Ungläubiges Staunen – Heftige Proteste gegen den 10. „Marsch für das Leben“ in Berlin

Am 20. September 2014 fand in Berlin der inzwischen zehnte „Marsch für das Leben“ statt. Die Teilnehmenden bei der zentralen Veranstaltung der deutschen „Lebensschutz“-Bewegung sahen sich verstärkten Protesten gegenüber, die von den Veranstaltern des Marsches pauschal als „Hass und Gewalt“ bezeichnet wurden. Die Auseinandersetzungen um den §218 und bioethische Fragen haben sich damit deutlich zugespitzt.

 
Rund 5000 „Lebensschützer“ beim „Marsch für das Leben“ am 20. September 2014 in Berlin, begleitet von Protesten. | © apabiz

Martin Lohmann, der Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) und alljährlich Leiter des Marsches, kann auch 2014 einen Zuwachs vermelden. Die Teilnahmezahl stieg erneut, wenn auch sehr viel moderater als in den Vorjahren, von 4.500 auf rund 5.000 Anwesende. Dennoch fällt die erste Zwischenbilanz durchaus geteilt aus. Denn „die große Ja-Bewegung in Deutschland“ sah sich so deutlichen Protesten gegenüber wie noch nie. Neben dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, das am Brandenburger Tor demonstrierte, gab es in diesem Jahr erstmals eine Gegendemo durch das Bündnis „what the fuck“ mit anschließenden Störungen des Marsches und Blockadeversuchen. Insgesamt wurden 1.000-1.500 Gegendemonstrierende gezählt.

Der Marsch verlief dadurch nicht so reibungslos wie gewohnt, denn die Polizei musste immer wieder Menschen von der Straße räumen. Die Marschierenden wurden fast durchgehend von der Auftaktkundgebung am Bundeskanzleramt bis zum Berliner Lustgarten, wo der abschließende Gottesdienst stattfand, von feministischem Protest in Form von Parolen, Plakaten und Farbpulver begleitet. Zeitweilig vermischten sich Marsch und Protest zu einem unübersichtlichen Durcheinander inklusive Samba-Gruppe, was bei manchen ChristInnen ein ungläubiges Staunen auf den Gesichtern hinterließ.

Zuspitzung sei Christenverfolgung

Der arabische Buchstabe ‚N‘ steht für ‚Nazarener‘, der arabischen Bezeichnung für ChristInnen, und wird inzwischen weltweit als Symbol für verfolgte ChristInnen verwendet. | © apabiz

Im Vorfeld hatten mehrere Zeitungen über die „Lebensschutz“-Bewegung und den Marsch berichtet, viele durchaus kritisch. Martin Lohmann (BVL) stimmte die TeilnehmerInnen in seiner Auftaktsrede auf den zunehmenden gesellschaftlichen Gegenwind ein, indem er „Verunglimpfung“, den „Mangel an Argumenten“ auf der Gegenseite und sogar „geistige Brandstiftung“ beklagte. Die Räume der Geschäftsstelle des BVL waren zwei Nächte vorher mit Farbe attackiert und die Scheiben eingeworfen worden. „Aber diese Gewalt in Ermangelung von Argumenten, diese Gewalt ist nichts gegenüber der schrecklichen Gewalt, die tagtäglich im Mutterleib gegen noch nicht geborene Menschen auch bei uns angewendet wird.“ Unter Bezugnahme auf die zentrale Kundgebung gegen Antisemitismus unter dem Motto „Steh auf! Nie wieder Judenhass“ am 14.9. appellierte Lohmann an die Bundeskanzlerin: „Liebe Frau Merkel, passen sie bitte auch auf, was mit den Christen in Deutschland passiert (…) Danke, dass sie vor einer Woche mit anderen aufgestanden sind um gegen Hass und Gewalt ein Zeichen zu setzen, aber wir müssen gemeinsam, liebe Frau Merkel, ein Zeichen gegen Hass und Gewalt in jeder Form setzen. Wir müssen jetzt aufstehen, es ist Zeit jetzt gemeinsam aufzustehen gegen Hass und Gewalt auch und gerade hier. Sonst ist der Protest an anderer Stelle unglaubwürdig. (Applaus)“ Hubert Hüppe, Mitglied von CDU und Christdemokraten für das Leben (CDL) und ehemaliger Behinderten-Beauftragter der Bundesregierung, der schon in den Jahren zuvor Grußworte an den „Marsch für das Leben“ geschickt hatte, lief dieses Mal angesichts der wahrgenommenen Zuspitzung selbst mit. Er betonte in seiner Rede, dass für ihn der „entscheidende Moment“ gewesen sei, „dass viele andere Gruppierungen, die auch aufgerufen haben mit Gewalt gegen diese Veranstaltung vorzugehen, dazu aufgerufen haben, und ich dachte: da musst du mitgehen, damit die Menschen merken, es gibt auch noch Stimmen im Parlament, die für das Recht auf Leben sind.“

Der Traum der Lebensschützer

Neben der Verurteilung des „Christenhasses“ durchzog mehrere Reden die Bezugnahme auf Martin Luther King und die Selbststilisierung als verfolgte Minderheit, die einen gerechten Kampf führt, der am Ende zur Wahrheit führe. „I have a dream“ wurde von Martin Lohmann interpretiert, dass Deutschland eines Tages eine „Insel der Humanität“ in der „Diktatur gegen das Leben“ darstelle und die PolizistInnen, die den Marsch schützten, eines Tages nicht mehr nötig seien. Judith Kühl („Diplombetriebswirtin und Mutter von drei Kindern“) sagte: „I have a dream, es ist erst gut 50 Jahre, dass Martin Luther King das gesagt hat, dass Menschen die gleiche Würde zugesprochen wird unabhängig von ihrer Hautfarbe. Eigentlich kann man sich das kaum vorstellen, dass das erst so kurze Zeit her ist. Wir alle dürfen heute träumen […] und dürfen hoffen, dass die Würde des Menschen unabhängig von seinem Entwicklungsstand, sei er geboren oder ungeboren, sei er 10 Jahre oder 90 Jahre, gleich anerkannt wird in unserer Gesellschaft.“ Auch der US-amerikanische Redner, Terry Gensemer von CECforLife, griff den Faden auf und verkündete: „My Home is in Birmingham Alabama, Birmingham, Alabama, where Doctor Martin Luther King wrote his famous letter from a Birmingham jail, Birmingham, Alabama, where I also have a dream and it’s right now, my dream has come true as Birmingham has become the only, the largest abortion-free city in America! God bless you. ((frenetischer Applaus))“

Rechts im Bild Terry Gensemer (Birmingham/Alabama) von der US-amerikanischen Anti-Abortion-Organisation CEC for Life zusammen mit BVL-Vorsitzendem Martin Lohmann. | © apabiz

Hartmut Steeb, Generalsekretär der Evangelischen Allianz, sagte, er habe den Traum von einer „neuen Bildungsoffensive“, in der gelehrt würde, dass das Grundgesetz beachtet würde, was sich in seiner Perspektive auch auf das ungeborene Leben bezöge: „Dann wären wir in der Bildungsoffensive wenigstens wieder so weit, wie unsere Vorfahren 1794, dort stand im Preußischen Landrecht in Paragraf 10: Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis. Und in Paragraf 11: Wer für schon geborene Kinder zu sorgen schuldig ist, der hat gleiche Pflichten in Ansehung der noch im Mutterleib befindlichen.“

Gegen die staatliche Sexualaufklärung

Mit Hedwig von Beverfoerde (Sprecherin der Initiative Familienschutz der Zivilen Koalition) und Elisabeth Luge waren auch RednerInnen da, die das Thema „Abtreibung“ mit Sexualaufklärung und dem angeblichen Zerfall der Familie verknüpften. Beverfoerde: „Der Lebensschutz, das Lebensrecht ist ganz ganz ganz zwingend und eng verknüpft mit dem Schutz der Familie [Applaus] […] In diesem Sinne bitte ich Sie, auch an all den Orten, wo die Familie heute besonders angefochten ist, und das wird sie leider auch auf politischer Ebene, in den Schulen, die Kinder werden leider in Bildungssystemen zunehmend auch einer Sexual- – ja, wie soll ich sagen, Erziehung oder auch Dis-/ Desorientierung ausgesetzt, die wirklich zum Himmel schreit. Und ich bitte Sie, dort wo es möglich ist, dagegen aufzustehen. ((Applaus)) Der beste Lebensschutz ist auch und eben gerade der Schutz der Familie!“ Lohmann sagte, er habe „den Eindruck“, dass „diejenigen, die auf der anderen Seite sind, gar nicht aufgeklärt sind, die wissen gar nicht, was da passiert in der Sexualität.“ Das erklärte dann Elisabeth Luge, Germanistin, Mutter von vier Kindern und TeenSTAR-Kursleiterin. Sie erzählte von den Erfolgen ihrer alternativen Sexualerziehung:  „Jugendliche, die vor diesem Programm schon sexuell aktiv gewesen sind, hören auf damit. Und Jugendliche, die vor dem Programm noch nicht sexuell aktiv waren, fangen zu einem späteren Zeitpunkt – nämlich zum richtigen Zeitpunkt – damit an.“ Ziel sei, dass die Jugendlichen ihr „Fruchtbarkeitsbewusstsein“ erkennen würden und dann die „Jugendlichen den Sinn, diesen Sinn, hinter den körperlichen Vorgängen verstehen – dann geben sie auch ihrer Sehnsucht nach einer treuen, festen und immer währenden Beziehung Raum“.

Gegen PID, PND und Sterbehilfe

Gegen PID, PND und Sterbehilfe. | © apabiz

Der BVL baute in dem sorgsam orchestrierten Marsch zunehmend die eigene Positionierung zu bioethischen Fragen unserer Zeit aus, was sich in den Reden als auch in der Optik des Marsches widerspiegelte: Mindestens zwei Drittel der aufwendigen und den Marsch dominierenden Schilder vom BVL behandeln inzwischen nicht mehr nur explizit Abtreibung, sondern beziehen sich auf Sterbehilfe oder die Selektion von als „behindert“ diagnostizierten Föten durch PID und PND. Der evangelische Pfarrer Matthias Köhler begrüßte die Einweihung des Mahn- und Gedächtnismals für die NS-Euthanasiemorde Anfang September diesen Jahres und führte eine Schweigeminute für die Ermordeten durch. Dass die etwas entfernten Gegendemonstrant_innen in diesem Moment weiter die Kundgebung störten, nutzen die „Lebensschützer“ in ihrer Nachberichterstattung dafür, sich als die Einzigen zu generieren, die den NS-Euthanasie-Opfern gedenken würden.

Spektrum der Teilnehmenden

Weitere RednerInnen waren Mechthild Löhr (CDL und Vorstandsmitglied des BVL), Anita Dreher (Mutter eines Kindes mit Trisomie 21), Michael Kiworr (Gynäkologe), Rudolf Gehrig und Angelika Doose (beide Jugend für das Leben) und jeweils ein Redner aus Frankreich und den Niederlanden. Den Abschlussgottesdienst gestaltete der Pfarrer Axel Nehlsen („Gemeinsam für Berlin“ e.V. und Vorstandsmitglied der DEA), die Predigt hielt Michael Fuchs (Generalvikar des Bischofs von Regensburg), und musikalische Begleitung kam von Peter Eilichmann sowie der Gruppe „P5“ – fünf Kinder des Prinzen Kiril von Preußen, die christliche Lieder und die Fürbitte sangen. Martin Lohmann begrüßte explizit Beatrix von Storch, Europa-Abgeordnete der Alternative für Deutschland, „die immer mit dabei“ sei. Wie die Jahre zuvor waren viele FunktionärInnen der „Lebensschutz“-Bewegung vor Ort: z.B. Walter Schrader und Ruthild Kohlmann (kaleb Chemnitz), Andreas Kobs (CDL Berlin) und Mechthild Löhr (CDL), Hermann Schneider (CDL Sachsen) sowie der Autor Manfred Spieker. Das Spektrum der Teilnehmenden wird zu einem nicht unerheblichen Teil aus Mitgliedern der rund 60 expliziten „Lebensschutz“-Organisationen bestanden haben, daneben waren aber auch Gruppen aus Polen und Spanien angereist, sowie diverse Geistliche. Auch der wegen antisemitischer Äußerungen aus der Partei ausgeschlossene ehemalige CDUler Martin Hohmann, der Pro Deutschland-Vorsitzende Manfred Rouhs sowie der Pro Berlin Kandidat Cornelius Berghout wurden gesichtet.

Reaktionen und Ausblick

„Wer schützt die Lebensschützer? – Linksradikale attackieren den ‚Marsch für das Leben’“ titelte das evangelikale Wochenmagazin ideaSpektrum am 24.September 2014 und skandalisierte, dass zum einen angeblich der CDU-MdB Hubert Hüppe von „zwei Gegendemonstranten geschubst und angerempelt“ worden sei, die zudem auch noch Mitarbeiter der ZDF-Satiresendung „Heute-Show“ seien. Das ZDF widersprach den Vorwürfen. Zum anderen sei die finanzielle Unterstützung der Gegenproteste in Höhe von 1.500 Euro durch die Partei die Linke sowie die Beteiligung sozialdemokratischer Verbände zu kritisieren. Von Storch wird in der idea zitiert: „Es ist erstaunlich, dass es in Kenntnis der Gewaltbereitschaft demokratischer Parteien gibt, die das [die Gegenproteste, apabiz] unterstützen.“ Einer Zuspitzung im Umgang mit den selbsternannten „Lebensschützern“ und ihrer zunehmenden Präsenz auf der einen, und dem wachsenden Widerstand aus feministischen und linken, demokratischen Spektren auf der anderen Seite wird somit auch durch die christlichen FundamentalistInnen das Wort geredet. Einer argumentativen inhaltlichen Konfrontation, die ja durchaus auch in der Vorfeld-Berichterstattung stattfand, versuchen die „Lebensschützer“ mit ihrer pauschalen Selbstdarstellung als Opfer von Hass und Gewalt auszuweichen.

Während sich einige wenige CDU-Mitglieder bei dem Marsch exponieren, enthalten sich die moderaten Kräfte der Christdemokraten auffällig jeglicher Kritik, und sei es auch nur an den fundamentalistischen Kräften in der „Lebensschutz“-Allianz. Die evangelische Amtskirche ringt offenbar noch um eine klare Position gegenüber dem Marsch. Erstmals verzichtete der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz Markus Dröge auf Wunsch der Kirchenleitung darauf, ein Grußwort zu schicken, um so die inhaltlichen Differenzen zwischen der evangelischen Kirche und dem BVL deutlich zu machen. Um die Verdeutlichung solcher Differenzen durch eine Zuspitzung in der inhaltlichen Auseinandersetzung und der Konfrontation mit feministischem Widerstand wird es sicher auch in den kommenden Jahren gehen.

Die Marschierenden wurden fast durchgehend von feministischem Protest in Form von Parolen, Plakaten und Blockadeversuchen begleitet. | © apabiz
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