Vergangenes Jahr, in der Einleitung zum damaligen Schattenbericht, hatten wir davor gewarnt, vorschnell über den offensichtlichen Niedergang der Berliner NPD zu frohlocken und zu glauben, der parteiförmige Teil des Rechtsextremismus sei drauf und dran, sich selbst zu erledigen: „Doch wenn es die Partei nicht mehr geben würde, bliebe immer noch die Bewegung.“
Heute sieht es so aus, als habe die NPD ihren Niedergang zumindest aufgehalten. Es dürfte aber noch einige Monate dauern, bis beurteilt werden kann, ob es dem neuen Berliner Landesvorstand wirklich gelingt aus der Talsohle heraus zu kommen. Tatsächlich gingen die entscheidenden, weil bedrohlichen, Aktivitäten im Jahr 2009 nahezu ausschließlich von den bewegungsförmigen Strukturen des Neonazismus aus – jenem Spektrum, dem die NPD als zu angepasst und bürgernah gilt. Und deren AktivistInnen sich in der Pose der militanten Politrebellen gefallen, als StraßenkämpferInnen, die jederzeit bereit sind, die politischen GegnerInnen auch körperlich anzugreifen.
Schwerpunkt Rassismus
Im vierten Jahr des Erscheinens der „Berliner Zustände“ beleuchten drei Berliner Projekte sowie drei weitere Berliner AutorInnen die anti-muslimischen und/oder rassistischen sowie rechtsextremen Phänomene in Berlin, die Grund geben für eine kontinuierliche Auseinandersetzung. Die Berliner Zustände 2009 sollen Analysen aus der Hand von PraktikerInnen geben und alternativ zu staatlichen und medialen Sichtweisen die wesentlichen Entwicklungen und Tendenzen des letzten Jahres in den Blick nehmen.
Neben der Entwicklung der organisierten extremen Rechten und ihrer Aktionsfähigkeit im vergangenen Jahr werfen wir diesmal einen ausführlicheren Blick auf jenes Phänomen, das wir als antimuslimischen Rassismus bezeichnen (zur Begriffsdebatte siehe den Beitrag „Sind alle „Islam-Kritiker“ „islamophob“?“). Der antimuslimische Rassismus ist für die im Schattenbericht vertretenen Projekte bereits ein deutlich sichtbares Phänomen im Alltag der beratenden und dokumentierenden Initiativen und eine Herausforderung für die „Migrations-Hauptstadt“ Berlin. Mit der Schwerpunktsetzung möchten wir zu einer differenzierten Auseinandersetzung beitragen.
Weitere Artikel beschreiben wesentliche Ereignisse, die die Arbeit und das Engagement von Initiativen und Projekten 2009 geprägt haben.
So hat die Journalistin Nicole Walter ihre Eindrücke über den sogenannten Bordsteinkick-Prozess festgehalten. Sie hat den Prozess begleitet und beschreibt sachlich und gleichermaßen eindringlich die brutale Dimension einer Tat, die beinahe ein Menschenleben gekostet hätte.
Wie sehr inhaltliche Schwächen und gewalttätige Aktionen in der extremen Rechten zusammen gehen, zeigt der Beitrag der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). Er beschreibt eine zunehmende Dynamik von Anfeindungen und Bedrohungen politischer GegnerInnen und eine neue Dimension der Anti-Antifa-Arbeit rechtsextremer Strukturen. Abgesehen von den personellen Zusammenschlüssen – wie der durch den Berliner Senat verbotenen Kameradschaft „Frontbann 24“ – wird deutlich, welche wichtige Funktion die Kneipe „Zum Henker“ in Schöneweide für diese Dynamik hat. Ihre Außenwirkungen auf den öffentlichen Raum des Stadtteils sowie Berlinweit wird in dem Artikel ausführlich analysiert.
Aus der Perspektive des Projektes „Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in den kommunalen Gremien Berlins – Dokumentation und Analyse“ beschreibt Yves Müller in seinem Artikel die Verfasstheit der Berliner NPD im Jahre 2009 – ein turbulentes Jahr voll mit internen Streitereien, Austritten, Rücktritten und Skandälchen, die zu einer öffentlichen und paramentarischen Unscheinbarkeit der Partei beitrugen. Der Autor zeichnet die Entwicklungen des Berliner Landesverbandes unter dem damaligen Vorsitzenden Jörg Hähnel und der mit ihm (ehemals) verbündeten extrem rechten Gruppierungen und Personen nach, bis zum Februar 2010, als Uwe Meenen den Posten des Landesvorsitzenden übernahm. Eine inhaltliche Abkehr von der wenig bürgerlichen neonazistischen Linie der Berliner NPD ist aber auch unter Meenen nicht zu erwarten.
Was ist antimuslimischer Rassismus?
Unser Themenschwerpunkt „Antimuslimischer Rassismus“ wird mit einer Begriffsklärung eingeleitet. Daran anschließend zeichnet Eberhard Seidel in seinem Artikel „Islamophobie in Deutschland?“ nach, aus welchen Konflikten die Islamdebatten ihre Schärfe beziehen und warum wir uns die Antwort auf die in seinem Titel gestellte Frage nicht einfach machen dürfen. In seine differenzierende Darstellung bezieht Eberhard Seidel, Geschäftsführer bei „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, vor allem auch die bei uns nur wenig bekannte niederländische Debatte mit ein, die den hiesigen Diskurs stark mitbestimmt hat.
Einen Teilaspekt der Kontroverse um „den Islam“ beleuchtet der Artikel von Prof. Dr. Birgit Rommelspacher, der bereits in der taz veröffentlicht wurde. Frau Rommelspacher kritisiert hierin diejenigen feministischen „IslamkritikerInnen“, die sich auf rassistische Argumentationen und Organisationen einlassen, um am lautesten Gleichberechtigung für MuslimInnen zu fordern. So wird nicht nur kulturalisierend pauschalisiert, sondern der Sexismus der Mehrheitsgesellschaft gerät ebenso zum blinden Fleck.
Das apabiz legt in diesem Schattenbericht eine erste umfangreiche Dokumentation der „Bürgerbewegung Pax Europa e.V.“ vor, eine vor allem auch in Berlin aktive islamfeindliche Organisation. Pax Europa hatte im vergangenen Jahr mehrfach öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, um auf ihren Kampf gegen die „Islamisierung“ Berlins aufmerksam zu machen. Dabei war sie zum Teil auf deutlichen Widerspruch antirassistischer Initiativen gestoßen, so bei einer Kundgebung am 3. Oktober 2009. Der Artikel stellt die Politik und die Köpfe dieser Gruppierung, die in Berlin von René Stadtkewitz, Mitglied der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, geführt wird, vor.
In ihrem Beitrag „Fallzahlen: Grund zur Entwarnung?“ berichtet die Opferberatungsstelle ReachOut von den Zahlen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt des Jahres 2009. Auch wenn die von ReachOut dokumentierten Gewalttaten zwar fast um ein Drittel gesunken sind, stellt das Projekt umfangreich den Anstieg rassistischer Stimmungsmache in der Mitte der Gesellschaft dar. Die AutorInnen gehen deshalb auch der Frage nach, welche Wechselwirkungen rassistische Äußerungen wie die des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin mit rassistischen Gewalttaten haben. Dazu wird wie in jedem Jahr ergänzend die ReachOut-Chronik rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Angriffe und Bedrohungen veröffentlicht.
Die Entscheidung, den Schattenbericht dieses Jahr mit einer Comic-Strecke statt einer Fotoserie zu bebildern, ist hoffentlich eine interessante Neuerung. Wir bedanken uns für Illustration und Layout bei den KollegInnen von 123comics.