rolle spielen wie verwandtchaftliche  Beziehungen  in  bestimmte Krisenregionen  oder durch nationalgeschichtliche oder familiäre Narrative geprägte Loyalitäten. Werden diese inneren Konflikte noch durch persönlich erlebte Diskriminierungen aufgrund ethnischer oder kulturalistischer Zuschreibungen potenziert, scheint der Rückzug auf vermeintlich kollektive Identitäten eine – aus Perspektive der Jugendlichen – angemessene und hilfreiche Reaktion: »Wir Araber«, »wir Türken«, »wir Moslems«.

Dabei ist die Frage nach der Staatsbürgerschaft nicht relevant. Vielmehr wird die deutsche Mehrheitsgesellschaft als ausschließend und stigmatisierend empfunden: »Die Deutschen respektieren uns nicht.« »Wir Muslime werden doch sowieso sofort als Terroristen abgestempelt.« Nicht selten kommt in diesem Zusammenhang auch ein Argument zum Tragen, das den Nationalsozialismus, den Nahostkonflikt und aktuelle Alltags- und Diskriminierungserfahrungen auf spezifische Weise verknüpft: »Warum müssen wir heute ausbaden, was die Deutschen damals mit den Juden gemacht haben?«

Wenig Wissen, viel Emotion

Israelisch-jüdische Perspektiven auf den Nahostkonflikt sind bei den Jugendlichen so gut wie unbekannt. Zwar können sie häufig sehr gut zwischen »Juden« und »Israelis« unterscheiden. Diese Abgrenzungsfähigkeit alleine sagt aber nicht viel aus. Oft,so scheint es zumindest auf Grundlage der von den Jugendlichen geäußerten Erfahrungen, wird von Seiten der Lehrer_innen in der Schule viel Wert auf diese verbale Unterscheidung gelegt. Die Forderung wird jedoch selten erklärt oder kontextualisiert. Für die Einstellungsmuster spielt eine Unterscheidung in dieser Form keine bedeutende Rolle. Die Grenze zwischen »gut« und »böse« verläuft anders und zwar auf der Grundlage des Bezuges der betreffenden Personen zum Staat Israel. Anders gesagt: Juden, die in Deutschland leben und keinerlei positive Bezüge auf den Staat Israel äußern, stellen »kein Problem« dar, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht stereotypisch wahrgenommen werden: Die Gerüchte von »Reichtum«, »Medienmacht« und »Schläue« ›der Juden‹ gehören zum Alltagswissen, wohingegen über die Geschichte des europäischen Antisemitismus kaum etwas bekannt ist.

Bemerkenswert ist die oftmals anzutreffende Gleichzeitigkeit von Empathie, Nicht-Wissen und Abwehr bei den Jugendlichen – das gilt für herkunftsdeutsche Jugendliche ebenso wie für muslimisch geprägte. Empathie für die Verfolgungsgeschichte der Juden im Nationalsozialismus, Nicht-Wissen über jüdische, israelische, deutsche und europäische Geschichte und Gegenwart sowie Abwehr im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt.

Opferkonkurrenzen

Häufig wird die kollektive nationale Erinnerung an die Opfer des Holocaust und damit in erster Linie an ›die Juden‹ von den Jugendlichen als einseitig und ausschließend wahrgenommen. Sie fordern die Anerkennung persönlicher Opfererfahrungen. Dies umfasst sowohl die Anerkennung rassistischer und sozialer Ausgrenzung in Deutschland als auch die Anerkennung familiärer Leidens-, Flüchtlings- und Opfergeschichten in den jeweiligen (familiären) Herkunftsländern. Fehlende diesbezügliche Auseinandersetzungen im schulischen wie auch im außerschulischen Bereich werden von ihnen als Mangel empfunden.

Das Problem ist nicht die Betonung des eigenen Opferstatus, sondern die »Vermischung nachvollziehbarer Anerkennungsforderungen mit antisemitisch strukturierten und immer wieder auch so gemeinten Begründungen« (Fechler 2006:194). Deshalb kommt es in der Auseinandersetzung mit Opferkonkurrenzen darauf an, die Empfindungen, Erfahrungen und Ansprüche der Jugendlichen ernst zu nehmen, sie aber auch historisch und gesellschaftlich zu kon-textualisieren und gegen Funktionalisierungen und Instrumentalisierungen deutlich Stellung zu beziehen.

Interventionsberechtigung erlangen

Wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche antisemitismuskritische Pädagogik ist es, Interventionsberechtigung zu erlangen. Das funktioniert nur auf der Basis von Glaubwürdigkeit. Und Glaubwürdigkeit wiederum resultiert aus der Zuerkennung von Kompetenz, Authentizität und Vertrauen. Diesen Anforderungen bemüht sich die KIgA sowohl über die inhaltliche und methodisch-didaktische Ausrichtung unserer pädagogischen Konzepte als auch über unser Auftreten als Pädagogen/-innen gerecht zu werden.

Daher arbeiten wir konsequent mit gemischten Teams – sowohl geschlechtlich gemischt als auch herkunftsheterogen. Den Ausgangspunkt unserer Bildungskonzepte bilden die Lebensrealitäten der Teilnehmenden. Wir versuchen nicht nur den Raum für persönliche Erfahrungen zu geben, sondern aktiv deren Einbringung in den (Schul)alltag zu fördern. Es geht uns nicht darum, existierende einseitige Perspektiven oder Deutungsmuster moralisch zu bewerten, sondern diese durch das Aufzeigen anderer, bislang eher ungewohnter Perspektiven und bisher nicht vorhandenem Wissen kritisch zu reflektieren. Vor allem die Frage danach, wo die Grenze zwischen notwendiger Anerkennung und nötiger Konfrontation verläuft, ist in der Theorie wesentlich einfacher zu beantworten, als in der Praxis umzusetzen.

Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus – KIgA e.V. wurde Ende 2003 gegründet und gehörte zu den ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich dem aktuellen Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft aus einer pädagogischen Perspektive angenommen haben. Das Projekt bietet zum Thema u.a. Projekttage und eine Ausstellung für Schulen an. Immer wieder wurde einer eigenständigen Pädagogik gegen Antisemitismus die Forderung nach einem Ausbau der Bildungsarbeit gegen Rassismus gegenübergestellt. In den Augen der KIgA darf das kein Widerspruch sein: Bildungsarbeit gegen Rassismus und Bildungsarbeit gegen Antisemitismus müssen Hand in Hand agieren.

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