Der Beitrag in diesem Schattenbericht über den Rechtsextremismus im Rudower Blumenviertel weist einmal mehr darauf hin, dass rechtsextreme Einstellungen in der Berliner Bevölkerung weit verbreitet sind. Das Otto-Stammer-Zentrum am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin beobachtet seit vielen Jahren die Entwicklung dieses Einstellungsmusters in der Region Berlin-Brandenburg.[1] Im Jahr 2008 haben wir ermittelt, dass 14 Prozent der BerlinerInnen (ab 14 Jahren) rechtsextreme Einstellungen aufweisen. Das bedeutet, dass im vergangenen Jahr jede/r siebente Befragte in der Hauptstadt völkisch-nationalistische Auffassungen vertrat. Vier Jahre zuvor hatten wir sogar 16 Prozent gemessen. Beim Rechtsextremismus handelt es sich also nicht um ein Randphänomen. Mehr oder weniger sind alle Alters- und Erwerbsgruppen betroffen. Wenn auch die Unterschicht besonders anfällig für rechtsextreme Angebote ist (Berlin 2008: 19%), so finden sich auch in der Mittelschicht (10%) und in der Oberschicht (5%) derartige Orientierungen. Selbst wenn man nur den harten, ideologisch gefestigten Kern der Rechtsextremen herausfiltert, handelt es sich immer noch um sieben Prozent der BerlinerInnen.
Wenn wir in unseren Untersuchungen aufwendige Ursachenanalysen betreiben, so dient das vor allem der Konzipierung von Gegenmaßnahmen. Ich muss mich hier in aller Kürze auf zwei wesentliche Komplexe beschränken. Erstens begünstigen autoritäre Überzeugungen die Ausbreitung von rechtsextremen Einstellungen, während demokratische Überzeugungen maßgeblich zu ihrer Eindämmung beitragen. Es reicht allerdings nicht aus, Demokratie in der schulischen oder außerschulischen Bildungsarbeit zu unterrichten. Demokratie muss auch praktiziert werden! Der Beitrag über den Rechtsextremismus im Rudower Blumenviertel zeigt eindruckvoll, dass dem Treiben der Rechtsextremen durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten im nachbarschaftlichen Umfeld Einhalt geboten werden kann, wenn sie professionelle Hilfe und administrative Unterstützung finden.
Das beträchtliche Demokratiedefizit in der Berliner Bevölkerung beruht weithin auf der Unzufriedenheit mit dem Zustand und der Leistungsfähigkeit der politischen Ordnung. Es wird erwartet, dass die Politik für auskömmliche Arbeits- und Lebensbedingungen sorgt. Das bringt mich zu dem zweiten Ursachenkomplex:
Zwei Drittel der Befragten in Berlin äußerten 2008 Kapitalismuskritik und immerhin noch 38 Prozent wiesen antikapitalistische Einstellungen auf. Statistische Analysen zeigen, dass ein enger Zusammenhang zwischen rechtsextremen und kapitalismuskritischen bzw. antikapitalistischen Orientierungen besteht: Rechtsextreme Einstellungen wachsen mit der Unzufriedenheit mit unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Und diese Unzufriedenheit bietet Andockmöglichkeiten für die sozialen Verheißungen der Rechtsextremen, die dem sozioökonomischen Wandel und der Globalisierung durch nationalistische und rassistische Konzepte begegnen wollen. Daraus folgt Zweierlei: Diese Konzepte (die uns allenfalls nordkoreanische Verhältnisse bescheren) müssen auf breiter Basis als soziale Demagogie entlarvt werden. Zugleich muss der Sozialstaat für eine gerechtere Verteilung der Einkommen und der Bildungschancen sorgen. Benachteiligt fühlen sich diesbezüglich nicht nur die Angehörigen der Unterschicht, sondern teilweise auch die der Mittel- und der Oberschicht. Auch dies lehrt uns, dass Rechtsextremismus keineswegs nur in den unteren sozialen Gruppen gedeiht.
Dass Frauen im Prinzip genauso anfällig für rechtsextreme Einstellungen sind wie Männer, ist bekannt. Das gilt ebenso für die Tatsache, dass sich Männer doppelt so oft für rechtsextreme Parteien entscheiden wie Frauen. Dieser „gender gap“ im Wahlverhalten bildet nicht nur ein wichtiges Thema der Rechtsextremismusforschung. Der Beitrag des apabiz über den Ring Nationaler Frauen (RNF) der NPD zeigt, dass die Rechtsextremen die Frauen mittlerweile als Zielgruppe ausgemacht haben und bemüht sind, ihr Frauendefizit auszugleichen oder wenigstens doch abzumildern. In der Forschung wird vor allem der Frage nachgegangen, ob sich Frauen dem Rechtsextremismus trotz oder gerade wegen seines sexistischen – oder eben auch völkisch-biologistischen, auf einer vermeintlich naturgegebenen Rollenzuweisung beruhenden – Frauen- und Familienbilds zuwenden.
In einem Forschungsprojekt mit Umfragedaten aus dem Jahr 2005 konnten wir einen engen statistischen Zusammenhang zwischen rassistischen, völkisch-nationalistischen und sexistischen Bestrebungen als zwei Formen von Diskriminierung, Hierarchisierung und Unterwerfung nachweisen, und zwar bei Männern und Frauen. Mit anderen Worten: Auch Frauen können von einer patriarchalen Dominanzkultur profitieren. Beide Geschlechter erwarten sich vom Rechtsextremismus – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – die Sicherung des (heutzutage angeblich bedrohten) Patriarchats durch ein traditionalistisches Frauen- und Familienkonzept. Den Frauen geht es dabei um Anerkennung, Aufwertung und Orientierungssicherheit, den Männern um die Bewahrung bzw. Stärkung ihrer dominanten gesellschaftlichen Stellung. Beim Wahlverhalten haben reaktionäre Weiblichkeitsideale allerdings nicht die Bedeutung, die ihnen in der Literatur oft zugeschrieben werden, bei Frauen noch weniger als bei Männern. Zwar übt das traditionalistische Frauen- und Familienbild der NPD durchaus eine gewisse Anziehungskraft auf beide Geschlechter aus. Die Annahme, dass Frauen dadurch eher abgestoßen werden, dass sie kein Interesse an Parteien haben, die vornehmlich Männerbelange vertreten, trifft in dieser Pauschalität also nicht zu. Es sind vor allem die Alltagsbedürfnisse der Frauen (Kinderbetreuung, Schul- und Bildungspolitik, soziale Leistungen, Renten Vorstellungen, die sie an die NPD binden. Dass Frauen die NPD seltener wählen als Männer, liegt daran, dass die Partei über keinerlei Kompetenz für die Lösung derartiger Probleme verfügt. An diesen Alltagsproblemen muss die Bekämpfung des Rechtsextremismus bei Frauen ansetzen. Wir brauchen mehr geschlechterspezifische Sozialarbeit, mehr sozialräumlich verankerte Projekte, die sich um Frauen kümmern, die dazu neigen, ihre problematische soziale Lage unter Zuhilfenahme von rechtsextremen Deutungsangeboten nach dem Muster beispielsweise des RNF zu verarbeiten.etc.) und weniger ihre sexistischen Vorstellungen, die sie an die NPD binden. Dass Frauen die NPD seltener wählen als Männer, liegt daran, dass die Partei über keinerlei Kompetenz für die Lösung derartiger Probleme verfügt. An diesen Alltagsproblemen muss die Bekämpfung des Rechtsextremismus bei Frauen ansetzen. Wir brauchen mehr geschlechterspezifische Sozialarbeit, mehr sozialräumlich verankerte Projekte, die sich um Frauen kümmern, die dazu neigen, ihre problematische soziale Lage unter Zuhilfenahme von rechtsextremen Deutungsangeboten nach dem Muster beispielsweise des RNF zu verarbeiten.
Prof. Dr. Richard Stöss war seit 1996 Geschäftsführer des Otto-Stammer-Zentrums für Empirische Politische Soziologie an der FU Berlin. Der Politikwissenschaftler erforscht seit den frühen siebziger Jahren die Geschichte und Strukturen des bundesdeutschen Rechtsextremismus, vor allem das Parteienmilieu. Seine letzten Veröffentlichungen beschäftigten sich u. a. mit rechtsextremen Einstellungen bei Gewerkschaftsmitgliedern und mit dem Zusammenhang von Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik.
- ↑ Die Untersuchungsberichte finden sich auf der Internetseite des Otto-Stammer-Zentrums: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/index.html