Kritische Weißseinsforschung für die Praxis

Mit der Frage „Rassismus gegen Deutsche?“ wurde im letzten Schattenbericht eine Diskussion zur Instrumentalisierung des Rassismusbegriffes begonnen, die mit diesem Beitrag zur kritischen Weißseinsforschung fortgeführt werden soll. Was bedeutet es für die alltägliche Praxis, weiße Privilegien sichtbar zu machen und die dahinterliegenden Normen und Machtstrukturen zu reflektieren?

 

Bei der „kritischen Weißseinsforschung“, die sich in den letzten Jahren auch in Deutschland etabliert hat, stehen im Mittelpunkt des Interesses die Rassismen der dominanten Gesellschaft und nicht die vermeintlichen oder auch tatsächlichen Eigenschaften derjenigen, die vom Rassismus betroffen sind. Die grundlegende und bahnbrechende Sammlung Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, die 2005 von Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt herausgegeben wurde, fasst den gegenwärtigen Stand dieser Forschungsrichtung gut zusammen.[1] Wie Fatima El-Tayeb dort im Vorwort bemerkt: „Entgegen der landläufigen Meinung, dass Rassismus nur dann und dort existiert, wo als Nicht-Weiß Definierte präsent sind, ist es vielmehr die Präsenz sich als weiß definierender Bevölkerungen, die Rassismus produziert“.[2] Es geht also darum, den Blick von den „Anderen“ auf das scheinbar unproblematische Selbstverständnis und die unreflektierten Praktiken der dominanten Gesellschaft zu lenken.

Wie die kritische Weißseinsforschung darlegt, sind Weißsein und nicht- Weißsein als Resultat von Rassifizierungsprozessen zu verstehen. Erst innerhalb eines rassifizierenden Rahmens wird so etwas wie Haut zu einem Unterscheidungskriterium und bekommt eine „Farbe“, die wiederum mit Bedeutung aufgeladen wird. Das Besondere am Weißsein ist, dass es trotz dieser Aufladung auf scheinbar unsichtbare Art funktioniert. Es verschafft denjenigen, die als weiß definiert werden, Zugang zu Machtstrukturen und Privilegien, deren sie sich in der Regel nicht einmal bewusst sind. Weißsein konstruiert sich als universelle Norm und präsentiert sich als selbstverständlich und belanglos zugleich. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird fast ausschließlich das nicht-Weißsein als Problem gesehen und die Ausschlussmechanismen werden verdrängt, die diese Norm in Kraft halten. Eine Praxis, die sich dessen bewusst ist, muss versuchen, diese aus der dominanten Perspektive unsichtbar gemachte Norm wieder sichtbar zu machen.

Der vorliegende Beitrag will versuchen, diese Einsicht der kritischen Weißseinsforschung für die Praxis von Projekten und Einrichtungen fruchtbar zu machen, die sich in der politischen, bildungspolitischen oder beratenden Arbeit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus engagieren. Unser Ziel ist es, auf einige der unausgesprochenen oder tabuisierten Annahmen und Privilegien von Weißsein aufmerksam zu machen. Dabei greifen wir kurz drei unterschiedlich gelagerte Problematiken auf, nämlich verbreitete sprachliche Konventionen, gängige Erklärungsmuster und Personalpolitik.

„Deutsche“

An der medial aufgebauschten Debatte um „Rassismus gegen Deutsche“ und der Gegenpositionierung von antirassistischen Initiativen wird eine Problematik deutlich sichtbar, die für die antirassistische Praxis von fundamentaler Bedeutung ist. In der Kritik des Missbrauchs des Rassismusbegriffs heißt es, dass es keinen „Rassismus gegen Deutsche“ geben könne, da Rassismus Teil eines strukturellen Machtverhältnisses sei und nicht vereinzelte Beschimpfungen und ähnliches beschreibe. Wir möchten dagegen halten, dass es durchaus Rassismus gegen Deutsche gibt. Das Problem ist, dass diese Deutschen, die tatsächlich rassistisch behandelt werden, im gängigen Diskurs immer noch nicht als Deutsche anerkannt werden.[3] Was die berechtigte antirassistische Kritik an einer Verwässerung des Rassismusbegriffes eigentlich meint, ist, dass es keinen Rassismus gegen weiße Deutsche geben kann. Dem stimmen wir zu. Aber dadurch, dass „weiße Deutsche“ in der Regel nicht explizit als solche benannt werden, werden im gleichen Atemzug andere Deutsche gänzlich unsichtbar gemacht und ausgeschlossen. Trotz aller Sensibilisierung neigen auch viele in der Antirassismusarbeit Aktive dazu, von „Deutschen“ als Gegensatz zu „Türken“, „Schwarzen“, „Vietnamesen“ oder auch „Juden“ oder „Muslimen“ zu sprechen. Deutsch wird immer wieder als gleichbedeutend mit nicht-Jüdisch, nicht-Türkisch, nicht-Muslimisch, nicht-Schwarz, usw. benutzt. Das bedeutet, dass die herrschende Konzeption von „Deutsch“ auch in antirassistischen Kontexten nicht genügend revidiert wird. Die Korrelation von Deutschsein mit Weißsein wird so reproduziert und nicht aufgebrochen. Erst eine Bezeichnung wie weiße Deutsche macht die Wahrnehmung und Anerkennung z. B. von schwarzen Deutschen überhaupt erst möglich.

Manche könnten darauf entgegnen, dass ja nicht alle, die diskriminiert und rassistisch behandelt werden, Deutsche sind. Auch wenn das der Fall ist, übersieht eine solche Argumentation die dahinter liegende völkische und rassistische Annahme, dass man zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ so klar unterscheiden kann. Diese Vorstellung ist ein deutsches Phänomen, das unter anderem zu der absurden Situation führt, dass in Deutschland von „Ausländerinnen“ und „Ausländern“ in der „dritten“ und sogar „vierten“ Generation gesprochen werden kann oder auch von „ausländischen Bundesbürgern.“[4] Obwohl solche Ausschlussmechanismen als eine Form der „verweigerten Zugehörigkeit“ schon öfter kritisiert wurden, stellt sich immer noch keine Veränderung in der Praxis ein.[5] Die Kluft zwischen wohlbekannter Kritik und einer trotz allem nicht veränderten Praxis ist das wesentliche Problem, dem sich antirassistische Initiativen so wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche in kritischer Selbstreflexion stellen müssen. Ein Faktor, der zu dieser merkwürdigen Abkoppelung eigentlich bekannter Argumente und der tatsächlichen Praxis beiträgt, liegt in einem weit verbreiteten Erklärungsmuster, das wir hier mit „Farbenblindheit“ bezeichnen wollen.

„Farbenblindheit“

In Deutschland wird vielerorts immer noch von „Farbigen“ und „Andersfarbigen“ gesprochen. Diese Begriffe sind rassistisch und markieren bestimmte Menschen als anders und abweichend von einer Norm, die selbst nicht benannt wird. Eine verbreitete antirassistische Antwort auf diese Problematik ist die „Farbenblindheit“. Um den rassistischen Diskurs nicht zu reproduzieren, heißt es, „wir sind doch alle Menschen.“ Allein dadurch, dass man alle Individuen als gleich bezeichnet, wird deren gesellschaftlich unterschiedliche Behandlung jedoch nicht aufgehoben.[[Vgl. dazu Fatima El-Tayeb: „Vorwort“ in Mythen, Masken und Subjekt, S. 7-9.
Tags: Berliner Zustände, Berliner Zustände 2008]] Anders gesagt leugnet dieser vermeintliche Universalismus die Effekte gravierender Machtverhältnisse und auch die Privilegien des Weißseins. Es gibt zwar keine „Rassen“, aber es gibt Prozesse, durch die Menschen als zugehörig oder nicht zugehörig markiert werden. Die Weigerung, solche Prozesse wahrzunehmen, führt nicht zu Gleichheit sondern zu Verdrängung und Tabuisierung von vorhandenen rassistischen Erfahrungen. Diese Rassifizierungsprozesse explizit zu benennen ist die Voraussetzung dafür, weiße Privilegien überhaupt erst sichtbar zu machen und zu kritisieren.

Personalpolitik

Erst wenn „Weißsein“ markiert wird, können sich Wahrnehmungsmuster verändern und auf diese Weise bis dahin unsichtbare Strukturen und Praktiken ins Blickfeld rücken, wie zum Beispiel die Produktion und Reproduktion weißer Räume auf institutioneller Ebene. In Deutschland sind Institutionen generell weiß besetzt, während nicht-weiße Deutsche und nicht-Deutsche auffällig abwesend sind. Dies gilt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in der Politik, in den Behörden, bei der Polizei, im Schulwesen, in Gremien fast aller Art. So wie diese Bereiche nicht mehr ausschließlich weiß besetzt werden sollten, sollte auch die Zusammensetzung von Projekten, die zu Antirassismus arbeiten, die heterogene Gesellschaft, in der sie existieren, widerspiegeln. Konkret heißt das, dass die rein weiße Besetzung von Personalstellen und Gremien zu problematisieren und zu ändern ist. Denn eine solche Personalpolitik ist vergleichbar mit einer rein männlichen Besetzung von Stellen, was inzwischen zumindest innerhalb von progressiven Organisationen als inakzeptabel angesehen wird.

Worauf die kritische Weißseinsforschung letztlich hinweist ist die Notwendigkeit, über die unsichtbar gemachten Normen und Machtstrukturen zu sprechen und kontinuierlich die eigenen Positionen zu reflektieren und vor allem die eigenen Praktiken auf dieser Basis tatsächlich zu verändern. Dies gilt auch für diejenigen, die antirassistisch aktiv sind.

 

Andrés Nader koordiniert ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung zu lokalen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und zu Erinnerungskulturen im Ost-West Vergleich. 2007 arbeitete er für die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt. Davor unterrichtete und forschte er an der University of Rochester und Cornell University im Fachbereich „German Studies“. Sein Buch Traumatic Verses: On Poetry in German from the Concentration Camps, 1933-1945 gewann 2008 den MLA Preis für Unabhängige Forschung.

Yasemin Yildiz ist Assistant Professor of German an der University of Illinois mit Forschungsschwerpunkten auf zeitgenössischer deutscher Literatur und Kultur. Sie war langjährig aktiv in antirassistischen und feministischen Organisationen in Hamburg und dort u. a. Mitbegründerin einer Zufluchtswohnung für junge Frauen aus der Türkei.

  1.  Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Hg. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt: Unrast Verlag, 2005
  2.  „Vorwort“ in Mythen, Masken und Subjekte, S. 8
  3.  Vgl. dazu Yasemin Yildiz „Keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie.“ AufBrüche: Migrantinnen, Schwarze und jüdische Frauen im deutschsprachigen kulturellen Diskurs. Hg. Cathy Gelbin, Kader Konuk und Peggy Piesche. Königstein: Ulrike Helmer Verlag, 2000, S. 224-236. Eine aktualisierte und erweiterte Version erscheint als “Immer noch keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie.” Kritik des Okzidentalismus: Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)­Orientalismus und Geschlecht. Hg. Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel. Bielefeld: Transcript, 2009 (im Druck)
  4.  So in der Berliner Zeitung vom 23.03.2009: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/detail_dpa_20721876.php
  5.  Astrid Messerschmidt gehört zu denen, die diese Kritik wiederholt geäußert haben. Zusätzlich argumentiert sie, dass es sich dabei um eine Nachwirkung von Weltbildern handelt, die im Nationalsozialismus etabliert wurden. Siehe beispielsweise: „Reflexion von Täterschaft – historisch-politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ (http://www.bpb.de/files/EGFTN1.pdf)
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